Geschichte im Text. Stephanie Catani
englischer Gentleman. Dieser besitzt im allgemeinen eine gewisse, nie überragende praktische Klugheit, eine gewisse moralische Festigkeit und Anständigkeit, die sogar bis zur Fähigkeit der Selbstaufopferung reicht, die aber niemals zu einer menschlich hinreißenden Leidenschaft erwächst, nie begeisterte Hingabe an eine große Sache ist.7
Problematisch, insbesondere mit Blick auf historische Romane des 20. und 21. Jahrhunderts, ist Lukacs’ Deutung, weil sie die Gattung im Kontext eines strengen Realismusbegriffs als Werkzeug geschichtlicher Erkenntnis begreift, die mit ästhetischen Mitteln ein Abbild der »historischen Wirklichkeit« liefern soll:
Es kommt darauf an, nacherlebbar zu machen, aus welchen gesellschaftlichen und menschlichen Beweggründen die Menschen gerade so gedacht, gefühlt und gehandelt haben, wie dies in der historischen Wirklichkeit der Fall war.8
Damit reduziert Lukacs das Genre auf seine mimetische Funktion, ignoriert das geschichts- und erkenntnistheoretische Reflexionspotential, das den historischen Roman im Koordinatensystem von Literatur und Geschichte als Gattung ausmacht.
Erst zwanzig Jahre nach Erscheinen der deutschen Übersetzung der Lukacs’schen Studie wird die Forschungsdiskussion um Wesen und Inhalt der Gattung neu belebt. Hartmut Eggert legt 1971 seine Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850–1875 vor, die noch keinen neuen Definitionsversuch liefern, statt dessen eine Typologisierung der Romane nach den behandelten historischen Stoffen und Gesichtspunkten entwerfen und nach ihren strukturellen Besonderheiten unter dem Aspekt der Publikumswirksamkeit unterscheiden.9 Auch Michael Meyer verzichtet in seiner 1973 veröffentlichten Dissertation zur Entstehungsgeschichte des historischen Romans zunächst auf eine Definition der Gattung, macht vielmehr ihre Entstehung in Deutschland im Spannungsfeld zeitgenössischer Poetiken und Theorien der Geschichtsschreibung sichtbar.10
Die komparatistische Studie Walter Schiffels, Geschichte(n) Erzählen, sorgt 1975 für eine deutliche Akzentverschiebung, da sie selbstreferenzielle und -reflexive Merkmale historisch-fiktionaler Texte hervorhebt und damit auf Definitionsversuche vorbereitet, die eben darin das entscheidende Charakteristikum der Gattung sehen. Schiffels teilt Lukacs’ Einschätzung hinsichtlich der Vorbildfunktion der Scott’schen Romane, relativiert sie aber zugleich, indem er den »›klassischen historischen Roman‹ vom Typ Scott« als allein auf die Waverley Novels anwendbar begreift. Kennzeichnend für diese Form des historischen Romans ist nach Schiffels, dass Geschichte hier »zum bloßen Spannungsträger, nicht mehr zum Auskunftsträger« avanciere11 und damit gleichsam auf einen austauschbaren Kulissenhintergrund reduziert werde. Den historischen Romanen Scotts, so kann Schiffels auch im Rekurs auf die poetologischen Selbstäußerungen des Autors zu Beginn seiner Romane nachweisen, gehe es gerade nicht darum, in Konkurrenz zur Historiografie zu treten: »[I]n ihnen wird nicht Geschichte zum Roman, sondern in die Geschichte wird ein eigentlich beliebiger Roman verwoben.«12 Was erreicht wird, ist, mit Schiffels, weniger eine »Rekonstruktion« der Vergangenheit als vielmehr ihre »Verlebendigung«, die dem Leser Geschichte als ästhetischen Gegenstand nahebringe, der allein der Unterhaltung, nicht aber der Aufklärung diene. Das Scott’sche Medium dieses Verlebendigungsprozesses sei, hier schließt sich Schiffels zunächst Lucács an, tatsächlich ein Held der Mitte – dieser aber entspringe selbst gerade nicht der Geschichte, sondern verkörpere eine ahistorische, streng fiktive Figur. Bereits im Gesamtwerk Scotts zeige sich, so Schiffels, »daß die ideale Realisation der von Scott entwickelten Erzähltechniken nicht von ihm selbst geleistet worden sei.«13 Damit erteilt Schiffels dem homogenen Gattungsbegriff eine Absage und differenziert unterschiedliche Typen historisch-fiktionaler Texte, die allesamt präzise zu beschreiben seien. Die zentrale und mit Blick auf die metafiktionale Dimension der Gattung in der Gegenwart besonders relevante Schlusserkenntnis Schiffels ist die Einsicht, dass »›Historisches Erzählen‹ sich nicht durch ein signifikantes Quantum ›Geschichte‹ vor anderen epischen Texten auszeichnet, sondern nur durch dessen Thematisierung in Funktion zur Fabel des Erzählens.«14 Dieses Fazit der Studie, das nicht in der Rekonstruktion der vermeintlich historischen Fakten, sondern in der bewussten Thematisierung der Fiktionalisierung der Geschichte die eigentliche Leistung eines historischen Romans begründet sieht, antizipiert die wachsende Auseinandersetzung der literaturwissenschaftlichen Forschung mit dem von Hans Vilmar Geppert erstmals so benannten »anderen historischen Roman«.
Die komparatistisch angelegte Untersuchung Gepperts erscheint 1976 und begründet das eigene Vorgehen einleitend gerade durch die anhaltenden Definitionsprobleme, die bis dato sämtliche Versuche, die Gattung systematisch zu erfassen, kennzeichnen:
Gerade weil man tiefgreifende Unterschiede zwischen verschiedenen historischen Romanen nicht als Konsequenz einer durch jeden von ihnen hindurch laufenden kategorialen Grenze versteht, kommt es zu der eigentümlichen Situation, daß einerseits sozusagen ein offizielles Bild des historischen Romans existiert, andererseits die Einzeluntersuchungen auch da, wo sie diese communis opinio nicht als passend empfinden, niemals dazu übergehen, ›den‹ historischen Roman neu zu definieren.15
In seiner Auseinandersetzung mit gattungstheoretischen Positionen unterstreicht Geppert, dass Scott keineswegs das gültige Modell für ›den‹ historischen Roman liefere, sondern sich inzwischen eine neue Form des historischen Romans etabliert habe. Charakteristikum dieser Gattung sei, so Geppert, die metahistorische Reflexionsleistung der Texte, der es gerade nicht um eine Monumentalisierung der dargestellten Fakten, sondern um die Infragestellung historischer Referenzialität fiktionaler Texte gehe. In dieser »kritischere[n] Funktion der Geschichtsdichtung« erkennt Geppert die eigentliche Voraussetzung der Gattung: »[M]an kann sogar sagen: erst wenn er [Der historische Roman, S.C.] sie mit aufnimmt, erfüllt er seine Möglichkeiten – als Roman.«16 Unter Rückgriff auf das Kommunikationsmodell Roman Jakobsons untersucht Geppert das im historisch-fiktionalen Text kommunizierte Verhältnis von Geschichte und Dichtung und gelangt zu der zentralen Einsicht, dass das Charakteristikum historisch-literarischer Dichtung gerade in der fehlenden Übereinstimmung zwischen Fiktion und Historie zu erkennen sei – ein Phänomen, das er unter den Begriff »Hiatus von Fiktion und Historie« fasst.17 So stellt Geppert etwa mit Blick auf die Henri-Quatre-Romane Heinrich Manns fest, dass hier gezeigt werde, »daß die Bezeichnung eines Ereignisses, das heißt seine Aufnahme in ein kollektives Gedächtnis und seine Konstituierung als Faktum, immer auch bereits Interpretationen enthält.«18 Hier problematisiert er bereits den »Kollektivsingular« Geschichte, der neben den res gestae (den Fakten), immer auch die historia rerum gestarum (die Repräsentation der Fakten) meint und nimmt damit geschichtstheoretische Problematisierungen in der Folge des linguistic turn bereits vorweg.
Das selbstreflexive Potenzial des historischen Romans untersucht 1981 Ina Schabert in ihrer Studie zum historischen Roman in England und Amerika. Sie geht dabei von einer Gattungsdefinition aus, die erneut auf wenig präzise Koordinaten zurückgreift und eine kaum konturierte Bedeutung des Begriffes »historisch« vergegenwärtigt:
Ein Roman gilt als ›historischer Roman‹, wenn er sich auf Geschehen oder Zustände bezieht, die in einer bestimmten, dem Leser bekannten Epoche zu lokalisieren sind. Historisch meint hier demnach ›epochenspezifische, kollektiv vorgewußte Wirklichkeit betreffend‹. Die dazu erforderlichen außerliterarischen Bezugnahmen im Text sind Angaben von Jahreszahlen, mit Zeitangaben gekoppelte geographische Festlegungen, Benennung von Personen, von denen der Leser weiß, daß sie tatsächlich gelebt haben, Hinweise auf authentische Ereignisse. Während identifizierbare Zeit- und Ortsangaben übereinstimmend für das Genre als unerläßlich postuliert werden, kann durchaus in Frage gestellt werden, daß es notwendig ist, historische Personen einzubeziehen. […] Jede der über diese Bestimmung von ›historisch‹ hinausgehende Spezifizierung erweist sich als umstritten.19
Schabert beschäftigt insbesondere die Differenzierung zwischen historischem Roman und Gegenwartsroman, die ihres Erachtens immer dann aufgehoben werde, wenn die Forschung »vom nachzeitigen Standpunkt der eigenen, späteren Rezeptionsphase«20 ausgeht und den Gegenwartsroman in einem solchen Fall als historischen liest. Sie plädiert hingegen für ein Konzept des historischen Romans, das als Zentralmerkmal ein ›nachzeitiges‹ Erzählen (statt einer allein nachzeitigen Rezeption) impliziert. Fehlen Signale eines nachzeitigen Erzählens vollkommen, dann liege, so Schabert, »kein historischer Roman mehr vor, sondern ein fingierter Gegenwartsroman