Geschichte im Text. Stephanie Catani
der Historiographie«12 zu erklären, das die Unterschiede zwischen Dichtung und Historie vollkommen einzuebnen droht.13 Darüber hinaus geht es White weniger um die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert thematisierte Subjektivität des Historikers und deren Einfluss auf Form und Inhalte der Geschichtsschreibung als vielmehr um die jedem historischen Darstellungsversuch genuin inhärenten (und damit unvermeidbaren) modi narrativer Strukturierung, die in Whites Vorstellung einer allgemeinen Poetik der Geschichtsschreibung münden. Zuletzt verantwortet die Anzahl der White’schen Veröffentlichungen, die sich von den späten 1960er Jahren bis in die Gegenwart mit der Narrativität und Poetizität geschichtlicher Darstellungen beschäftigen, seine Stellung als ›Aushängeschild‹ der damit verbundenen Diskussion.
Wie nun gelangt White zu seiner Einsicht in die ›poetische Beschaffenheit‹ historischer Texte? Zusammengefasst interessiert er sich für die Tiefenstruktur historischer Darstellung, die er als emplotment, als Einbindung der »rohen historischen Aufzeichnung« (bei White das historische Feld) in einen plot begreift.14 Die »Geschicklichkeit des Historikers […], mit der er eine bestimmte Plotstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, denen er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander anpaßt«, entscheidet über den Modus der Darstellung und verantwortet mit White ein genuin literarisches respektive fiktionsbildendes Verfahren, das wie folgt aussieht:
Zunächst werden die Elemente des historischen Feldes durch die Anordnung der zu erörternden Ereignisse in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens zu einer Chronik organisiert; dann wird die Chronik durch eine weitere Aufbereitung der Ereignisse zu Bestandteilen eines »Schauspiels« oder Geschehniszu-sammenhangs, in dem man klar einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß glaubt unterscheiden zu können, in eine Fabel umgewandelt. Diese Transformation der Chronik in eine Fabel wird durch die Kennzeichnung einiger Ereignisse der Chronik als Eröffnungsmotive, anderer als Schlußmotive und wieder anderer als Überleitungen bewirkt.15
Die Aufbereitung der historischen Ereignisse zu einer Fabel erfolgt nach White mit Blick auf die Wirkungsabsicht der von ihm zu schreibenden Geschichte sowie den damit verbundenen Lesererwartungen und ist mit einer dreifachen Interpretationsleistung des Historikers verbunden. Dieser müsse sich erstens für eine Erzählstruktur entscheiden, die der dargestellten Handlung Bedeutung verleiht. White kann sich dabei auf die von Northop Frye unterschiedenen archetypischen Erzählformen der Romanze, der Tragödie, der Komödie und der Satire berufen.16 Zweitens lege sich der Historiker, so White, vorab auf eine spezifische Argumentation fest, die an die zugrundegelegte »formale Schlußfolgerung« gebunden sei. Hier schlägt White in Anlehnung an Stephen C. Pepper formativistische, organizistische, mechanistische und kontextualistische Argumentationsmodelle vor.17 Drittens sei mit jeder historischen Darstellung eine ideologische Dimension verbunden, die White mit den vier (ursprünglich sind es fünf) ideologischen Grundpositionen Karl Mannheims zu erfassen sucht (Anarchismus, Konservatismus, Radikalismus und Liberalismus).18
Neben die hier ausgeführte Interpretationsebene des Historikers, die die konstituierende Grundlage jedes emplotment darstellt, tritt eine zweite, sprachliche Ebene, die mit White den Prozess bezeichnet, in dem der Historiker die rohen Aufzeichnungen des historischen Feldes in seine eigene Sprache überführt, um es »so für die Erklärung und Darstellung vorzubereiten, die er danach in seiner Erzählung geben wird.«19 Diesen Prozess versteht White als das Erstellen eines vorbegrifflichen sprachlichen Protokolls, das durch den in ihm dominierenden Tropus charakterisiert ist. Logisch stringenter als noch in Metahistory führt White diesen Prozess, den er ausdrücklich als ›poetischen Akt‹ begreift, in seinem ein Jahr nach Veröffentlichung der Monografie erschienenem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk aus. White bestreitet hier jegliche mimetische Auffassung historischer Erzählungen als »maßstabgetreue« Modelle einer historischen Wirklichkeit. Vielmehr charakterisiert er unter Rückgriff auf die Sprachphilosophie Charles S. Peirces und dessen Begriff des Ikons als Zeichen, das sich auf seinen bezeichneten Gegenstand durch das Merkmal der Ähnlichkeit bezieht, auch historische Erzählungen als Zeichensysteme. Diese verweisen, so White, sowohl auf die in der Erzählung beschriebenen historischen Ereignisse wie auch auf »den Typ von Geschichte oder Mythos, den der Historiker als Ikon der Struktur der Ereignisse gewählt hat«.20 Die Entschlüsselung der ikonischen Struktur einer historischen Erzählung lege schließlich jene »prägenerischen Plotstrukturen« offen, die verwendet werden, um unvertraute Ereignisse und Situationen mit Bedeutung aufzuladen. Dazu bedient sich der Historiker einer figurativen Sprache, deren Grundformen (in Metahistory als Tropen ausgeführt) White ausgehend von den Überlegungen Giambattista Vicos in der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie auszumachen glaubt.21 In dieser Theorie der Tropen meint White das geeignete Instrument gefunden zu haben, mit dessen Hilfe er hofft, die Geschichtsschreibung und das vorherrschende Geschichtsdenken, »wie es im Europa des 19. Jahrhunderts Gestalt annahm«, analysieren zu können.22 Während Metahistory – und gerade die in Bezug auf dieses Werk »äußerst oberflächliche«23 Rezeption differenziert hier nur wenig – in erster Linie ein Beitrag zur Historiografiegeschichte des 19. Jahrhunderts bleibt und als solcher zumindest von den Historikern zunächst wahrgenommen wurde, bezieht White in seinem bereits im Titel programmatischen Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk eine deutlich verschärfte Position. Der Text pointiert die Grundaussagen von Metahistory noch einmal, radikalisiert Whites (zumal hier nicht mehr nur für das 19. Jahrhundert beanspruchte) Thesen aber gerade dort, wo sie das Verwandtschaftsverhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung berühren, etwa wenn White hier über die historischen Quellen feststellt, sie seien
nicht weniger intransparent als die Texte, die der Literaturwissenschaftler untersucht. Und auch die Welt, die diese Dokumente darstellen, ist nicht zugänglicher. Das eine ist nicht mehr ›gegeben‹ als das andere.24
Diese Relativierung der wissenschaftlichen Aussagekraft historischer Quellen (die als Angriff auf die Wissenschaftlichkeit des Faches an sich gewertet wurde) mündet in die Nivellierung jeglichen Unterschieds zwischen Literatur und den historischen Erzählungen, die mit White nichts anderes sind als
sprachliche Fiktionen (verbal fictions), deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften.25
Historische Erzählungen wie literarische Texte zeichnen sich mit White gleichermaßen dadurch aus, »daß sie die metaphorischen Ähnlichkeiten zwischen Folgen von realen Ereignissen und den konventionellen Strukturen unserer Fiktion ausnutzen.«26 Beide Genres laden, indem sie eine Folge von Ereignissen zu einer nachvollziehbaren Geschichte konstituieren, diese Ereignisse mit der symbolischen Bedeutung auf, die sich in der Aufschlüsselung ihrer tropologischen Grundform erschließt.
3.2.1 Hayden White in der Kritik
Bis in die Gegenwart gilt Hayden White als Initiator einer systematischen, »meta«-historischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen historischen und literarischen Erzählens und wird in jüngeren Veröffentlichungen entsprechend gewürdigt.1 Dies soll jedoch nicht blind machen für die berechtigte Kritik, die Whites Thesen sowohl von Seiten der Geschichtswissenschaft wie auch durch Vertreter der Literaturwissenschaft erfahren haben.
Die entscheidenden Vorwürfe aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive äußert mit Blick auf die recht spät einsetzende White-Rezeption in Deutschland der Historiker Jörn Rüsen schon früh.2 Zum einen vermisst er in Whites Untersuchung die im Rahmen der Historik, also der systematischen Selbstreflexion der Fachhistorie, »unerläßliche Frage nach der Wissenschaftsspezifik von Geschichtsschreibung«, die im Kontext einer streng textlinguistischen Untersuchung, wie White sie unternehme, zwangsläufig ausgeblendet bleiben müsse.3 Zum anderen wirft Rüsen White vor, die historische Dimension narrativer Verfahren der Geschichtsschreibung zu ignorieren, indem er sich auf eine Typologie berufe, die unhistorisch arbeitet. Die für den Wandel historischer Darstellungsformen so relevante zeitliche Dynamik bleibe dadurch unberücksichtigt.4
Insbesondere der Vorwurf, Hayden White unterschlage in seiner Profilierung eines Geschichtsbegriffes, der auf seine narrative Form als konstitutives Merkmal reduziert wird, das wissenschaftliche Selbstverständnis und die