Geschichte im Text. Stephanie Catani

Geschichte im Text - Stephanie Catani


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Autoren Eingang.21 Dem hier entstandenen Nachholbedarf möchte die vorliegende Untersuchung entsprechen, indem sie verschiedene Merkmale einer metafiktionalen wie historiografisch-metafiktionalen Problematisierung exemplarisch an historischen Romanen der Gegenwart nachzuweisen und mit den Ergebnissen aktueller geschichtstheoretischer Diskussionen konstruktiv zu verschränken sucht.

      Dieser Ansatz schließt zum einen an die eingangs angedeuteten Analogien zwischen geschichtstheoretischen Reflexionen und poetologischen Autorenpositionierungen an. Zum anderen lässt sich der historische Roman grundsätzlich nicht bestimmen, ohne vorab zu klären, was der Begriff des »Historischen« bezeichnet. Zu Recht hält Hugo Aust in seiner Einführung in die Gattung fest: »Wer den historischen Roman charakterisieren will, muß wissen, was Geschichte bedeutet.«22 Hier formuliert Aust, dessen 1994 veröffentlichte Studie der bislang letzten Überblicksdarstellung zur spezifisch deutschsprachigen Gattungstradition entspricht, ein Forschungsdesiderat, das auch seine Einführung nicht zu schließen vermag. Zahlreiche Studien zur Gattung entbehren einer Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen Diskursen, mithin dem Begriff der Geschichte selbst, der sich im diachronen Verlauf entscheidend ändert und spätestens in der Gegenwart ebenso schwierig zu bestimmen ist wie die Gattung des historischen Romans.

      Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es somit, den Geschichtsbegriff in seiner gegenwärtigen (mit Hölscher) »Bruchhaftigkeit« kenntlich zu machen und die geschichtstheoretischen Diskussionen, die ihn im Lauf der Zeit, insbesondere mit Ausbreitung des linguistic turn im 20. Jahrhundert prägen, nachzuzeichnen. Die Argumentation lässt sich von der Prämisse leiten, dass Historiografie und Literatur im Zeichen der Narration nicht erst im 20. Jahrhundert in ein Konkurrenzverhältnis treten: Bereits die Ausdifferenzierung eines wissenschaftlich begründeten Geschichtsbegriffes im ausgehenden 18. Jahrhundert ist gekoppelt an das Ringen um die Unterscheidung zwischen historisch-fiktionalem und historisch-wissenschaftlichem Schreiben, zwischen Dichter und Historiker. Schließlich erweist sich erst die Herausbildung eines autonomen Geschichtsbildes und Geschichtsbewusstseins zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Entstehung der Gattung. Vor diesem Hintergrund strebt der erste Teil der Studie die kritische Auseinandersetzung mit einem zwischen Fiktion und Fakten changierenden Geschichtsbegriff im diachronen Verlauf an, mit besonderem Schwerpunkt auf die radikalen Erschütterungen, denen er im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert unterworfen ist.

      Der sich anschließende zweite Teil der Untersuchung gilt der Analyse historisch-fiktionaler Gegenwartstexte und orientiert sich in seiner Argumentation an den Ergebnissen der vorab erarbeiteten geschichtswissenschaftlichen Positionen, die den Geschichtsbegriff der Gegenwart grundieren. Wie diesen ist literarischen Geschichtsdarstellungen eine autoreflexive Problematisierung historischen Erzählens und die Dekonstruktion der eigenen erzählerischen Zuverlässigkeit konstitutiv eingeschrieben. Die literarische Konstruktion (doing) wie Dekonstruktion (undoing) der Geschichte durch fiktive Geschichten ist dabei keineswegs nur an traditionelle ästhetische oder narratologische Fragen (Literarizität, Textualität und Narrativität der Geschichte) gebunden: Die Texte öffnen sich gerade für eine Lektüre vor dem Hintergrund jüngster Erkenntnisse der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie (Gedächtnis und Geschichte, ›false memory debate‹), der Psychotraumatologie (Geschichte, Literatur und Trauma) sowie der Medientheorie (Medialität der Geschichte).

      Indem sich die Studie mit literarischen Texten nach 1989 auseinandersetzt, sucht sie ein Forschungsdesiderat anzugehen, das im Hinblick auf die deutschsprachige historisch-fiktionale Literatur der Gegenwart auffällt und sich zudem im Widerspruch mit der gleichzeitigen Hochkonjunktur entsprechender Texte befindet. Bis ins 20. Jahrhundert hinein ist der historische Roman recht gut erforscht – im Kontext der unmittelbaren Gegenwartsliteratur wird die Gattung jenseits exemplarischer Einzelanalysen oder komparatistischer Studien deutlich weniger berücksichtigt. Aus diesem Grund versteht sich die vorliegende Studie als Überblicksstudie zur Gegenwartsliteratur und will signifikante Tendenzen historisch-fiktionalen Schreibens bewusst nicht über ein Nacheinander von Einzelanalysen, sondern ein Nebeneinander erzählstruktureller Auffälligkeiten erarbeiten. Der grundsätzliche Aufbau der Untersuchung gliedert sich nicht über die berücksichtigten Primärtexte, sondern jene Merkmale historisch-fiktionalen Erzählens, die als repräsentativ für die Gegenwartsliteratur erachtet und an unterschiedlichsten Texten bzw. Textsegmenten nachgewiesen werden. Gleichwohl wird jedes Kapitel im zweiten Teil der Studie mit einer exemplarischen Analyse beschlossen, welche die im jeweiligen Kapitel erarbeiteten literarischen Verfahren im Kontext einer Gesamtlektüre paradigmatischer Texte sichtbar macht.

      1.1 Der historische und der ›andere‹ historische Roman: Ein Forschungsüberblick

      Die anglistische wie amerikanistische Forschung übertrifft in Bezug auf den historischen Roman die germanistische Literaturwissenschaft an Qualität und Quantität der diesbezüglich erschienenen Arbeiten deutlich: Daher wird im Folgenden auf jene Werke der angloamerikanischen Forschung Bezug genommen, die für signifikante Zäsuren innerhalb der Gattungsforschung gesorgt haben. Diese komparatistische Ausweitung ist grundsätzlich nur unter Vorbehalt möglich, da die in den jeweiligen Werken profilierte Gattungsdefinition auf Texte rekurriert, die sich dem Gegenstandsbereich der germanistischen Literaturwissenschaft nicht nur entziehen, sondern auch eigenen, spezifischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Auf den Einbezug dieses wichtigen Forschungssegmentes ganz zu verzichten, wie etwa Aust in seiner Studie zum historischen Roman, bleibt dennoch problematisch.1 Gerade angesichts der sowohl gattungstheoretisch wie -historisch insgesamt unzureichenden Forschungslage lassen sich die angloamerikanischen Forschungsbeiträge nicht ignorieren. Vielmehr bilden sie konstruktive Versuche, den historischen Roman zu definieren und in seinen neuen Akzenten sichtbar zu machen. Hans Vilmar Geppert, der 2009 die bislang aktuellste Übersichtsstudie zur Gattung vorlegt, zollt diesem besonderen Umstand Rechnung und liefert einen komparatistischen Überblick, der nicht nur die internationale Forschungsliteratur, sondern Primärtexte der Weltliteratur aus den letzten zwei Jahrhunderten berücksichtigt. Zwangsläufig reduziert muss angesichts der Materialfülle dieser Studie gleichwohl die Auseinandersetzung mit spezifisch deutschsprachigen Erzähltexten der Gegenwart ausfallen.2

      Mangelt es bis in die Gegenwart nicht an Versuchen, die Gattung bestimmen zu wollen, fallen die Antworten auf die Frage, was ein historischer Roman denn nun sei, in der Regel wenig präzise aus. Dies lässt nicht etwa auf nachhaltige Defizite der Gattungsforschung schließen, sondern gehört zur Programmatik der Gattung, die sich weniger über verbindliche Gattungsmerkmale als vielmehr über die Quantität potentieller Eigenschaften definiert. Zwei Namen fallen auf, welche die Diskussion konsequent prägen – auch, weil die Gattung in Abgrenzung von ihnen bestimmt wird. Zunächst handelt es sich dabei um Sir Walter Scott, den mutmaßlichen Begründer der Gattung, der mit seinem Waverley-Roman 1814 das Modellmuster eines historischen Romans liefert. Erst 2001 erscheint mit Frauke Reitemeiers Monografie zu den deutschen Vorläufern Scotts eine Untersuchung, die den Beginn der Gattung vor Walter Scott ansetzt und sich damit, so hält Reitemeier selbst fest, deutlich vom Tenor der entsprechenden Forschungsdiskussion absetzt.3 So wie die Gattungsgeschichte einerseits mit Scott ihren Anfang zu nehmen scheint, wird eine ernstzunehmende gattungstheoretische Diskussion andererseits erst mit Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzung der Studie Georg Lukács’ Der historische Roman (1955) begründet und richtet sich – wenngleich äußerst kontrovers – auch gegenwärtig noch an dessen Thesen aus:

      Unabhängig davon, welchen Stellenwert Lukács’ Scott-Auffassung in der wandlungsreichen Scott-Forschung einnehmen kann, darf gelten, daß seine kanonische Entscheidung für das Verständnis des historischen Romans aller Sprachen wegweisend ist.4

      Lukacs’ Studie kennzeichnet Walter Scotts historische Romane als revolutionäre Literatur, die den großen realistischen Gesellschaftsroman des 18. Jahrhunderts fortführen und gleichzeitig etwas »vollständig Neues« bedeuten.5 Der streng marxistische Ansatz Lukacs’ führt zu einer ideologischen Deutung der Gattung, deren Hauptaufgabe nach Lukacs’ darin besteht, »die Existenz, das Geradeso-Sein der historischen Umstände und Gestalten mit ›dichterischen Mitteln‹ zu beweisen.«6 Dies gelinge Scott, so führt Lukacs aus, insbesondere durch die Profilierung eines »mittleren Helden«, dessen Schicksal die Wendungen der Historie, die »großen historischen


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