Geschichte im Text. Stephanie Catani
die narrative Form ihrer Repräsentation bestimmt und damit einander durchaus verwandt sind, wird als Angriff auf eine der ›Wahrheit‹ verpflichteten Historiografie wie auf den poetischen Zuständigkeitsbereich literarischer Texte gewertet. Entsprechend kommt es zu einer Idealisierung frühaufklärerischer Formen der Geschichtsschreibung, die chronikalisch arbeitet und ihre »vornehmste Aufgabe in der Erarbeitung von Herrschergenealogien, Kirchen- und Fürstengeschichten« erkennt.17 Darüber hinaus unterliegt die Historie, wie auch die Dichtkunst, wenn sie Geschichte (be-)schreibt, geltenden poetologischen Regeln – Ansprüche an Formen und Inhalte der Dichtkunst werden auf den Gegenstand der Geschichtsschreibung übertragen und verantworten ein Konkurrenzverhältnis zwischen historischer und dichterischer Darstellung, wie Gottsched und Lessing es stellvertretend beschreiben.
Aus diesem die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts noch dominierenden Konkurrenzverhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung entwickelt sich sukzessive ein Ringen um die Selbständigkeit beider Disziplinen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts und endgültig erst im 19. Jahrhundert zu eigenständigen, nun auch wissenschaftlich differenzierten Fächern ausgebildet werden. Die zunächst fehlende Trennschärfe zwischen Geschichte und Dichtung macht sich insbesondere im akademischen Bereich bemerkbar, wo die Fächer nicht nur, wie etwa im Stundenplan der Jesuiten, zusammengehören, sondern die ersten Lehraufträge für Geschichte von Poetik-Professoren übernommen werden.18 Wesentliche Impulse für das Entstehen einer modernen Geschichtswissenschaft gehen dabei von der Reformuniversität Göttingen aus, die bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannte zeitgenössische Historiker wie August Ludwig von Schlözer, Ludwig Thimoteus Spittler, Arnold Hermann Ludwig Heeren oder Johann Christoph Gatterer versammelt und einen geschichtswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt entwickelt. Andernorts jedoch dominieren nach wie vor die Fächer Theologie und Jurisprudenz die akademische Ausbildung und kann sich die im universitären Betrieb als selbständiges Fach lediglich als Hilfswissenschaft etablieren.19
Als erklärtes Ziel spätaufklärerischer Historik erweist sich daher die Entwicklung fachspezifischer Methoden, insbesondere im Bereich der Quellenkritik und der Quellenedition. Zugleich wird der Geschichtsbegriff neu formuliert – im Sinne eines überzeitlichen Prozesses, der nicht in der chronikalischen Auflistung einzelner Begebenheiten, sondern in kohärenzstiftenden Erzählungen vermittelt wird. Im Übergang von der alteuropäischen zur modernen Gesellschaft kommt es dabei fachübergreifend zu einer Etablierung innovativer Begrifflichkeiten, die eine Vielzahl verstreuter Erscheinungen nun »als kontinuierliches Ganzes« präsentieren, sprachlich in Form von Kollektivsingularen erfasst. Darunter fällt auch der Geschichtsbegriff, der bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wie bei Gottsched noch in der (zumindest gedachten) Pluralform dominiert und die moderne, polyvalente Bedeutung erst einer grundsätzlichen Neuausrichtung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verdankt.20 Reinhart Koselleck, der die Wandlung des Geschichtsbegriffes im Detail nachvollzogen hat, unterstreicht dessen semantische Neuorientierung, die auf dem Weg von ›den Geschichten‹ zur ›Geschichte‹ mit einem gestiegenen Abstraktionsgrad einhergeht. Das vom Subjekt individuell Erfahrene, bei Gottsched noch unter die »hier und da« zugetragene Begebenheit gefasst, verliert sukzessive an Bedeutung im Gegensatz zu einem entindividualisierten und überzeitlichen Begriff der Geschichte als
das weite Feld menschlicher Fähigkeiten, als Raum von Handel und Wandel, von tastenden und entschiedenen Versuchen, sich aus der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ (Kant) herauszuarbeiten und unter der Weisung der Vernunft den höchstmöglichen Grad an Vervollkommnung, an Perfektibilität des Menschengeschlechts zu erreichen.21
Erst der Kollektivsingular schreibt der Geschichte einen bis zu diesem Zeitpunkt kaum berücksichtigten prozesshaften Charakter ein – durch den Wandel der einzelnen Geschichte(n) zur »Geschichte überhaupt« avanciert die Geschichte vom Objekt, noch einmal mit Koselleck, »zu ihrem eigenen Subjekt«.22
Mit der Einsicht, dass Geschichte von der Form ihres Erzähltwerdens abhängig ist, gerät die narrative Form der Geschichtserzählung nun unweigerlich in den Fokus geschichtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Entsprechend wird gerade der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert als Schwellenzeit für den modernen Geschichtsbegriff wie das akademische Fach erkannt und mit der Frage nach der Repräsentation von Geschichte und ihren textuellen Verfahren eben hier angesetzt.23 Beispielhaft problematisiert Johann Martin Chladenius, durch Koselleck als »Vorbote der Neuzeit« hinreichend gewürdigt,24 in seinem Werk Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird (Leipzig 1752) die reziproke Verschränkung von Geschichte und Erzählung:
§ 16. Geschichte und Erzehlungen gehören zusammen.
Weil historische Sätze, Erzehlungen und Nachrichten nicht stattfinden, wo nicht die dadurch ausgedruckten Begebenheiten und Geschichte vorausgesetzt werden (§ 15.): hingegen Begebenheiten und Geschichte, die uns nicht vorgestellt werden, auch kein Vorwurff unserer Betrachtung seyn können; so gehören zum Begebenheiten auch Erzehlungen und Nachrichten und wiederum zum Erzehlungen und Nachrichten gehören Geschichte. Mithin gehören diese Dinge so zusammen, daß eins ohne das andere nicht seyn kan. Sie müssen aber dennoch voneinander unterschieden werden; weil die historischen Schwierigkeiten bald aus der Geschichte und Begebenheit selbst, bald aber aus den Nachrichten und Erzehlung entspringen.25
Einmal mehr dokumentieren die Ausführungen Chladenius’, wie deutlich die Narrativität historischen Wissens bereits zu Beginn der Fachgeschichte einen Gegenstand disziplininterner Reflexionen darstellt. Darüber hinaus bereitet die hier noch versuchte Differenzierung zwischen den Begriffen der Geschichte (als den stattgefundenen Begebenheiten) und der Erzählung bzw. der Nachricht (als den Berichten von den Begebenheiten) auf die entscheidende semantische Neueinschreibung im auslaufenden 18. Jahrhundert vor, die an die Seite der bereits skizzierten Ausweitung des nun als Kollektivsingular etablierten Geschichtsbegriffs tritt. Geschichte, ursprünglich – von Lessing zu Chladenius – als res gestae (die vergangenen Ereignisse) verstanden, meint nun zunehmend auch die historia rerum gestarum (historische Beschreibungen der vergangen Ereignisse), bezieht sich damit gleichzeitig auf das Sujet der Geschichtsschreibung wie auf das Medium derselben.26 Damit avanciert Geschichte unweigerlich vom ›Wirklichkeitsbegriff‹ zum ›Reflexionsbegriff‹, der, indem er sich auf die sprachliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit bezieht, bereits kritisch auf die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen ›Geschichtsarbeit‹ verweisen muss.27 Koselleck macht diesen entscheidenden Wandel an der terminologischen Unschärfe zwischen den Begriffen der historie (Wissenschaft und Erzählung von der Geschichte) und Geschichte (vergangener Ereignis- und Handlungsbereich) fest, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts durch ein langsames Verschwinden der historie bemerkbar macht: Deren Bedeutung wird nun sukzessive auf die Geschichte übertragen.28 Sind es zu Beginn des Jahrhunderts Poesie und historie, die sich im Konkurrenzverhältnis befinden, etwa bei Gottsched, wenn er feststellt: »Sie [die Fabeln der Poesie, S.C.] sind dabei noch lehrreicher als die bloße Historie, weil sie ausdrücklich dazu erfunden worden […]«,29 ist es zur Jahrhundertwende der Begriff der Geschichte schlechthin, der jenem der Dichtung entgegengehalten wird.
Diese semantische Neuausrichtung des Geschichtsbegriffs, der nun das tatsächlich Ereignete wie das retrospektive Erzählen davon gleichermaßen benennt, sorgt gegen Ende des 18. Jahrhunderts für neue Bewertungen hinsichtlich des Verhältnisses von Literatur und Geschichte bzw. Geschichtsschreibung. Deutlich pragmatischer als noch Gottsched und Lessing urteilt etwa Goethe, wenn er in den Maximen und Reflexionen pointiert:
Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter? darf gar nicht aufgeworfen werden; sie concurriren nicht mit einander, so wenig als der Wettläufer und der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone.30
Auch die von Gottsched und Lessing problematisierte narrative Form der Geschichtserzählung, die durch das Einbringen fiktionaler Elemente die Wirklichkeit verstelle, wird von Goethe gänzlich anders bewertet:
Die Pflicht des Historikers ist zwiefach; erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bey sich selbst muß er genau prüfen was wohl geschehen seyn könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen was geschehen sey. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Collegen ausmachen; das Publicum muß aber nicht ins Geheimniß