Deutsch als Zweitsprache. Barbara Geist
Lücken, sondern ebenso, wie in außerschulischen Studien von Sprechern unterschiedlichen Alters gezeigt (Tracy / Lattey 2010), kommunikative Stilmittel. So finden Sprachwechsel zum Beispiel statt, um Veränderungen im Diskurs, Sprecherwechsel in einer Erzählung usw. zu markieren (s. hierzu auch Kap. 6, weiterführend Kersten et al. 2011, Tracy 2011 und 2014).
Familien bilden den ersten Erwerbskontext von Sprache(n). Mehrsprachige Familien verwenden ihre Sprachen auf unterschiedliche Weise (s. hierzu ausführlich Brehmer / Mehlhorn 2018, 61ff.), die Romaine (1995) mit Blick auf den simultan bilingualen Erwerb in sechs Typen grob umschreibt. Spricht bspw. je ein Elternteil (von Geburt an) eine Sprache mit dem Kind, wobei eine der beiden Sprachen auch die Umgebungssprache ist, wird nach dem sogenannten Prinzip one person, one language verfahren. Mehrere Erwerbstypen umfassen die Situation, dass die Eltern ein oder zwei Sprachen mit dem Kind verwenden, jedoch keine dieser Sprachen die Umgebungssprache ist. Diese und weitere Typen suggerieren eine Form der Sprachentrennung, die so in Familien mit mehreren Kindern unterschiedlichen Alters eher ein Ideal als ein Abbild der Realität ist. Dieser sprachlichen Realität trägt der Typ mixed languages, in dem die Eltern selbst mehrsprachig sind und beide / mehrere Sprachen und Sprachmischungen in der Kommunikation mit den Kindern verwenden, Rechnung. Welche Sprache(n) wie intensiv in einer Familie verwendet wird / werden, variiert zwischen den Familienmitgliedern und / oder abhängig von Gesprächsthemen (z. B. Schule und Arbeit vs. Freizeit und Familie). So ist die Sprachverwendung auch abhängig vom Alter der Kinder; in frühen Lebensjahren wird möglicherweise zunächst intensiver in der Erstsprache kommuniziert, die Umgebungssprache (hier: Deutsch) nimmt erst ab dem Kindergartenalter mehr Raum ein. Aufgrund der Sprachmischungen innerhalb einer Kommunikationssituation ist die Frage nach der Gewichtung ggf. ohnehin kaum zu beantworten.
Sprachenverwendung in der Familie
Im Bildungsbericht 2016 wurden erstmals Zahlen zur vorrangigen Familiensprache der SuS aus acht Bundesländern veröffentlicht. Der Anteil an SuS mit nicht deutscher Familiensprache variiert regional (z.B. Bayern 12,2 %, Rheinland-Pfalz 12,6 % vs. Berlin 35,2 %, Bremen 29,7 %, Hessen 25,7 %) ebenso wie der Anteil der SuS mit Migrationshintergrund an der Gesamtzahl der SuS.
Ebenfalls wurden erstmals Ergebnisse zur vorrangigen Familiensprache von Kindergartenkindern berichtet. Auch hier gibt es große regionale Unterschiede. Während in Berlin, Gladbeck (Ruhrgebiet) und Offenbach (Hessen) über 77 % der Vier- und Fünfjährigen mit Migrationshintergrund zu Hause (überwiegend) kein Deutsch sprechen, weisen vor allem ländliche Gebiete Werte von unter 50 %, teils sogar unter 30 % auf (jedoch z.B. in Mecklenburg-Vorpommern an der Grenze zu Polen 66–77 %) (Bildungsbericht 2016: 167). Es gilt zu hinterfragen, ob sich tatsächlich die familiären Sprachpraktiken regional unterscheiden oder ob die Unterschiede auf die Problematik der engen Fragestellung zur (vorrangigen) Familiensprache zurückzuführen sind. Welche Unterschiede gibt es zwischen den Familien im ländlichen Raum und in verstädterten Regionen? Bilden die Ergebnisse ab, dass Familien, die in Regionen/Städten mit vielen Menschen mit Migrationshintergrund und/oder vielen mehrsprachigen Menschen leben, die Erstsprachen eher (auch) als Familiensprache(n) verwenden? Fördert demnach das Erleben von Mehrsprachigkeit als Normal- und nicht als Sonderfall (auch) die familiale Mehrsprachkeit? Unberücksichtigt lässt die Stichprobe die 10 % der Kinder mit Migrationshintergrund, die keine Kindertagesstätte besuchen, sowie mehrsprachige Familien ohne Migrationshintergrund. Die Entscheidungsfrage „überwiegend eine andere Sprache oder überwiegend Deutsch“ spiegelt einen eingeengten Blick auf die Sprachenverwendung mehrsprachiger Menschen wider. Es ist gut vorstellbar, dass sich mehrsprachige Familien für eine Antwortmöglichkeit entschieden haben, die jedoch ihre Sprachenverwendung nicht vollständig abbildet.
In Erhebungen, die der Komplexität von Mehrsprachigkeit Rechnung tragen, wurden SuS als mehrsprachig kategorisiert, wenn sie angaben, mit mindestens einem Familienmitglied (auch) eine weitere Sprache außer Deutsch zu sprechen (Chlosta/Ostermann 2010: 19) (u.a. Fürstenau/Gogolin 2003 für Grundschulen in Hamburg, Chlosta/Ostermann 2006 für Grundschulen in Essen, Decker/Schnitzer 2012 für Grundschulen in Freiburg und Ahrenholz/Maak 2013 für Thüringen). Die Erhebung von Familiensprachen bzw. Mehrsprachigkeit ist dringend zu systematisieren (s. hierzu auch Ahrenholz/Maak 2013), um Ergebnisse vergleichen zu können und der tatsächlichen Mehrsprachigkeit der Familien gerecht zu werden.
1.3 Zweitspracherwerb
SuS mit DaZ erwerben das Deutsche sukzessive, d.h. zeitlich versetzt zu ihrer L1 bzw. ihren Erstsprachen (Rothweiler 2007: 106). Der intensive und kontinuierliche Kontakt zur L2 beginnt für diese Kinder häufig mit dem Eintritt in eine Bildungsinstitution. Abhängig vom Zeitpunkt des Erstkontakts zur L2 spricht man von einem frühen L2-Erwerb (Erwerbsbeginn im Alter von zwei/drei oder vierbissechs Jahren) und grenzt ihn vom L2-Erwerb von Kindern mit einem Erwerbsbeginn im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren sowie dem Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen mit dem Erwerbsbeginn nach der Pubertät ab (Rösch 2011: 11, Schulz/Grimm 2012: 164) (s. Abb. 1).
Neben dem sukzessiven Erwerb besteht die Möglichkeit, zwei oder mehr Sprachen parallel zu erwerben. Innerhalb des L1-Erwerbs differenziert man zwischen dem monolingualen und dem bilingualen Erwerb (Rothweiler 2007), bei dem das Kind zwei Sprachen von Geburt an bzw. vor dem zweiten Geburtstag erwirbt. Der simultane Erwerb muss jedoch nicht auf zwei Sprachen begrenzt sein, z.B. kann die Mutter Rumänisch, der Vater Französisch mit dem Kind sprechen, die Umgebungssprache der Familie ist jedoch Deutsch und wird z.B. in Krabbelgruppen und auf dem Spielplatz gesprochen (trilingualer Erwerb) (Montanari 2014 für einen Einblick in verschiedene Modelle mehrsprachiger Familien).
Abb. 1: Spracherwerbstypen in Anlehnung an Müller et al. 2007; Rothweiler 2007; Rösch 2011 (in Geist 2013: 10)
Abzugrenzen ist der L2-Erwerb andererseits vom gesteuerten Fremdspracherwerb (s. Abb. 1): Kinder mit DaE und DaZ erwerben das Deutsche weitgehend ohne direkte Steuerung. Auch wenn sie beispielsweise für einige Stunden pro Woche an einer Sprachförderung teilnehmen oder in den ersten Monaten in einer gesonderten DaZ- oder Vorbereitungsklasse beschult werden, ist dieser Unterricht bzw. diese Förderung hinsichtlich ihres Anteils am gesamten Input und ihrer Strukturiertheit nicht vergleichbar mit dem Fremdsprachenunterricht. Da aber die Entwicklung einer eigenständigen DaZ-Didaktik für Seiteneinsteiger noch in den Kinderschuhen steckt (jedoch u.a. Feldmeier 2015, Khakpour/Schramm 2016, zu Seiteneinsteigern u.a. Mavruk/Wiethoff 2015, Maak 2014), wird in DaZ-Klassen derzeit häufig auf fremdsprachendidaktische Elemente zurückgegriffen.
Studien zum Spracherwerb stützen die Unterscheidung zwischen dem frühen und späten Zweitspracherwerb:
Viele Kinder, die bis zum Alter von vier oder fünf Jahren mit dem Erwerb einer zweiten Sprache beginnen, scheinen den Spracherwerb problemlos zu vollziehen, während ältere Kinder und Jugendliche länger brauchen. Je später der Erwerbsbeginn liegt, umso mehr gleicht der Zweitspracherwerb dem Zweitspracherwerb Erwachsener. (Rothweiler 2007: 122)
Gründe für den offenbar problemlosen frühen Erwerb von Phonologie, Syntax und Verbmorphologie in der L2 werden darin gesehen, dass den Kindern mit Erwerbsbeginn vor dem fünften Lebensjahr Spracherwerbsmechanismen noch zur Verfügung stehen (Meisel 2009). Teils läuft der Erwerb damit sogar schneller ab als der Erstspracherwerb, weil sie auf bereits entwickelte kognitive Fähigkeiten und Weltwissen sowie Kenntnisse in der L1 zurückgreifen können (Rothweiler 2007: 122). Jedoch sind abhängig vom Erwerbsbeginn auch qualitative Abweichungen und Einflüsse der Erstsprachen, die sich beispielsweise in einer Auslassung von Artikeln in der Nominalphrase zeigen können, erwartbar (z.B. Rothweiler 2016).
Neben dem Alter bei Erwerbsbeginn stellt die Kontaktdauer, die angibt, wie lange ein Lerner bereits Zugang zur L2 hatte, ein wichtiges Charakteristikum dar. Gleichaltrige Kinder verfügen, abhängig von der Kontaktdauer, über unterschiedlich weit entwickelte sprachliche Fähigkeiten (z.B. Grimm/Schulz 2012, Geist 2017a). Faktoren, die sich auf den scheinbar ‚problemlosen‘ Vollzug des frühen Zweitspracherwerbs negativ auswirken können, sind neben dem Zeitpunkt des Erwerbsbeginns und der Kontaktdauer auch die Qualität des Inputs (Rothweiler 2007), die bislang selten Forschungsgegenstand war (zur Sprache pädagogischer Fachkräfte u.a. Müller et al.