Nachtdenken. Martina Bengert
fehlende äußere Blickbegrenzung destabilisiert.
Im Folgenden häuft sich die Isotopie der Bewegung und Dissoziation, die durch ein Deiktikum als unmittelbare Erfahrung präsentiert wird. War das Wasser eben noch abwesend, zeigt es sich nun aus dieser Abwesenheit umso bedrohlicher: „C’est alors que la mer, soulevée par le vent, se déchaîna. La tempête la troublait, la dispersait dans des régions inaccessibles, les rafales bouleversaient le ciel et, en même temps, il y avait un silence et un calme qui laissent penser que tout déjà était détruit.“5
Dagegen stehen gleichzeitig das Schweigen und die Ruhe, welche jedoch keinen beruhigenden Gegenpol bilden, sondern eher die gefährliche Ahnung des Ursprungs der tosenden Bewegung ankündigen. Im weiteren Textverlauf wird Thomas’ Kampf mit dem Wasser geschildert, das in ihn eindringt und den Prozess des Selbstverlustes und Selbstentfremdung vorantreibt. Mit zunehmender Kälte scheint er das Gefühl für seine Körperglieder und seine orientierenden Sinneswahrnehmungen zu verlieren, sodass mit der steigenden Gewalt und Fremdheit des Wassers sich die Grenze zwischen innerer oder gedanklicher Bewegung und äußerem Kampf gegen das Ertrinken zu verwischen beginnt. Somatisches und Gedachtes gehen reziprok und unkontrollierbar ineinander über. Die Grenze zwischen Thomas und dem Meer, zwischen Subjekt und Objekt, scheint auf der Basis eines traumähnlichen Zustandes zur Vereinigung mit dem Meer zu führen: „Il poursuivait, en nageant, une sorte de rêverie dans laquelle il se confondait avec la mer. L’ivresse de sortir de soi, de glisser dans le vide, de se disperser dans la pensée de l’eau, lui faisait oublier tout malaise.“6
Dieses Sich-Vermengen mit dem Meer ist sprachlich ebenfalls performativ artikuliert über eine Verunklarung der Bezüge von innen und außen, in denen sich die inhaltlich ausgedrückte Auflösungsmetaphorik wiederholt. Denn „se disperser dans la pensée de l’eau“ lässt das vom Subjektstandpunkt ausgehende Denken an das Wasser zu einem Denken des Wassers werden – einem Denken, das vom Wasser ausgeht und auf das Thomas sich in einer stetigen Transformation einlässt. Es ist nicht mehr eindeutig zu entscheiden, wer aktiv oder wer passiv handelt, von wem überhaupt eine Handlung ihren Ausgang nimmt.7 Darüber hinaus scheint in der „pensée de l’eau“ das Verhältnis von Medium und Ausgesagtem ineinander zu kippen. Der Wunsch nach Ekstase ist in der zitierten Textstelle gekoppelt an ein Gleiten in die Leere und schließt in der Wiederholung des „glisser“ an die Anfangsbewegung des Gleitens vom Ufer ins Wasser an. Die Bewegung der Transgression wird erneut vollzogen: nun als eine intensivierte Selbstaufgabe oder auch Hingabe an das weibliche Wasserelement, in das Thomas sich zerstreuen will. Konsequenz seiner Hingabe ist eine sich immer weiter beschleunigende Oszillation des discours zwischen den Kategorien ‚Realität‘ und ‚Vorstellung‘, sodass er in einem Satz erst zunehmend zum „mer idéale“ wird, welches wiederum abermals von der Idealität zurückkippt ins Materielle bzw. „vraie mer“, das ihn wie einen leblosen Körper in sich trägt.8 Dargestellte Realität und Vorstellung sind nicht mehr zu unterscheiden. Sie erweisen sich in ihrer gegenseitigen Durchdringung als unbrauchbare Kategorien – nicht nur für Thomas, sondern auch für den Leser von Thomas l’Obscur. Sofern Thomas glaubt, in der Unentscheidbarkeit von innerer Vorstellung und äußerer Realität einen „Schlüssel der Situation“ gefunden zu haben und daraus die Erkenntnis einer doppelten Abwesenheit abzuleiten gedenkt, muss er diese samt des Schlüssels als Illusion analog zum Leser in die Tiefe der dunklen Meeresgrundes fallen lassen.9
Alle Fragen nach einem Ausweg aus der Situation scheitern an Thomas’ unbestimmten Willen fortzuschreiten und weiter in die Tiefe zu dringen. Starobinski interpretiert dies als „refus qu’oppose Blanchot à toute tentation de trouver l’apaisement dans une rêverie participante, dans une fusion sensible ou spirituelle où l’homme ne ferait plus qu’un avec la réalité environnante, qu’elle soit plénitude d’être ou vide, présence ou nullité universelles.“10 Er verbindet diese Gedanken einer unmöglichen dauerhaften Vereinigung mit allgemeinen Gedanken zu Blanchots kritischem Werk, das dazu einlädt, denkerisch stets einen Schritt über das Mögliche hinauszugehen. Ich möchte dem lediglich hinzufügen, dass sich dies mit den Vorstellungen Batailles zur inneren Erfahrung als unabschließbare Transgression deckt, und dass diese den Leser mit einschließt.
Unter dem Mikroskop
In den Text wird nun in Form einer mikroskopischen Vergrößerung eine neue Perspektive eingeführt, so als ob es nicht schon komplex genug wäre, den ständigen Metamorphosen zu folgen. Als weiteres Bild für die fortschreitende Ent-Selbstung oder Ent-Menschlichung verwandelt sich Thomas in ein Ungeheuer. Unter dem anonymen Blick durch ein „microscope géant“ stellt er sich als „amas entreprenant de cils et de vibrations“ dar.1 Die Fokussierung durch das riesige Mikroskop bedingt oder bezeugt seine monströse Entfremdung.
Es folgt die dritte Bewegung des „glisser“ weiter in die Tiefe, an eine Art heiligen Ort, der als solcher das religiös semantisierte Ziel der Initiation markiert. Während das erste Gleiten sich vom Ufer ins Meer vollzog und das zweite Gleiten in die Leere führte, ereignet sich das dritte als eines durch den mikroskopischen Blickwinkel „vom Wassertropfen weg“ an einen Ort der Indifferenz.
[L]orsque de la goutte d’eau il chercha à se glisser dans une région vague et pourtant infiniment précise, quelque chose comme un lieu sacré, à lui-même si bien approprié qu’il lui suffisait d’être là, pour être; c’était comme un creux imaginaire où il s’enfonçait parce qu’avant qu’il y fût, son empreinte y était déjà marquée. […] il se confondait avec soi en s’installant dans ce lieu où nul autre ne pouvait pénétrer.2
Dieser Ort lässt sich nur über Paradoxien und vergleichende Annäherungen in Worte umkreisen, ohne dabei erfasst werden zu können. Als „creux imaginaire“ wiederholt er das „centre imaginaire“ des Paratextes als a-zentrisches Zentrum. Die Selbstfindung ist nur qua zerfasertes und depersonalisiertes Materialgemisch möglich und verschließt sich als exklusiver Raum dem Nachvollzug einer Außeninstanz. Dieser markiert einen Endpunkt des Kampfes und der Suche und bildet eine Region der Begegnung von Thomas mit sich selbst am äußersten Punkt der Selbstentfremdung. Doch auch wenn an diesem Ort nicht verweilt werden kann, markiert er als Zone der Grenzerfahrung eine Grenze, sofern es im Text am Ende der Passage heißt: „Finalement il dût revenir.“ Thomas ist an einer inneren wie äußeren Grenze angekommen, jedoch nicht am Ende. Seine Ankunft wird vielmehr den Beginn der nächsten Wiederholung des Ähnlichen als Ausdruck der Entfremdung bilden, wie ich es nach meinen Überlegungen zum 1. Kapitel in den weiteren Kapiteln herauszuarbeiten gedenke.
Rückkehr (hinter dem Mikroskop)
Mit Blick auf den Begriff der Initiation kann man von einer immanenten Transzendenzerfahrung sprechen.1 Denn Thomas überschreitet oder übersteigt sich zwar im Medium des Meeres, doch durch die reziproke Durchdringung seiner selbst und des Wassers, ebenso wie von Vorstellung und Materialität, ereignet sich die Überschreitung als Immersion sowohl in ihn hinein als auch aus ihm heraus. Er überschreitet sich und es überschreitet ihn, so dass die Erfahrung der Transzendenz zur Erfahrung der Alterität in Form einer, ich zitiere erneut Gerhard Poppenberg, „immanenten Transgression“ wird.2 Der so erreichte ‚Einheitszustand‘ ist folglich keine Begegnung mit der göttlichen Fülle, sondern mit einer anonymen Leere jenseits der Bedeutung. Nicht weiter überschreitbar, kann aus ihm nur zurückkehrt werden. Dies tut Thomas, gerade noch im Todeskampf, scheinbar mühelos und gelangt zurück ans Ufer. Seine Rückkehr führt ihn indessen nicht an den Ausgangsort seines Gleitens ins Wasser. Während der Eintritt in die Initiationserfahrung ein transgressiver Akt des Gleitens war, wird der Austritt nicht beschrieben. Er wird lediglich rückblickend als notwendige Tatsache konstatiert, als wäre er qua Erfahrung der Erinnerung entzogen.
Thomas’ Grenzerfahrung hat Spuren in seinem Hören (nämlich Summen), vor allem aber in seinem Blick hinterlassen: Die Augen brennen, seine Sicht ist vernebelt, die Fähigkeit, Dinge voneinander zu unterscheiden ist unsicher geworden. Der zu Beginn des Kapitels auf dem Wasser gewesene Nebel ist nun in seiner Sicht, ist als Erfahrung Teil von ihm. In der Folge kann der