Nachtdenken. Martina Bengert
zum zunächst Gekerbten – gekerbt auch deshalb, weil im folgenden Satz ein frei stehender Hügel in all seiner Unschuld in den Vordergrund gestellt wird.4 Die Räume (das Meer, der Wald, die Landschaft) werden von Beginn an in ihrer Deskription auf ein Minimum reduziert, bzw. abstrahiert, indem der Text durch sie lediglich als Verweisstrukturen oder Richtungsangaben evoziert. Zeitlich scheint die Abenddämmerung anzubrechen, was eine Reduktion des Lichtes impliziert und somit – bis auf einige Details der Landschaft, wie den genannten Hügel – die Sicht auf die Umgebung trübt. Der Hinweis auf das nahende Ende des Tages ist eminent wichtig, denn er bezeichnet den Beginn einer sodann statthabenden Erfahrung der anderen Nacht. Der bereits zwei Sätze weiter folgende Übergang vom Tag zur Nacht ereignet sich nicht sanft, sondern eher überfallartig als ein Hereinbrechen, wenn es da heißt, „la nuit tombait“.5 Im Französischen fällt oder stürzt die Nacht herein (tomber = fallen, stürzen), ebenso heißt es im Englischen „the night falls“, während man im Deutschen vom Hereinbrechen der Nacht spricht. Diesen Fall oder Einbruch der Nacht lese ich nicht einfach als Hinweis auf die Tageszeit zu Beginn des 2. Kapitels, sondern als ein Aufbrechen der Oberfläche des Symbolischen ins Semiotische (um mit Julia Kristeva zu sprechen) oder, um es im Vorgriff auf das Konzept der Krypta zu formulieren, als Einbruch in die Krypta, für den es immer irgendeinen Spalt, Riss oder Bruch geben muss. Dabei wird eine Bewegung nach unten evoziert, die sich auf der Ebene des Erzählten mit einer Abstiegsbewegung verknüpft.
Doch zunächst reagiert Thomas auf das Hereinbrechen der Nacht, indem er sich gegen einen inneren Drang liegen zu bleiben, vom Boden aufrichtet. Mit Blick auf den Einbruch in die Krypta könnte man auch von einem Zwang sprechen, der ihn sich erheben lässt. Schon hier ist die Wichtigkeit der Körperpositionen und Ausrichtungen nicht zu übersehen: Thomas verlässt das Meer, indem er ihm den Rücken zukehrt. Er geht in den Wald, wo er sich zunächst auf dem Boden liegend, daraufhin kniend und schließlich aufrecht stehend wiederfindet. Mit geschlossenen Augen stehend, ist sein Sehen dennoch nicht weniger geworden: „Ainsi, quoiqu’il eût les yeux fermés, il ne semblait pas qu’il eût renoncé à voir dans les ténèbres, c’était plutôt le contraire.“6 Dieses Bild des blinden Wachens formuliert Andreas Gelhard in seiner Dissertationsschrift über Maurice Blanchot wie folgt: „Thomas sieht ohne zu sehen. Sein Blick hat ebendie Struktur der Ausgesetztheit an das Gestaltlose, die Blanchot auch der literarischen Rede zuschreibt, er ist aveugle vigilance.“7
Abstieg
Als blinder Seher – und dies bedeutet auch, dass von nun an nicht mehr exakt zwischen Imagination und äußerem Geschehen unterschieden werden kann – steigt er in der Nacht/durch die Nacht in eine „Art Kellergewölbe“. Unentscheidbar bleibt, was der Grund für diesen Abstieg ist. Festzuhalten ist aber, dass die Oberfläche verlassen und ein Gang in die Tiefe initiiert wird:
Il descendit dans uns sorte de cave qu’il avait d’abord crue assez vaste, mais qui très vite lui parut d’une exiguïté extrême: en avant, en arrière, au-dessus de lui, partout où il portait les mains, il se heurtait brutalement à une paroi aussi solide qu’un mur de maçonnerie; de tous côtés la route lui était barrée, partout un mur infranchissable, et ce mur n’était pas le plus grand obstacle, il fallait aussi compter sur sa volonté qui était farouchement décidée à le laisser dormir là, dans une passivité pareille à la mort.1
Nachdem der erste Eindruck des Raumes der der Weite war, erscheint das kellerartige Gebilde dann aber als so eng, dass Thomas zu allen Seiten dessen Wände spürt, wodurch ein klaustrophobisches Szenario entsteht. Auch in der Verengung der Weite stehen wieder Raumkoordinaten im Vordergrund: „[…] en avant, en arrière, au-dessus de lui, partout où il portait les mains […].“2 Thomas ist einerseits in seiner schmerzhaften Wahrnehmung gefangen, jedoch auch durch seinen eigenen Willen, der ihn in Passivität hält und ihn dort im Wald oder im kellerartigen Raum – die Örtlichkeit, an der das Geschehen stattfindet, ist nicht klar – übernachten lassen will. Im Anschluss daran bildet die aus Thomas’ Willen entspringende todesähnliche Passivität die Matrix der Nacht und ermöglicht einen Eintritt in die Krypta. Sie setzt das Subjekt aus und bewirkt, dass nach der Problematisierung des umliegenden Raumes die Abgeschlossenheit des Körpers aufgegeben wird. Thomas, der in diesem Kapitel nur selten mit seinem Eigennamen bezeichnet wird, sondern fast durchweg mit der unpersönlichen Form des „il“3, legt auf der Suche nach den Grenzen des Raumes seinen Körper dicht an die Trennwand und wartet: „[I]l plaça son corps tout contre la cloison et attendit.“4 Die Grenzerfahrung wird als Begrenzungserfahrung zum Formgeber seines Körpers, der – zum Medium geworden – nun wartet.
Bis zu dieser Textpassage wurden bereits diverse Bilder der Abgrenzung aufgerufen, darunter „une sorte de cave“ (eine Art Keller[gewölbe]), „une paroi“ (Wand, Trennwand), „un mur de maçonnerie“ (Mauerwerk), „un mur infranchissable“ (eine unüberwindbare Mauer), „les limites“ (die Grenzen, Abgrenzungen), „la fosse voutée“ (der überwölbte Graben oder das gewölbte Grab), „la cloison“ (die Wand, Zwischenwand). Dabei variiert das Spektrum von eher dünnen Wänden bis hin zu massivem Mauerwerk oder gar dem Vergleich mit einem Grab. Es handelt sich um Grenzfiguren, die keinen konstanten Raum umgeben, sondern lediglich augenblickliche subjektive und durch die Erzählinstanz vermittelte Wahrnehmungsentwürfe bilden. Um diesen durch den Abstieg oder durch die Nacht eröffneten Raum zu denken bzw. zu entziffern, werde ich ihn mit dem psychoanalytischen Begriff der Krypta verknüpfen.
2.3 Krypta (Phantasma und Verschiebung)
In Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups1, unternehmen die Psychoanalytiker Nicolas Abraham und Maria Torok eine Neulektüre der berühmten „Wolfsmann-Texte“2 Sigmund Freuds. Eine Besonderheit dieser Neulektüre ist die Beschreibung der Ausbildung einer intrapsychischen Krypta als Resultat eines gescheiterten Trauerprozesses. Dabei werden die mit Lust und Scham besetzten Objekte (meistens sind es mehrere) phantasmatisch inkorporiert und in einer inneren Krypta verwahrt. Die geschluckten Objekte (frz. fantasmes) sind dem Bewussten unzugänglich, steuern es vielmehr in Wiederholungshandlungen fern und bedienen sich so des Subjektes. Diese Fernsteuerung ist der negative Aspekt der Krypta. Ausgebildet wird sie aber ursächlich, um die Subjektstabilität zu erhalten.
Die Krypta bildet einen Ort im Bewussten, der sich wie ein künstliches Unbewusstes zum Bewusstsein verhält. Künstlich ist dieses Unbewusste insofern als es nicht außerhalb des Bewussten liegt, sondern innerhalb und gleichzeitig dem Bewussten, dem Außerkryptischen unbewusst ist. Von außen gibt es kein Eindringen in die Krypta, es sei denn, man vermag es, über verschlüsselte Pfade die Wege der nach außen dringenden kryptophoren Objekte nachzuverfolgen. Abraham und Torok gehen davon aus, dass es immer wieder Risse an den Grenzzonen der Krypta gibt, durch die die eingeschlossenen Phantome nach außen dringen und sich in Handlungen des Subjektes niederschlagen, die diesem im Nachhinein teilweise völlig fremd sind. Die Doppelbödigkeit der Krypta besteht darin, dass die inkorporierten phantasmatischen Objekte den Grund des Ichs begründen, d.h. Teil des Ich-Fundaments sind, auf dem Neues errichtet wird. Das Gefährliche dieses Grundes ist seine Eigendynamik, denn das vermeintlich Besiegte (das Objekt, dem die Trauer ob seines Verlustes verweigert wurde) muss verwahrt werden, um so zwischen Leben und Tod, zwischen Realität und Latenz, in der Schwebe zu bleiben: unverfügbar, aber da.
Um die Krypta als raum-zeitliches Gefüge in Hinblick auf die Tiefenerfahrung von Thomas im 2. Kapitel von TO2 zu beschreiben, muss die Vorstellung der Krypta jedoch von der rein psychoanalytischen gelöst und in Richtung auf das hin gedacht werden, was Derrida in seinem, der Cryptonymie vorangestellten, Vorwort „Fors“3 beschreibt. Er geht darin gewissermaßen tiefer in die Topik der Krypta hinein und legt Verbindungen zu ihrem Ort-Sein zwischen Natur und Fremdkörper frei, indem er sie als verräumlichte différance liest und ihren metaphorischen Ausdruck zurückbezieht auf die eigentliche architektonische Herkunft als eine unter dem Altar befindliche Grab- oder Reliquienkammer, die aus einem System von Druck und Gegendruck besteht und daraus ihre ganz eigene Stabilität entfaltet. Auch das Moment der Gewalt als ein konstitutives Gründungsmoment ist in der Krypta somit vorhanden, nämlich als stumme Gewalt des Gegendrucks des Verbergens.
Die Wand