Geschichte im Text. Stephanie Catani
Auswirkung zu begreifen, die auf die grundsätzlich Polyvalenz des Geschichtsbegriffes zurückzuführen ist: Zunächst leitet die Fokussierung auf die ›Sprache der Geschichte‹ zur Geschichtsschreibung als dem Diskurs über, der die historischen Fakten im Medium der Erzählung, der historia rerum gestarum, erst verfügbar macht. Die Einsicht in die rhetorische Verfasstheit der Geschichte und die Gleichsetzung des Historikers weniger mit dem ›Entdecker‹ als vielmehr dem Interpreten der Geschichte sind im Ganzen dabei nicht neu. Sie finden sich, wie bereits dargelegt wurde, im auslaufenden 18. Jahrhundert, allen voran bei Schiller, und später im Kontext der Diskussion um einen weiter gefassten Historismusbegriff und die Positivismus-Kritik Nietzsches. In der Tat erfolgt das eben dargestellte, neu entdeckte Interesse der Geschichtswissenschaft an der Aufklärungshistorie nicht zufällig zu einer Zeit, in der Geschichte als Text und damit mit seiner narrativen Qualität diskutiert wird. Diese Diskussion steht dem Selbstverständnis der Geschichtsschreiber um 1800 deutlich näher als den positivistischen Zugriffen auf die historischen Fakten, wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts von den Vertretern eines positivistischen Historismus verteidigt wurden. Neben dieser Problematisierung der Geschichtsschreibung im Besonderen, der sprachlichen Verfasstheit der Geschichte, zielt der linguistic turn – gerade in seiner Fortführung durch poststrukturalistische Ansätze – auf eine weitere, ungleich brisantere Diskussion, in der nun die historischen Fakten selbst, die res gestae, verhandelt werden: Wenn eine der Sprache vorgängige Wirklichkeit in Frage gestellt wird, wenn das Signifikat, mit Derrida, »seit je als ein Signifikant« fungiert,7 dann wird die bis dato vollzogene scharfe Trennung zwischen den res gestae und der historia rerum gestarum hinfällig. Da auch das historische Faktum als erst ›gemacht‹ und nicht etwa immer schon vorhanden gedacht werden muss, geraten sowohl die Konstitutions- wie Konstruktionsbedingungen der Geschichtserzählung wie auch das von ihnen Bezeichnete unter den Verdacht der Unzuverlässigkeit.
Erst in dieser zweifachen Rückführung zur ›Sprache der Geschichte‹ und der damit verbundenen gleichzeitigen Problematisierung von res gestae und historia rerum gestarum versteht sich das Ausmaß der Erschütterung, die das Fach in der Folge prägt.
3.1 Der Poststrukturalismus: Roland Barthes und das Ende der res gestae
Als programmatisch erweist sich in diesem Zusammenhang Roland Barthes Aufsatz Historie und ihr Diskurs, der im Original 1967 und ein Jahr später in seiner deutschen Übersetzung erscheint.1 Barthes ist einer der ersten Vertreter des französischen Poststrukturalismus, der sich mit dem historischen Erzählen (das bei Barthes die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts meint) im Unterschied zu einem literarischen auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang wirft Barthes die Frage auf, ob das historische Erzählen sich tatsächlich »durch irgendeinen spezifischen Zug, durch eine zweifelsfreie Relevanz von der imaginären Erzählung, wie man sie in der Epopöe, dem Roman, dem Drama findet«, unterscheide.2
In einem ersten Schritt differenziert Barthes zwischen dem Akt des Aussagens (énonciation) und der Aussage (énoncé), schließt also an die bereits bekannte Problematisierung des Kollektivsingulars Geschichte an, der sowohl die historischen Fakten (res gestae) als auch das Erzählen davon (historia rerum gestarum) meint. Um die Subjektivität jedes Aussageaktes nachzuzeichnen, untersucht Barthes die »Umschaltelemente« (shifters), die den Übergang zwischen énoncé und énonciation markieren, etwa die (subjektive) Auswahl der Quellen, auf die sich der Akt des Aussagens stützt, vor allem aber die Konfrontation der unterschiedlichen Zeitebenen, die sprachlich ausgedrückt werden: die (präsentische) Zeit des Aussagens und die (vergangene) Zeit des ausgesagten Stoffes. Als Beispiel für jene Diskurselemente, die das Verhältnis dieser Zeiten steuern, führt Barthes die Geschichtsraffung, den Zickzackkurs oder Sägezahnstil (Unterbrechung der Handlungschronologie) sowie die Einleitung des historischen Diskurses an, in der »der Anfang des ausgesagten Stoffes mit dem Beginn des Aussagens zusammenfällt.«3 Relevant sind mit Barthes diese Verschränkungen von erzählter Zeit und der Zeit des Diskurses (mit Barthes auch Papierzeit) nicht, weil sie subjektive Selektionsverfahren des Historikers, sondern ein Erzählverfahren sichtbar machen, das jedes historische Geschehen entchronologisiert und einer »komplexen, parametrischen« Zeit eingliedert. Diese verlaufe nicht mehr linear und werde allein vom Historiker, der über beide Zeitebenen verfügt, überschaut. Ein solches Erzählen ist mit Barthes ein genuin mythisches: Mythos und historischer Diskurs vereinen sich im Bestreben, »das chronologische Abspulen der Ereignisse durch Bezüge auf die seinem Wort zugehörige Zeit zu doppeln.«4
Bezugnehmend auf das Kommunikationsmodell Jakobsons widmet Barthes sich im Anschluss den im Diskurs vorhandenen Zeichen des Aussagenden/Absenders, jenen Signalen also, die den Historiker als Subjekt des Aussageaktes sichtbar machen. Mit Blick auf die um einen gesteigerten Realismus und Objektivität bemühte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts stellt Barthes fest, dass ein »objektiver« historischer Diskurs niemals existieren könne, sondern dass ein Mangel an Zeichen, die auf den Aussagenden verweisen, im Gegenteil als Referenzillusion (illusion référentielle) zu verstehen sei – als Versuch des Historikers also, sich selbst als die den Diskurs ordnende Distanz verschwinden und allein das Bezugsobjekt (référent) sprechen zu lassen. Dieser Versuch ist mit Barthes, beim Historiker wie beim Romancier, zum Scheitern verurteilt, denn: »Wir wissen, daß der Mangel an Zeichen ebenfalls bezeichnend ist.«5
Nach der Analyse des Aussageaktes geht Barthes zur Auseinandersetzung mit der historischen Aussage (énoncé), dem im Aussageprozess Bezeichneten, über. Diese setzt sich aus inhaltlichen Einheiten zusammen, die als Kollektionen zusammengesetzt und durch den Historiker strukturiert werden. Hier liegt die für das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung brisante Einsicht Barthes verborgen: Denn dem Aussageakt analog verweist auch das Bezeichnete keineswegs auf eine objektiv erfahrene Wirklichkeit, sondern bleibt von seiner sprachlichen Konstitution determiniert: »Die Benennung stärkt die Struktur des Diskurses, weil sie diesem eine starke Artikulation gestattet.«6 Und erst die Benennung lässt das historische Faktum entstehen, jenseits des Wortes kann eine historische Wirklichkeit nicht existieren: »Das historische Faktum ist, linguistisch gesehen, an ein Privileg des Seins gebunden: Man erzählt, was gewesen ist; nicht, was nicht oder was zweifelhaft gewesen ist.«7
Weil die Fakten der Geschichte immer schon auf ein Auswahlverfahren, nämlich »das der Erinnerung Würdige, d.h. das [sic!] Bemerkens und Notierens Würdige« rekurrieren, vergegenwärtigt der historische Diskurs mit Barthes den einzigen, »bei der das Bezugsobjekt als etwas außerhalb des Diskurses Liegendes aufgefaßt wird, ohne daß es indessen je möglich wäre, es außerhalb des Diskurses in den Griff zu bekommen.«8
Diese von Barthes beschriebene Genese des historischen Faktums erweist ihre Modernität gerade im Vergleich mit unmittelbaren Vorgängerstudien wie der 1961 veröffentlichten und lange Zeit als Standardeinführung in das Studium der Geschichte (zumindest im angloamerikanischen Kontext) geltende Untersuchung Was ist Geschichte des britischen Historikers Edward Hallet Carr. In seinem ersten Kapitel (»Der Historiker und seine Fakten«) wendet sich Carr, hier noch in Übereinstimmung mit Barthes, vehement gegen die Auffassung, es gebe »gewisse grundlegende und für sämtliche Historiker verbindliche Fakten, die sozusagen das Rückgrat der Geschichte ausmachten«.9 Im Gegensatz zur Barthes’ sprachkritischer Problematisierung der Fakten im Kontext einer modernen Semiotik konzentriert Carr sich allerdings ganz auf die Figur des Historikers und seine subjektiven Selektionsverfahren, die über Form und Aussehen der Geschichte entscheiden:
Die Tatsachen sprechen für sich selbst, pflegte man zu sagen. Aber das stimmt natürlich nicht. Die Tatsachen sprechen nur, wenn der Historiker sich an sie wendet: er nämlich entscheidet, welchen Fakten Raum gegeben werden soll und in welcher Abfolge oder in welchem Zusammenhang.10
Das historische Faktum – im Gegensatz zum Faktum an sich, an dem Carr im Unterschied zu Barthes festhält – unterliegt mit Carr immer schon einer a-priori-Entscheidung des Historikers. Damit ist die Geschichte als historia rerum gestarum der Interpretation des Historiografen ausgeliefert, ebenso wie die Entscheidung, welche Fakten der Vergangenheit zu historischen Fakten im Zuge ihrer wissenschaftlichen Historisierung werden. So stellt mit Carr etwa die Schlacht