Geschichte im Text. Stephanie Catani
vor Augen führt.
2.1 Literatur und Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert
In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst entwirft Johann Christoph Gottsched unter Berufung auf Aristoteles ein Mimesis-Konzept, das den Poeten als »geschickte[n] Nachahmer aller natürlichen Dinge« begreift.1 Dieser wirklichkeitsimitierende Charakter der Dichtung, so Gottsched, dürfe jedoch nicht voreilig zu einer Gleichsetzung von Dichter und Geschichtschreiber verleiten, denn:
Ein Geschichtsschreiber soll nicht nachahmen, was die Menschen zu thun pflegen oder wahrscheinlicher Weise getan haben koennten, thun sollten, oder thun wuerden, wenn sie in solchen Umstaenden befindlich waeren: sondern man fordert von ihm, daß er getreulich dasjenige erzaehlen solle, was sich hier und da, fuer Begebenheiten zugetragen haben.2
Hier schließt sich ein Vergleich des Dichters mit dem Geschichtsschreiber an, der um eine deutliche Aufwertung der Poesie bemüht ist, da diese, wie Gottsched bereits in seiner Schauspiel-Rede (1729) betont, gerade aufgrund der ihr inhärenten Möglichkeit, Begebenheiten hinzuzuerfinden, »noch lehrreicher als die bloße Historie« sei.3 Wie annähernd sämtliche Dichtungstheoretiker des 18. Jahrhunderts beruft sich auch Gottsched auf die aristotelische Poetik und die dort vorgenommene Differenzierung von Geschichtsschreibung und Dichtung:
Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit <einfach> wiederzugeben, die Aufgabe des Dichters ist, sondern etwas so <darzustellen>, wie es gemäß <innerer> Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h., was <als eine Handlung eines bestimmten Charakters> möglich ist.
Denn ein │Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben […], der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist,│der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar.4
Gottsched unterstreicht die Aufwertung der Dichtkunst durch Aristoteles und verbindet dessen Urteil mit der eigenen Poetik der Nachahmung und dem Wirkungspostulat moralischer wie sittlicher Besserung. Während die Geschichtsschreibung dem »großen Haufe der Menschen viel zu mager und zu trocken« sei, vergegenwärtige die Dichtung gerade das »Mittel zwischen einem moralischen Lehrbuche, und einer wahrhaftigen Geschichte«, und ist, mit Gottsched »so erbaulich, als die Moral und so angenehm, als die Historie; sie lehret und belustiget, und schicket sich fuer Gelehrte und Ungelehrte«.5 Die Historie, bei Gottsched in ihrer zeitgenössisch typischen Bedeutung von ›Geschichtsschreibung, Geschichtsforschung, Geschichtsphilosophie und -theorie‹ verwendet,6 erzähle hingegen
lauter besondre Begebenheiten, die sich das tausendstemal nicht auf den Leser schicken; und wenn sie sich gleich ohngefaehr einmal schickten; dennoch viel Verstand zur Ausdeutung bey ihm erfordern wuerden.7
Deutlich wird, dass Gottsched hier von einem eng gefassten Geschichtsbegriff ausgeht, der Geschichte als die Summe einzelner Geschichten begreift – »lauter besondre Begebenheiten« eben, die noch auf keinen übergeordneten kohärenzstiftenden Kollektivbegriff verweisen, sondern das subjektiv Erfahrene lediglich aneinanderreihen.
Die deutliche Bevorzugung der Dichtung vor der Geschichtsschreibung entspricht einem zeitgenössischen Konsens: Einen informativen Überblick über die anerkanntesten Poetiken des 18. Jahrhunderts (Gottsched, Bodmer, Breitinger, Batteux/Ramler, Lessing) stellt Michael Meyer seiner Dissertation zur Entstehung des historischen Romans voran. Er untersucht deren Abgrenzungsversuche von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung und kommt zu dem Ergebnis, dass die Dichtung insgesamt als die der Historiografie überlegene Gattung bewertet wird, sowohl in poetischer wie auch in moralischer und philosophischer Hinsicht. Während sich die Autoren, so Meyer, meist einig seien in ihrer Ablehnung einer ›poetischen‹ Form’ der Geschichtsschreibung, räumen sie der Dichtung durchaus die Möglichkeit ein, ihrerseits historische Stoffe zu verwenden.8
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, wie Gottsched mit der Einsicht umgeht, dass Geschichte und Literatur durch die sie jeweils ausmachenden narrativen Strukturen unweigerlich verbunden sind. Er fasst die unter Umständen durchaus ›poetisch‹ anmutenden Eigenarten der Geschichtschreibung explizit nicht als Merkmal derselben auf, sondern wertet sie gleichsam als ›Fremdanleihen‹ aus der Dichtkunst, denn: »[N]icht alles, was ein Geschichtsschreiber thut; das thut er als ein Geschichtsschreiber.«9 Zwar müsse der Historiograf nach Gottsched auch die »Regeln der Sprachkunst« berücksichtigen, dies aber nicht, weil die Rhetorik tatsächlich »zum Wesen der Historie« gehöre, sondern die Geschichtsschreibung auf eine ihrem Wesen genuin fremde Grammatik angewiesen sei, die wie die Dichtkunst bestimmten Regeln unterliege.10 Gerade »Bilder und erdichtete[] Reden, so in Geschichtsbüchern vorkommen« sind nach Gottsched keineswegs selbstverständlicher Bestandteil der Historie, sondern vielmehr »poetische Kunststuecke, die ein Geschichtsschreiber nur entlehnet, um seine trockene [sic] Erzaehlungen dadurch ein wenig anmuthiger zu machen.«11 Geschichtsschreibung, so lautet die Schlussfolgerung Gottscheds, ist qua natura nicht poetisch – sollte sie dennoch versuchen es zu sein, belege dies nur ihre erneute Unterlegenheit der Dichtkunst gegenüber, da der Historiker offenbar »einer andern Kunst Huelfe braucht, seine Arbeit zur Vollkommenheit zu bringen.«12 Dieses Streben nach poetischer Vollkommenheit bleibt mit Gottsched ausschließlich dem Dichter vorbehalten, »weil es einem aufrichtigen Verfasser historischer Nachrichten nicht zusteht; das geringste in den wahren Begebenheiten zu aendern, auszulassen oder hinzuzusetzen.«13
Hier fällt Gottsched ein Urteil, das ihn – ungeachtet ihrer Auseinandersetzungen in poetologischen und wirkungsästhetischen Fragen – mit Gotthold Ephraim Lessing verbindet, der in seinem 52. Literaturbrief (1759) ebenfalls Dichter und Geschichtsschreiber voneinander abgrenzt:
Ich kann Ihnen nicht Unrecht geben, wenn Sie behaupten, daß es um das Feld der Geschichte in dem ganzen Umfange der deutschen Litteratur, noch am schlechtesten aussehe. Angebauet zwar ist es genug; aber wie? – Auch mit Ihrer Ursache, warum wir so wenige, oder auch wohl gar keinen vortrefflichen Geschichtschreiber aufzuweisen haben, mag es vielleicht seine Richtigkeit haben. Unsere schönen Geister sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrte selten schöne Geister. Jene wollen gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammlen [sic!]; kurz, gar nicht arbeiten: und diese wollen nichts, als das. Jenen mangelt es am Stoffe, und diesen an der Geschicklichkeit ihrem Stoffe eine Gestalt zu erteilen.
Unterdessen ist es im Ganzen recht gut, daß jene sich gar nicht damit abgeben, und diese sich in ihrem wohlgemeinten Fleiße nicht stören lassen.14
Geschichte meint mit Lessing das vergangene Geschehen (res gestae), das als Sujet einer Erzählung unweigerlich zum »Umfange der deutschen Literattur« gezählt werden müsse. Die Differenzierung zwischen wissenschaftlich-historischen und historisch-fiktionalen Texten geht bei ihm in dem der Dichtung zugeordneten Begriff der Erzählung auf. Dennoch ist auch Lessing, hierin Gottsched folgend, um eine Ausdifferenzierung eines literarischen im Gegensatz zu einem historischen Erzählen bemüht: Diese mündet schließlich in der Erkenntnis, dass der Geschichtsschreiber den Quellen verpflichtet sei und jegliche subjektive Ausgestaltung der historischen Fakten vermeiden müsse. Entscheidend ist für Lessing, dass der »vollkommene[] Geschichtschreiber[]« die Treue den Quellen gegenüber bewahre, welche zudem nicht »so verderbt und unrein« sein dürfen,
daß man sich aus ihnen zu schöpfen scheuen muß; hier, wo man erst hundert Widersprüche zu heben und hundert Dunkelheiten aufzuklären hat, ehe man sich nur des kahlen, trokkenen Factums vergewissern kann […].15
Lessing warnt vor eben jenem Geschichtsschreiber, der die mangelnden oder unzuverlässigen Quellen durch poetisches Talent und eigene Erfindungen zu ersetzen gedenkt und seine »Vermutungen für Wahrheiten« verkaufe:
O weg mit diesem poetischen Geschichtschreiber! Ich mag ihn nicht lesen; Sie mögen ihn auch nicht lesen, als einen Geschichtschreiber wenigstens nicht; und wenn ihn sein Vortrag noch so lesenswürdig machte!16
Lessings wie Gottscheds Ausführungen belegen exemplarisch das