Nachtdenken. Martina Bengert
dieser Vorgang ist mit Gewalt verbunden, denn die alten Formen weichen nicht freiwillig von der Stelle. Das Neue braucht aber auch das Alte, um sich an ihm abzuarbeiten, um es wegzuarbeiten, es dem Erdboden gleich zu machen, um es zum Fundament zu machen. Bleibt die Frage, wie stabil ein Fundament ist, welches auf Zerstörung beruht, ob nicht die Entstehungsbedingungen eingeschrieben sind in das darauf Errichtete und ob sie nicht irgendwann von unten das darüber Liegende angreifen werden. Im Falle Blanchots würde ich sagen, ist genau dieser Nexus ein fruchtbarer und ein gewollter, denn er verhindert die Erstarrung und die Herausbildung von pseudosoliden Etablissements (frz. établissement = Gründung, Bau, Errichtung).
Die Literatur findet am Übergang zwischen Alt und Neu statt. Sie bildet diesen Übergang, der letztlich bedeutet, dass es nie etwas gänzlich Neues gibt, nur Überschreibungen. So muss jeder Bruch mit dem Alten ebenso als Fortsetzung gedacht werden. Wenn die Literatur sich auf ihren Ruinen errichtet, dann eröffnet dies zwei Fragedimensionen des Grundes, sowohl die nach dem Grund der Worte oder des Denkens als auch die nach dem materiellen Boden. Der Grund der Worte ist bei Blanchot alles andere als beständig. Er ist glitschig, voller Löcher, Abgründe und Irrwege. Auf ihm kann man sich allenfalls in einem Gleiten fortbewegen. Dieses Gleiten bedeutet, dass die Relation zwischen den Worten und den Dingen unzählige Möglichkeiten birgt. Gleiten bedeutet darüber hinaus, dass die Verbindung von Wort und Ding nicht stabil ist. Dies beinhaltet die Potentialität des Übergangs der Materialität des Dings in die Immaterialität der Versprachlichung, ebenso wie umgekehrt der Entblößung des Wortes in seiner Materialität.
Aushöhlungen des Grundes
Historisch wurde die Frage des Grundes, der Erkenntnisbedingungen und der Wahrheitsfähigkeit der Erkenntnis bezeichnenderweise immer wieder über eine Figur der Aushöhlung des Grundes gestellt: die Höhlengleichnisse.
Die den Grund untergrabende Höhle schafft einen von außen unsichtbaren Hohlraum der Geschlossenheit und Dunkelheit, der dem Unverborgenen und Offenen des Sichtbaren eine andere Ordnung entgegensetzt – sei es als Antiraum der Selbsterkenntnis, wie bei Platon, oder als Aufbewahrungsort für Phantasmen in Form des psychoanalytischen Kryptakonzeptes. Obwohl es allein sieben berühmte Höhlengleichnisse in der Geschichte der abendländischen Kultur gibt1, hat sich in der Rezeptionsgeschichte bis heute vor allem das platonische Höhlengleichnis gehalten, welches man aus diesem Grund durchaus als „europäische[…] Fundamentalmetapher“2 bezeichnen darf oder als dunklen Gründungsort des abendländischen Wahrheitsbegriffes.3 Lokalisiert ist es im siebten Buch von Platons Politeia4, wo es nach dem Sonnengleichnis und dem Liniengleichnis, die im sechsten Buch beschrieben werden, die Dreiheit der Gleichnisse vollendet. Als wesentliches Strukturmoment lässt sich auch innerhalb des Höhlengleichnisses ein dreistufiger Aufbau beschreiben: die Schilderung des Höhleninnenraums, der Aufstieg und die Ereignisse außerhalb der Höhle, sowie die Rückkehr in die Höhle bis zum Tod dessen, der die Wahrheit und das Licht geschaut hat.5 Der Schwerpunkt meiner Lektüre des Höhlengleichnisses soll vor allem auf der Topik der Höhle liegen. Insbesondere die Wände, der Boden sowie der Ein- und Ausgang der Höhle stehen dabei im Vordergrund der Betrachtungen. Des Weiteren wird es um die Verbindung der Topik mit entsprechenden Wahrheitssetzungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten gehen. Denn die Grundannahme des platonischen Höhlengleichnisses ist eine Gegenüberstellung von Wahrnehmung und Dialektik hinsichtlich ihrer Wahrheitsfähigkeit. Während die Wahrnehmung als trügerisch angesehen wird, weil sie verfälscht sein kann, verspricht die Dialektik hingegen die einzige Möglichkeit wahrer Erkenntnis. Daraus ergibt sich ein Erkenntnisweg, der vom Tiefsten und Dunkelsten (Boden der Höhle, Blick auf die Höhlenwand), über die Überwindung der in Gestalt von Schatten vermittelten Wahrnehmung schließlich hinaus und nach oben (draußen) ans Licht führt, d.h. vom Schein und den Erscheinungen der Höhle ins Sonnenlicht der Wahrheit.
Einer der wenigen Versuche der bildlichen Darstellung des platonischen Höhlengleichnisses ist das „Antrum Platonicum“ aus dem Jahr 1604, ein Stich des niederländischen Druckgrafikers Jan Saenredam nach einem Ölgemälde von Cornelius von Haarlem.
Jan Saenredam / Cornelius von Haarlem: Antrum Platonicum (1604) (Abb. 1)
Erstaunlich an diesem Stich ist, dass die Höhlenwand eher einer Hauswand gleicht und eine sehr gute Einsicht in die Höhle besteht. Das Geschehen wirkt durch sein Menschengetümmel wie auf einem Marktplatz. Darüber hinaus handelt es sich bei der Lichtquelle um eine künstliche Beleuchtung von oben in Gestalt einer Lampe. Während Platon die Gefangenen als an den Schenkeln und am Nacken gefesselt beschreibt, haben die Menschen in dieser Darstellung sehr viel mehr Bewegungsfreiheit. Was die Mauer betrifft, so stimmt sie jedoch durchaus überein mit Platons Bild: „Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.“6 Die Parallelisierung der Nicht-Gefangenen mit Gauklern, die etwas inszenieren, und den Gefangenen mit Zuschauern, die dem Spektakel folgen, verdeutlicht den Charakter einer Versuchsanordnung, die Platon hier im Zentrum der Politeia einfügt. Man sollte bezüglich des Stichs des „Antrum Platonicum“ weniger von einer Höhle sprechen, sondern eher von einem Raum mit einem Ein-, und Ausgang auf der linken hinteren Bildhälfte und einer Trennwand, die vom rechten Bildrand in die Bildmitte ragt. Die Konstruktion der höhleninternen Wahrheit erfolgt sodann auf Grundlage der Deutung der Schatten, die durch die Lichtquelle, welche auf die vorbeigetragenen Gegenstände hinter der Trennwand fällt, auf der Höhlenwand entstehen. Damit kommt der Höhlenwand der ontologische Status einer trügerischen Projektionsfläche zu.
Aufgrund der Innen-Außen-Dichotomie und den entsprechenden eingangs genannten Zuschreibungen kann in der platonischen Auffassung der Mensch innerhalb der Höhle kein Bewusstsein für die Höhle qua Höhle erlangen, da er, in Ermangelung einer Erfahrung des Außen, dieses nicht im Verhältnis zu ihr zu denken vermag. Somit gibt es weder ein Bewusstsein des Mangels noch die Notwendigkeit eines Verlassens der Höhle. Der einzige Weg ins Außerhalb besteht mit Hilfe des Eindringens externer Individuen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Gewalt. Deshalb muss der befreite und zum Seher des Lichts aufgestiegene Gefangene – Inhaber des Wahrheitsmonopols – in die Höhle zurückkehren und sich erneut ihrer Topik aussetzen. Völlig zu Recht kritisiert Kopperschmidt die „intrinsische Gefährlichkeit einer […] Argumentationskette, mit deren Hilfe sich ein Projekt legimitieren lässt, das Menschen gegen ihren Willen mit Gewalt aus ihrer als scheinhaft denunzierten Existenz glaubt herausreißen zu dürfen.“7 Der Wahrheitsbegriff, der sich hiermit gründet oder der so begründet wird, nimmt eine Monopolstellung in Anspruch, die der mit dieser Befreiungs- und Erleuchtungslogik verbundenen Gewalt keine Grenzen mehr setzt. Dass das Licht der Welt und die scharfen Konturen des Tages auch schmerzhaft sein können, wird ausgeblendet oder bewusst als Nebenwirkung in Kauf genommen. Die Dialektik als Disziplin der Wahrheit braucht aber metaphorisch-mythisches Material, um den Grund ihrer Selbstbegründung zu formulieren. Sie muss auf das (Höhlen-)Gleichnis als uneigentliche Form des Sprechens zurückgreifen, da dem Grund mit der Logik allein nicht beizukommen ist. Im Folgenden soll nun anhand der Lektüre des 2. Kapitels von TO2 Blanchots Verfahren, den Grund jenseits der Dialektik zu denken, skizziert werden.
2.2 Der Einfall der Nacht
„Thomas l’Obscur est un roman difficile à lire.“1 Solche oder ähnliche Urteile ergeben viele der Rezeptionen und Interpretationen von Thomas l’Obscur. Milo Sweedler sieht die Schwierigkeit dieses Textes unter anderem in einer Fallenstruktur, die den Leser im 1. Kapitel scheinbar unschuldig mit dem am Meer sitzenden Protagonisten Thomas in den Text lockt, um ihn dann an sich zu nehmen, zu manipulieren und sich selbst auszusetzen.2 So eröffnet auch das 2. Kapitel scheinbar harmlos:
Il se décida pourtant à tourner le dos à la mer et s’engagea dans un petit bois où il s’étendit après avoir fait quelques pas. La journée allait se terminer; il n’y avait presque plus lumière […] Comme la nuit tombait, il essaya de se redresser et, les deux mains appuyées sur le sol, il mit un genou à terre, tandis que son autre jambe se balançait; puis il fit un mouvement brusque et réussit à se tenir