Geschichte im Text. Stephanie Catani
Vorwurf, dem sich insbesondere die Schriftsteller der DDR stellen müssen: »Wohl nie zuvor haben so viele prominente Schriftsteller in so konzentrierter Form ein so hohes Maß an Wirklichkeitsindifferenz unter Beweis gestellt wie zum Zeitpunkt des Umbruchs in der DDR.«5 Ähnliche Vorwürfe werden zugleich auch mit Blick auf die Literatur der Bundesrepublik geltend gemacht. Heinz Ludwig Arnold klagt mit Blick auf die Literatur der 1980er Jahre den Wirklichkeitsverlust in der Gegenwartsliteratur an und konfrontiert in seiner Abrechnung mit der postmodernen Literatur gerade Autoren historisch-fiktionaler Literatur (Christoph Ransmayr, Patrick Süskind, Hanns-Josef Ortheil, Umberto Eco) mit dem Eskapismus-Vorwurf:
Geschichtlich fundiert, aus Realität, ihrer Anschauung und Erfahrung gewonnen ist solche Literatur nicht; sie gibt auch keine Verweise auf die Wirklichkeit, in der sie entstanden ist – im Gegenteil, sie meidet sie, flieht in eine Metarealität und will von einer Bindung der Literatur an die Realität bewußt nichts wissen. […] Sie dient bloß noch der Ablenkung von erdenschwerer Besorgtheit, ist eklektisch und spielerisch, ihr Genuß wird von der momentanen Laune des rezipierenden Individuums bestimmt, sie ist also weniger subjektiv als individuell im extremsten Maß – in ihr bildet sich ab die große Bewegung unserer Zeit: der Sprung aus der Verantwortlichkeit für unser Dasein, das wir schon längst nicht mehr in der Hand haben, die Flucht aus der Gegenwart ins Leere, der Sprung aus der Last in die scheinbare Lust.6
Arnold, so wird unmissverständlich deutlich, verhandelt einen Literaturbegriff, der nicht mehr vorrangig ästhetischen als nunmehr moralischen wie gesellschaftspolitischen Anforderungen unterliegt. Mit Blick auf die Wende und »angesichts einer so grundstürzend veränderten Welt«7 idealisiert Arnold eine Literatur, die sich einmischt, und fordert von Autoren »Lust auf politische Gegenrede und kritisches Engagement«8. Dieser politischen Inanspruchnahme der Literatur widersprechen jene Stimmen, die, wie etwa Frank Schirrmacher in der FAZ, den endgültigen »Abschied von der Literatur der Bundesrepublik« und eine Gegenwartsliteratur einfordern, die zu jenen politisch-moralischen Kategorien, wie Arnold sie vermisst, gerade kritisch auf Distanz geht.9 Ästhetik, so lautet der vielzitierte Vorwurf Schirrmachers, sei in den der Wende vorausgegangenen Jahrzehnten in beiden Teilen Deutschlands durch »Gesinnung« ersetzt worden – eben das müsse sich nun grundlegend ändern. Auch Ulrich Greiner erkennt in dieser vermeintlich typisch »deutschen Gesinnungsästhetik« das »gemeinsame Dritte« zwischen den Literaturen von BRD und DDR: Mit der deutschen Einheit hofft er den Aufbruch in eine neue literarische Epoche begrüßen zu können, die nicht nur die nationale Identität, sondern mit ihr die Aufgaben der Literatur, mithin den seines Erachtens moralisch wie politisch instrumentalisierten Literaturbegriff neu entwerfen könne.10
Bemerkenswert bleibt, mit welcher Vehemenz der gesamte Literaturbetrieb unmittelbar nach der Wende einen literarischen Epochenumbruch ausruft und diesen gleichzeitig für die Abrechnung mit der Literatur bis 1989 nutzt. Literarische Reaktionen auf diese vermeintlich neue Zeitrechnung bleiben nicht lange aus, sondern zeigen sich beispielhaft in Texten, die, wie Frank Thomas mit Blick auf die Erzählliteratur der 1990er Jahre konstatiert, den Fall der Mauer literarisch geradezu »zum ›unerhörten Ereignis‹ im Goetheschen Sinne« überhöhen und als Beginn einer »neuen Zeit« oder als »neues Jahr Null« ausweisen.11
Jenseits dieser emotional und mitunter polemisch geführten Diskussion hat sich in der retrospektiven literaturwissenschaftlichen wie -historischen Wertung die Einsicht, dass die Jahre 1989/90 einen Epochenumbruch innerhalb der literarischen Historiografie markieren, als wissenschaftlicher ›common sense‹ etabliert, gegen den nur vereinzelt Einspruch erhoben wird.12 Daraus resultierende Forderungen an die Literaturgeschichtsschreibung fallen heterogen aus und spiegeln sich insbesondere im nach wie vor kontrovers diskutierten Umgang mit den Literatursystemen der getrennten deutschen Staaten wider. Roswitha Skare verweist in ihrer Untersuchung der jüngsten deutschen, nach 1990 erschienenen Literaturgeschichten auf die beiden Tendenzen, die sich abzeichnen: Während die einen zwar eine kritische Revision sowohl der DDR- wie auch der westdeutschen Literaturgeschichte einfordern, jedoch an deren Trennung festhalten,13 plädieren andere dafür, die DDR-Literatur in die Geschichte der westdeutschen Literatur zu integrieren.14 Ungeachtet bestehender Kontroversen schlussfolgert Skare in ihrer Untersuchung, dass der ›Blick der Einheit‹ sich in der Literaturgeschichtsschreibung durchgesetzt habe, was nicht zuletzt auf ein neues Geschichtsbewusstsein nach dem Fall der Mauer und dem Auseinanderfallen des Ostblocks zurückzuführen sei:
Außerdem entspricht man einer Tendenz in der deutschen Gesellschaft nach 1989/90 nach erneutem Geschichtsinteresse, nach Aufklärung über die Vergangenheit und historische Zusammenhänge, zumal die meisten dieser Informationen für den ostdeutschen Teil der Bevölkerung über viele Jahre kaum oder nur sehr schwierig zugängig waren.15
Tatsächlich zeigen sich von den politischen Ereignissen in den Jahren 1989/1990 Vergangenheit und Zukunft der deutschen Literaturgeschichtsschreibung gleichermaßen beeinflusst:16 Zum einen geht es um die Genese einer kollektiven Identität, die sich nach 1990 im Hinblick auf die bislang »geteilte« deutsche Literatur neu formieren muss. Zum anderen positioniert sich die literarische Kritik neu, die im wiedervereinten Deutschland nun mit einem Literaturbegriff abrechnet, der in der DDR durchgehend »nicht in einer autonomen Wertsphäre angesiedelt, sondern unmittelbar der Lenkung und Kontrolle durch die SED unterworfen« war.17 Erst die Öffnung der staatlichen Archive in den Jahren nach 1989 (und nicht nur jene der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit, sondern auch die des Schriftstellerverbandes, der Akademie der Künste oder der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel) macht die Verschränkung des literarischen Systems mit (macht-)politischen Interessen in ihrem ganzen Ausmaß deutlich – und fordert Korrekturen an der ›Arbeit an der Vergangenheit‹ ebenso wie innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung ein.18 Das Feld der literarischen Historiografie, der Literaturkritik sowie der literarischen Produktion trägt Spuren der nun nicht mehr zensierten und um bislang zurückgehaltene Einsichten erweiterten Forschung: Es zeigt sich dominiert von der schwierigen Frage, wie Literatur vor 1989, insbesondere die DDR-Literatur, nach der Wende neu gelesen werden kann, bzw. muss. Rainer Benjamin Hoppe stellt in diesem Zusammenhang dar, dass jede Auseinandersetzung mit literarischen Texten vor der Epochenzäsur sich grundsätzlichen Fragen zu stellen habe, die über rein hermeneutische Kategorien hinausgehen:
Beruht ein anderes Verständnis von fiktionalen Texten, die vor 1989 geschrieben wurden, nach 1989 lediglich auf neuen Informationen, welche wiederum die Grundlage für neue Analysen oder Interpretationen bieten? Oder sind die neuen Lesarten das Produkt einer grundlegenden politischen Umorientierung? Anders ausgedrückt: Dreht es sich um eine Horizonterweiterung im Sinne der Hermeneutik, oder unterwerfen die neuen Machtverhältnisse den Diskurs der DDR-Literatur einer politisch motivierten Umwertung?19
Die vorliegende Untersuchung nimmt den Epochenumbruch von 1989 ernst und beabsichtigt zugleich, die oben beschriebene Auseinandersetzung um die Thematisierung von Wirklichkeit in der Literatur unter moralistischen Gesichtspunkten hinter sich zu lassen. In den Vordergrund rückt hingegen ein Wirklichkeitsbegriff, der nicht mehr gegen seine politische Instrumentalisierung verteidigt werden muss, sondern als extraliterarischer wie spezifisch historiografischer Referenzbereich im Medium der Literatur selbst kritisch diskutiert wird.
Welche Aufgaben sich mit der Literatur nach 1989 im Kontext der politischen Umbrüche ebenso wie dem neuen Realitätsverständnis möglicherweise verbinden, formuliert stellvertretend für die Schriftstellergeneration der 1990er Jahre Robert Menasse. Der österreichische Autor äußert sich nicht nur in seinem literarischen Oeuvre, sondern auch als Essayist wiederholt zur österreichischen wie europäischen Geschichte und fordert in einem 1995 geführten Interview für die zeitgenössische Literatur eine neue Auseinandersetzung mit dem Geschichtsbegriff ein:
Die neunziger, obwohl wir erst die erste Hälfte hinter uns haben, haben ja bereits ein bestimmtes Image. Sie begannen 1989 und sind das erste Jahrzehnt seit langem, in dem wieder Weltgeschichte passiert ist und nicht nur aufzuarbeiten oder festzuschreiben versucht wurde. Ich glaube, wenn die Literatur sich als zeitgenössisch versteht und das reflektieren will, dann wird sie sich einfach verstärkt mit dem Geschichtsbegriff auseinandersetzen müssen.20
Menasse setzt nun gerade nicht, im Unterschied zu zahlreichen Vertretern der Literaturkritik wie der Literaturgeschichtsschreibung, die neu aufkommende Relevanz politischer Realität leichtfertig und