Geschichte im Text. Stephanie Catani
wenn nicht gleich aus historischen Romanen selbst bezieht. Das neue wissenschaftliche Selbstverständnis des Faches stoße, so Droysen, beim potentiellen Leser auf nur wenig Gegenliebe: »Freilich dem grossen Publikum war mit dieser Richtung unserer Historie nicht eben gedient; es wollte lesen, nicht studiren.«22 Droysen aber plädiert für einen Geschichtsbegriff wie für eine Historik, die sich vom Publikumsgeschmack freisprechen und die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft endgültig vollziehen. Blind für das fiktionasaffine Potenzial der Geschichte ist Droysen jedoch nicht: Vielmehr besteht er auf eine historische Methode, die sich kritisch mit den Quellen auseinandersetzt, wohlwissend, dass die Quellen keineswegs als authentisches Zeugnis der res gestae zu verstehen sind:
Diese kritische Ansicht, dass uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in vermittelter Weise vorliegen, dass wir nicht ›objektiv‹ die Vergangenheiten, sondern nur aus den ›Quellen‹ eine Auffassung, eine Anschauung, ein Gegenbild von ihnen herstellen könne, dass die so gewinnbaren und gewonnenen Auffassungen und Anschauungen Alles sind, was uns von der Vergangenheit zu wissen möglich ist, dass also ›die Geschichte‹ nicht äusserlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewusst da ist – das muss, so scheint es, der Ausgangspunkt sein, wenn man aufhören will in der Historie zu naturalisiren.23
Die von Droysen hier kritisch reflektierte Differenzierung zwischen res gestae und historia rerum gestarum vergegenwärtigt ein wissenschaftliches Problembewusstsein, das mit seiner These einer ›objektiv‹ nicht zur Verfügung stehenden Historie bereits weit über den an Ranke orientierten positivistischen Historismus hinausgeht.
Wie gewinnbringend eine Auseinandersetzung mit der historistisch und positivistisch geprägten Forschung des 19. Jahrhunderts für literaturwissenschaftliche Reflexionen, gerade auch in Hinblick auf historisch-fiktionale Texte, sein kann, führt die von Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthart Wunberg gemeinsam verfasste Untersuchung zu Historismus und literarische Moderne (1996) vor Augen.24 Grundlage der Studie bildet ein über den geschichtswissenschaftlichen Kontext hinausführender Historismus-Begriff, der sich auf die Isolierung der Fakten durch eine historisch wie positivistisch orientierte Forschung bezieht, und nun anschlussfähig gemacht werden soll für ein bestimmtes Text-Verfahren moderner Literatur: das Phänomen der Lexemautonomie. Gerade in ihrer Auseinandersetzung mit historischen Stoffen entwickle die moderne Literatur, so die These der Autoren, »eine eigene Lexik, die erst in der Erledigung der Geschichte als ihres Gegenstandes zu sich selbst kommt.«25 Mit dem Begriff der Lexemautonomie wird die ›Unverständlichkeit‹ moderner Texte beschrieben, die sich hermeneutischen Ansätze scheinbar verschließt, das fehlende Referenzsystem zwischen Signifikant und Signifikat, »eigentlich die Dispensierung der gesamten herkömmlichen Semantik« sichtbar mache.26 Diese Loslösung der Fakten von ihrer Beschreibung formuliere jedoch nur scheinbar einen Widerspruch zur Dominanz der Fakten im positivistisch geprägten Historismus, tatsächlich aber resultiere sie eben daraus: »Die Geschichtswissenschaften, die gerade erst entstehenden Wissenschaften überhaupt, erreichen folglich zugleich, was sie keineswegs wollen.«27 Was innerhalb der Geschichtswissenschaften die ›Krise des Historismus‹ begründet, versteht sich für die Literatur der Moderne damit als Befreiungsschlag:
Der Favorisierung der Fakten in historischer Forschung korrespondiert die Autonomie der Lexeme im historischen Roman – in der Literatur aber führt das damit initiierte Verfahren zu Konsequenzen, die die methodischen Begrenzungen des Positivismus auf unabsehbare Weise sprengen.28
Die These von der Lexemautonomie im historischen Roman erstaunt zunächst, handelt es sich doch gerade dabei um eine Gattung, die, so räumen die Autoren selbst an anderer Stelle ein, ausschließlich »unter der Voraussetzung narrativer Heteronomie«29 funktioniere. Gerade hier bleiben sprachliche Zeichen als Träger semantischer Bedeutung eng auf bestimmte Erscheinungen der außerliterarischen Wirklichkeit bezogen, etwa auf historische Figuren und Fakten. Tatsächlich aber weisen die Autoren nach, wie literarische Texte, die sich vordergründig auf historistische Verfahren beziehen und unter dem Begriff des technischen Historismus figurieren, ihre Lexeme dem historischen Kontext entlehnen und im Anschluss autonomisieren. So werden Darstellungsmodi historischer Forschung, im Zuge der literarischen Moderne und endgültig im Kontext avantgardistischer Literatur, auf den poetischen Text übertragen und dort als innovative Textverfahren sichtbar gemacht. Zu solchen Darstellungsweisen gehören etwa: »der Katalog, die hyperdetaillierte Beschreibung, der disgressive Exkurs, name-dropping, Essayistik«. Diese ursprünglich der positivistischen Historiografie, »einer auf bessere Verständlichkeit der Welt zielenden Wissenschaft«, entlehnten Textverfahren avancieren nun zu einem literarischen Verfahren, »das in seiner Radikalität unverständliche Texte produziert« und autonome Lexeme hervorbringt, die schlussendlich auf kein textexternes Referenzsystem mehr verweisen.30 Diese Entwicklung eines technischen Historismus, der, so die Autoren, zu einer Auflösung der Sinnkategorie, zu der finalen Autonomie der Lexeme erst in der Literatur der Jahrhundertwende führe, problematisiert von Beginn an die Kohärenz literarischer Repräsentation. Dies hat unübersehbare Folgen für den historischen Roman bereits im 19. Jahrhundert, sowohl für Vertreter einer streng an den historistischen Positivismus angelehnten Gattung (genannt werden Dahn, Ebers und, mit Einschränkung, Scheffels) als auch im Besonderen für jene Autoren, die das historisch-fiktionale Erzählen bereits mit geschichtskritischen Reflexionen verbinden (etwa Fontane oder Raabe).31
3 Geschichte als Text: Linguistic turn und die Folgen
Noch immer versteht sich der linguistic turn als der ›Mega‹-Turn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – häufig auch als Paradigmenwechsel aufgefasst, dem sämtliche sich anschließende und vorrangig kulturwissenschaftliche turns verpflichtet bleiben.1 Die dieser sprachlichen Wende zugrunde liegende zentrale Erkenntnis fasst Richard Rorty, dessen Herausgeberband The linguistic turn 1967 für die Namensgebung verantwortlich zeichnet, in seiner Einleitung pointiert zusammen:
Since traditional philosophy has been (so the argument goes) largely an attempt to burrow beneath language to that which language expresses, the adoption of the linguistic turn presupposes the substantive thesis that there is nothing to be found by such burrowing.2
Wenn aber mit Rorty jenseits der Sprache keine Realität zu finden ist und man sich der Wirklichkeit ausschließlich über die Einsicht in ihre sprachliche Verfasstheit zu nähern vermag, hat das unmittelbare Konsequenzen für gerade jene Wissenschaft, die sich der (Re-)Konstruktion einer vergangenen Wirklichkeit verschreibt – die Geschichtswissenschaft eben. Das viel zitierte positivistische Bemühen Rankes zu »zeigen, wie es eigentlich gewesen,« führt spätestens jetzt nicht mehr zu den Fakten der Vergangenheit, den res gestae, sondern ausschließlich zu ihrer sprachlichen Vermittlung (historia rerum gestarum) zurück, welche die Fakten erst konstituieren. Mit dem linguistic turn gerät die Geschichtswissenschaft in eine Legitimations- und Existenzkrise: Nicht zufällig werden der linguistic turn und die Frage nach dem »Ende der Geschichte als Wissenschaft« häufig in einem Atemzug genannt.3 Von einer zeitnahen Reaktion der (zumindest deutschsprachigen) Geschichtswissenschaft auf den vermeintlichen Paradigmenwechsel kann dabei schwerlich die Rede sein, vielmehr werden Einsichten des linguistic turn erst verspätet rezipiert und reflektiert.4
Der Begriff selbst, darauf wurde in jüngster Zeit hingewiesen, ist durchaus missverständlich, insbesondere wenn er vorschnell zu einer Übersetzung mit »die linguistische Wende« führt.5 Um eine solche handelt es sich bei dem Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft im Eigentlichen nicht – vielmehr bietet sich hier der Ausdruck narrative, zumindest aber sprachliche Wende an.6 Denn hinter den geschichtswissenschaftlichen bzw. -theoretischen Überlegungen im Anschluss an den linguistic turn verbergen sich in der Regel keine die Linguistik als Struktur- oder Systemwissenschaft reflektierenden oder rein semiotische Fragestellungen, sondern erzähltheoretische, hermeneutische und textanalytische Ansätze. Dementsprechend ist die Referenzgröße in den seltensten Fällen Ferdinand de Saussure, mitunter Roland Barthes, vor allem aber Hayden White. Gerade letzterer fällt hingegen, wie noch zu zeigen sein wird, in seinen frühen, zugleich aber am stärksten rezipierten Schriften, hinter die Radikalität textsemiotischer Analysen, wie sie etwa