Nachtdenken. Martina Bengert

Nachtdenken - Martina Bengert


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Thomas verfolgt den Schwimmer mit seinem Blick, an all seinen Zuständen teilhabend. Der Blick als Berührung auf Distanz ermöglicht ihm eine Nähe, die „n’aurait pu l’être davantage par aucun autre contact“.4

      Ich folge hier mit meinen Überlegungen weiter der Interpretation Jean Starobinskis, der Thomas am Ende des Kapitels perspektivisch nun auf der anderen Seite des „microscope géant“ verortet.5 So gesehen betrachtet er sich selbst im Meer schwimmend und ist folglich Beobachter wie Beobachteter. Das Bild des Doppelgängers stellt sich ein, zumal diese Verdopplungsstruktur nur eine von vielen ist, die in den weiteren Kapiteln folgen werden. Der Doppelgänger, der Übergang vom Ich zum Er, hier sogar vom Er zum Er, kennzeichnet bei Blanchot auch immer den Vorgang des Schreibens. Diesbezüglich bemerkt Gerhard Poppenberg:

      Das Schreiben als Übergang vom Ich zum Er ist ein Grenzgang, ein Gang aber nicht so sehr an die Grenze und auch nicht ganz über sie hinaus, sondern ein Gang an der Grenze, deren Artikulation die Bewegung zwischen Ich und Er ist, den Gestalten des Innen und Außen. […] Der Übergang vom Ich zum Er ist zunächst Bruch mit dem Ich, Befreiung vom Ich, Eingang in das, was Kafka ‚die andere Welt‘ nennt und was Blanchot […] die Welt der Freiheit nennt.6

      Am Ende des 1. Kapitels von Thomas l’Obscur ist von solch einer, durch den Bruch mit inneren und äußeren Bindungen bedingten, Befreiung die Rede: „Il y avait dans cette contemplation quelque chose de douloureux qui était comme la manifestation d’une liberté trop grande, d’une liberté obtenue par la rupture de tous les liens.“7 Diese zu große Freiheit ist Resultat der Loslösung von allen Bindungen. Sie ist der Preis der Transgressionserfahrung im Meer, die Thomas’ Subjekthaftigkeit als unkontrollierbare Überschreitung von Körper und Gedanken, aber auch die repräsentierende Sprache an sich untergraben hat. Die andere Seite der Freiheit ist eine fortan unhintergehbare Einsamkeit, die Thomas’ Rückkehr in die Welt verhindert.

      Kreisschluss

      Die Ausgangsthese war, dass im 1. Kapitel von TO2 ein Initiationsprozess stattfindet, der sich in drei Stufen gliedert. Thomas befindet sich am Anfang und am Ende am Meeresufer sitzend und betrachtet das Wasser. Dies entspricht dem, was ich Kontemplation I und Kontemplation II genannt habe. Dazwischen findet ein topologisch markierter Wechsel des Denk-und Erfahrungsmediums von der Erde ins Wasser statt, in dem sich die eigentliche Initiation in einem ebenfalls dreistufigen Gleiten bis hin zum „lieu sacré“ als innere Erfahrung im Bataillschen Sinne vollzieht.

      Die strukturelle Initiation wird ermöglicht durch verschiedene Transgressionen: das Überschreiten der Grenze zwischen Ufer und Meer (gleitende Bewegung nach unten), das Überschreiten der Grenze zwischen dem Wasser und dem „lieu sacré“, das Überschreiten der Grenzen des eigenen Körpers sowie der Grenze von Subjekt und Objekt und der Grenze von Körper und Geist. Richtet man den Blick durch das „microscope géant“ auf die Ebene der sprachlichen Darstellung, finden sich diese Transgressionen des Textes auch auf der Wort-und Satzebene des Textes. Thomas l’Obscur ist folglich, wie Rainer Stillers in Anlehnung an Jean Pfeifer formuliert, neben einer „langage de l’expérience“ auch eine „expérience du langage“, die den Leser erfasst und von ihm eine aktive Teilhabe einfordert.1 Exemplarisch habe ich versucht, dies am Beispiel der „pensée de l’eau“ zu zeigen. Die Selbsttransgressionen der Sprache ereignen sich jedoch auch in Oxymora, diversen Entkopplungen von Zusammenhängen, einander überlagernden Isotopien sowie der Zirkularität der Sprache. Diese transgressiven Bewegungen bedingen die Initiation von Thomas und ermöglichen ihm am Ende des 1. Kapitels einen anderen Zustand. Sie unterlaufen aber auch das Konzept der Initiation als singuläres Ereignis, das normalerweise von Priestern begleitet und von Ritualen gerahmt ist.

      Im 2. Kapitel von TO2 wird Thomas in einen höhlenartigen Ort im Wald hinabsteigen, im 4. Kapitel in die Wörter eines Buches, sodann in die Nacht selbst und dergleichen mehr. Am Ende des Textes wird er wieder auf das Meer blicken und sich schließlich abermals hineinstürzen. Das letzte Kapitel schließt an den Beginn des 1. Kapitels und das Bild des auf das Meer blickenden Thomas an, beschließt den Text mit diesem Bild und öffnet ihn gleichzeitig, denn es gibt keine Entwicklung Thomas’ im Sinne eines Entwicklungsromans, keine einfache Reifung oder gehobene Erkenntnis. Das Ende tritt wiederholend an den Anfang: Der Anfang wird damit rückwirkend seiner Originalität beraubt und in Serie geschaltet. Auf die Differenz in der Wiederholung wird das 12. Kapitel meiner Arbeit eingehen. Während Georges Bataille, wie ich zu Beginn des Kapitels ausgeführt habe, im Wesentlichen das 2. Kapitel von Thomas l’Obscur als literarische Ausformung des il y a versteht, möchte ich es im Folgenden als Erfahrung der ‚autrenuit lesen, welche wiederum als Denkfigur des Unbegreiflichen eine große Nähe zum il y a aufweist.

      2. Kryptologie – Der Weg in den Ungrund

      „Dans la nuit, tout a disparu. C’est la première nuit. Là s’approche l’absence, le silence, le repos, la nuit. […] Mais quand tout a disparu dans la nuit, ‚tout a disparu‘ apparaît. C’est l’autre nuit. La nuit est apparition du ‚tout a disparu‘.“1 Nacht – Absenz – Verschwinden – andere Nacht – Erscheinen des Abwesenden: In diesem kurzen, dem Kapitel „Le dehors, la nuit“ entstammenden, Zitat aus L’espace littéraire unterscheidet Blanchot zwischen einer ersten Nacht (première nuit) und einer anderen Nacht (‚autrenuit). Die andere Nacht ist als andere ernst zu nehmen, denn sie bildet nicht einfach das polare Gegenstück zum Tag, sondern ist derart anders, dass sie eigentlich nicht beschreibbar wäre, hinterließe sie nicht in der ersten Nacht ihre Spuren. Sie stellt demnach ein Ereignis dar, welches Spuren hinterlässt. Diese Spuren soll der nun folgende Gang durch das 2. Kapitel von TO2 nachzeichnen.

      Wesentliche Struktur in diesem Kapitel ist eine Abstiegsbewegung Thomas’ vom Waldgrund in den Ungrund eines höhlenartigen Raums. Dieser Abstieg in die tiefe Dunkelheit vollzieht sich jedoch nicht nur als äußere Bewegung, sondern vielmehr als ein Zerschreiben der Möglichkeit, einen stabilen (denkerischen oder epistemologischen) Grund zu finden. Daher möchte ich zunächst einige Überlegungen zum Grund anstellen bevor mit der Lektüre des Kapitels begonnen wird. Um die Raumbewegungen des Textes zu spiegeln, wird in der Lektüre das psychoanalytische Konzept der Krypta, wie Nicolas Abraham und Maria Torok bzw. Jacques Derrida es formulieren, ins Zentrum gerückt. Die Krypta lese ich als eine Möglichkeit, die unmögliche Erscheinung der nicht repräsentierbaren anderen Nacht zu denken. Denn die andere Nacht kann sich nur als Spur, als Erscheinen des Verschwindens, um erneut mein Eingangszitat Blanchots aufzugreifen, manifestieren.2 Die Krypta wäre sodann eine zeitliche, aber besonders auch räumliche Figuration eines Ungrundes, der im Verbergen seines Verbergens nur mehr eine Spur hinterlässt.

      2.1 Überlegungen zum Grund (Aushöhlungen)

      In diesem Buche findet man einen „Unterirdischen“ an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat –, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne dass die Noth sich allzusehr verriehthe, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, dass irgend ein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt? Dass er vielleicht seine eigne lange Finsterniss haben will, sein Unverständliches, Verborgenes, Räthselhaftes, weil er weiss, was er haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröthe? …

       Gewiss, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es Euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder „Mensch geworden“ ist. 1

      Friedrich Nietzsche

      „La littérature s’édifie sur ses ruines“, schreibt Maurice Blanchot in seinem berühmten Essay „La littérature et le droit à la mort“ (1948/1949).2 Das Fundament der Literatur oder ihre Entstehungsbedingungen sind demnach unweigerlich verbunden mit einer Zerstörung ihrer Herkunft, ihres Bodens, ihrer Vergangenheit. Dies kann sowohl andere Literatur(en) meinen als auch möglicherweise die Ersetzung


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