Geschichte im Text. Stephanie Catani
set, for the most part, in a time before the author’s birth.«62 Ausgehend von dieser Minimaldefinition wurden im untersuchten Zeitraum 6300 Romane gefunden und in die online zur Verfügung gestellte Datenbank aufgenommen. Fällt das Projekt mit seiner unspezifischen Gattungsdefinition aus gattungstheoretischer Perspektive weit hinter die Differenzierungen der Forschung zurück, so sensibilisiert der raumgreifende Überblick dennoch für einige Beobachtungen, die bislang vernachlässigt wurden. Tatsächlich besteht das eigentliche Ziel des Forschungsvorhabens nicht in einer erneuten Problematisierung der Gattung als vielmehr in dem Erstellen einer Bibliografie und dem Sammeln wichtiger sozialhistorischer Daten zur Produktion, Distribution und Rezeption der historischen Romane, die anschließend mittels eines Statistik-Programms ausgewertet und interpretiert wurden. Die in dem Zusammenhang erstellten Diagramme vergegenwärtigen exemplarisch den Mehrwert quantitativer Gattungsanalysen und zeigen, dass entgegen häufiger Forschungsmeinungen die Produktion historischer Romane gemäß der vorausgesetzten Gattungsdefinition deutlich vor der Erfolgswelle der Scott’schen Romane einsetzt, wenngleich ein erster Höhepunkt sichtbar erst in den 1820er Jahren erreicht wird.63 In Bezug auf den historischen Roman der Gegenwart begnügen sich Mühlberger und Habitzel mit einem kurzen Ausblick vorrangig auf die 80er Jahre und auf Veröffentlichungen wie Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit (1983), Patrick Süskinds Das Parfum (1985) oder Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1988). Eine Differenzierung zwischen traditionellem und ›anderem‹ historischen Roman, zwischen jenen literarischen Modellierungen also, die für das historisch-fiktionale Erzählen der Gegenwart an Relevanz gewinnen, bleibt hingegen ausgespart – das Forschungsdesiderat, das mit Blick auf das Genre für die Jahre nach 1989 besteht, wird dadurch nicht angegangen, sondern vielmehr bestätigt.
Die insgesamt auffallend zurückhaltende Thematisierung historisch-fiktionalen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, sowie im Besonderen nach 1989, lässt sich mit einem noch immer problematischen Gattungsvorverständnis begründen, das sich oftmals unbeeindruckt von den stattgefundenen Differenzierungsversuchen zeigt. Verantwortlich ist zum einen der vermeintlich prekäre, zwischen ernstzunehmender und so genannter Trivialliteratur angesiedelte Standort der Gattung, zum anderen steht das in der Gegenwart kaum noch homogene Erscheinungsbild historisch-fiktionaler Texte dem Ringen um einen eng geführten Gattungsbegriff weiterhin im Weg.
Für eine grundsätzliche Neuausrichtung gattungstheoretischer Überlegungen zum historischen Roman sorgt die 1995 erschienene zweibändige Habilitationsschrift des Angloamerikanisten Ansgar Nünning, wenngleich sie weniger Spuren in germanistischen Auseinandersetzungen als innerhalb der Anglo-Amerikanistik hinterlassen hat. Von entscheidender Relevanz für die vorliegende Untersuchung erweist sich insbesondere der erste Band der Studie, der sich ausgehend von geschichtstheoretischen Diskursen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an einer Typologie und Poetik des historischen Romans versucht, während der zweite Band exemplarische Einzelanalysen zum englischen Roman nach 1950 liefert.64 Entschieden kritisiert Nünning die einseitige Orientierung an dem Vorbild Scotts, das zu »willkürlicher Ausgrenzung anderer Formen der Geschichtsdarstellung« in Romanen geführt habe und benennt die zentrale Problematik der Gattung, die allem voran in einem Missverhältnis zwischen einer landläufig etablierten Vorstellung der Gattung und ihren gegenwärtig tatsächlich konstitutiven Merkmalen liege.65 Die grundlegende Forderung Nünnings besteht darin, jeder Form der Auseinandersetzung mit historisch-fiktionalen Texten eine Untersuchung dessen, »was jeweils als ›Geschichte‹ angesehen wird«, vorauszuschicken und dabei den Konstruktionscharakter nicht nur der fiktionalisierten Geschichte zu berücksichtigen, sondern der Geschichte als narrativ repräsentiertem und damit immer auch schon gedeutetem Geschehen der Vergangenheit.66 Folglich plädiert Nünning für einen gattungstheoretischen Ansatz, der zum einen geschichtstheoretische Diskurse und zum anderen die narrativen Techniken, mithilfe derer Geschichte erzählt wird, in den Blick nimmt – alternativ zur Bezeichnung »historischer Roman« schlägt er entsprechend die Kategorie »Vermittlungsformen narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung« vor.67 Vor diesem Hintergrund skizziert Nünning nun eine Skala, die eine Differenzierung historisch-fiktionaler Texte im Hinblick auf ihren Zeitbezug, die verschiedenen Formen und Ebenen der Geschichtsvermittlung und schließlich auf das Verhältnis des fiktionalen Geschichtsmodells zum Wissen der Geschichtsschreibung erlaubt. Am Anfang der Skala siedelt Nünning jene Texte an, die bislang mit dem Begriff des ›traditionellen‹ historischen Romans erfasst wurden, deren dominanten Referenzbereich die historisch verbürgten Fakten bilden und deren Geschichtsdarstellung sich vorrangig auf die diegetische Kommunikationsebene beschränkt.68 Dieser Variante oppositionell gegenüber befinden sich historische Romane, die durch starke selbstreferenzielle Implikationen die extradiegetische Kommunikationsebene, fiktionale sowie metafiktionale Elemente stärker in den Text einbringen als das historische Geschehen, auf das sie sich beziehen. Der eigentliche Referenzbereich ist hier nicht mehr die vermeintlich verbürgte Vergangenheit, sondern Diskurse und Prozesse der Geschichtstheorie und der Historiografie selbst. Insgesamt gelangt Nünning so zu einer Typologie des historischen Romans, die von fünf Varianten ausgeht, welche sich auf der von ihm entworfenen Skala einordnen lassen. Am Beginn derselben befinden sich der dokumentarische historische und der realistische historische Roman, in der Mitte siedelt sich der revisionistische historische Roman an, und schließlich folgen der metahistorische Roman sowie die historiografische Metafiktion. Offenbar ordnet Nünning die ersten beiden Subtypen noch dem ›traditionellen‹ historischen Roman zu, während die Varianten 3–5 bereits Spielarten des ›anderen‹ historischen Romans in der Nachfolge Gepperts darstellen.69 Dessen innovative und nicht unbedingt homogene Erscheinungsformen erarbeitet Nünning am Beispiel englischer Literatur im zweiten Teil seiner Studie. Den Begriff der historiografischen Metafktion übernimmt Nünning von der kanadischen Literaturtheoretikern Linda Hutcheon, die ihn wie folgt definiert:
By this I mean those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexiv and yet claim to historical events and personages. […] its theoretical self-awareness of history and fiction as human constructs (historiographic metafiction) is made the grounds for its rethinking and reworking of the forns and contents of the past.70
Der Begriff der »Metafiktion« im Kontext historischen und historiografischen Erzählens avancierte in der anglo-amerikanistischen Forschung rasch zum einflussreichen Schlagwort, das wie in Nünnings Habilitationsschrift insbesondere unter Bezugnahme auf den historischen Roman weiterentwickelt wurde. Ohne die Nünning’sche Kategorisierung zwangsläufig mit sämtlichen ihrer Varianten zu übernehmen,71 fühlt sich die vorliegende Studie dennoch seiner grundlegenden Prämisse verpflichtet, den literaturwissenschaftlichen Blick auf die Gattung des historischen Romans vom »Was« (dem historischen Referenzbereich) auf das »Wie« (den narrativen Prozess der Geschichtsvermittlung) zu verlagern und die einzelnen Texte dabei auch als Aussagen über das zu ihrer Entstehungszeit herrschende Geschichtsbewusstsein zu verstehen.
An der Schwelle zum 21. Jahrhundert hat sich der historische Roman weit entfernt von den Anfängen der Gattung, den Romanen Walter Scotts oder den geschichtsvermittelnden historisch-fiktionalen Texten des 19. Jahrhunderts. Entsprechend konstatiert Hugo Aust in seinem 2004 erschienenen Beitrag zum historischen Roman im 20. Jahrhundert noch einmal die grundlegend veränderte Erscheinungsform der Gattung und stellt fest, dass der historische Roman »zur (produktiven) Infragestellung seiner eigenen Voraussetzungen« geworden sei.72 Nünnings Thesen aufnehmend unterstreicht Aust die metafiktionalen und selbstreflexiven Implikationen des Genres, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu konstitutiven Gattungsmerkmalen avancieren, wobei die Gattungsdefinition mit Aust grundsätzlich erschwert sei, da zum einen nicht jeder historische Roman als solcher angekündigt werde und zum anderen »Romane, die durchaus historische Romane sind, sich ausdrücklich von diesem Gattungstitel distanzieren«.73 Tatsächlich wird an späterer Stelle auf das auffällige Unbehagen zahlreicher Gegenwartsautoren angesichts einer Kategorisierung ihrer eigenen Texte als »historische Romane« eingegangen. (Vgl. Kap. 5.2) Diese Angst fällt umso mehr auf, als sie von einer Konjunktur historischer Themen in der Literatur des ausgehenden 20., insbesondere des beginnenden 21. Jahrhunderts begleitet wird. Mit Aust bleibt es eine besondere Leistung des historischen Romans im Verlauf des 20. Jahrhunderts, Instrumente der Geschichtskonstruktion, des historischen Wissenserwerbs und nicht zuletzt der Erinnerungsarbeit offenzulegen: »Erinnerung und Vergessen – sie durchziehen den Geschichtsroman des zwanzigsten Jahrhunderts von Anfang bis Ende.«74 Mit