Deutsch als Zweitsprache. Barbara Geist
und Jugendlichen lässt sich mit der obigen Grafik (Abb. 1) natürlich nicht abbilden. Diese Vielfalt ist möglicherweise auch ein Grund dafür, dass es der Deutschdidaktik nur sehr schleppend gelingt, sich auf die Bedürfnisse mehrsprachiger SuS einzustellen: Während der L1-Erwerb z.B. mit Blick auf die Grammatik aufgrund der erwähnten Spracherwerbsmechanismen qualitativ sehr ähnlich verläuft, wirken sich im L2-Erwerb weitere Faktoren aus, deren Zusammenspiel zu verschiedenen Erwerbsverläufen führt. Wir wollen, um die Bandbreite zumindest anzudeuten, hier drei Fallbeispiele mit ihren Ausgangsbedingungen vorstellen, auf deren besondere Kompetenzen und Bedürfnisse wir im Lauf der folgenden Kapitel immer wieder zurückkommen werden.
EBRU1 ist ein zehnjähriges Mädchen, das in Deutschland geboren wurde und momentan die 4. Klasse einer Regelschule besucht. Ihre Erst- und Familiensprache ist Türkisch, Deutsch lernt sie als frühe L2 seit dem Eintritt in den Kindergarten im Alter von 3;6 (Jahre; Monate). Seit dem ersten Schuljahr besucht sie auch den muttersprachlichen Türkischunterricht – somit kann sie nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich in zwei Sprachen kommunizieren. In ihren mündlichen Fähigkeiten im Deutschen unterscheidet sich EBRU auf den ersten Blick kaum von gleichaltrigen einsprachigen Kindern, was beeindruckend ist, wenn man ihre um dreieinhalb Jahre kürzere Kontaktdauer zum Deutschen bedenkt. Bei einem Blick auf schriftliche Produkte fallen jedoch hin und wieder Schwierigkeiten (z.B. bei der Markierung von Akkusativ und Dativ in der Nominalgruppe) auf. Ihr großes mehrsprachiges Potential kommt im Regelunterricht ebenso wie im Türkischunterricht nicht zur Geltung, da beide Unterrichtsformen zwar in einer Schule angeboten werden, jedoch nicht zu gemeinsamen Lernerlebnissen führen.
CLAUDIU (7;8) stammt aus Rumänien und ist durch die Arbeitsmigration seiner Eltern im Alter von 6 Jahren nach Deutschland gekommen. Er wurde zunächst für ein Jahr in eine Vorbereitungsklasse aufgenommen und besucht nun seit einigen Monaten den Regelunterricht einer 2. Klasse. In seinem ersten Jahr in Deutschland hat CLAUDIU mit ‚Siebenmeilenstiefeln‘ die deutsche Sprache erworben. Er kann sich umgangssprachlich verständigen und hat gleichzeitig mit dem Lese- und Schreiberwerb begonnen. Nach wie vor hat er sprachliche Schwierigkeiten, die ihn teilweise daran hindern, dem Unterricht zu folgen; Kapazitäten für einen weiteren Förderunterricht stehen an der Schule allerdings nicht zur Verfügung. Weil kein muttersprachlicher Unterricht angeboten wird, lernt CLAUDIU das Lesen und Schreiben ausschließlich in seiner L2.
KARIM ist 17 Jahre alt, er kam als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling vor einem Jahr nach Deutschland. In seinem Herkunftsland Afghanistan hat er die neunjährige allgemeinbildende Schule besucht; dabei hat er sprachliche Kompetenzen in mündlicher und schriftlicher Form nicht nur in seiner L1 Dari, sondern auch in der Fremdsprache Englisch erworben. Momentan besucht er die 9. Klasse einer Werkrealschule. KARIM hat in den vergangenen 12 Monaten bereits einige Spezifika der deutschen Sprache erworben, allerdings qualitativ in einem anderen Verlauf als CLAUDIU. Er hat ebenfalls teilweise noch Schwierigkeiten, dem Unterricht in sprachlicher Hinsicht zu folgen. Andererseits ist er in einigen Bereichen (vor allem im Englischen, aber auch in den naturwissenschaftlichen Fächern) seinen Klassenkameraden weit voraus.
1.4 Gemeinsamer Unterricht
Die Sprachdidaktik untersucht, welche Lerngegenstände im Deutschunterricht mit welchen Zielsetzungen und auf welche Weise mit den SuS bearbeitet werden können. Außerdem entwickelt und erprobt sie dafür geeignete Konzeptionen und Methoden. Ihr ist die sprachliche Heterogenität der Schülerschaft nicht fremd, beschäftigt sie sich doch zunehmend mit dem Anspruch eines gemeinsamen Unterrichts, der den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen Rechnung trägt. Dennoch ist die Sprachdidaktik noch weit davon entfernt, die Anwesenheit ein- und mehrsprachiger SuS immer mitzudenken – sie mithin als den Normalfall (s. 1.2) anzusehen.
In Einführungen in die Sprachdidaktik ist inzwischen (beinahe) immer ein Kapitel zu DaZ-Didaktik und/oder Mehrsprachigkeit enthalten – das ist erfreulich. Allerdings handelt es sich eben meist um ein additives Thema. Einführungen in die DaZ-Didaktik untermauern das Nebeneinander von Erst- und Zweitsprachdidaktik, und auch dieses Buch vereint Erst- und Zweitsprachdidaktik noch nicht völlig, obwohl dies dringend notwendig wäre. Jedoch stellen wir uns der Herausforderung, die Konzeptionen je Arbeitsgebiet stets im gemeinsamen Unterricht zu denken. Selbstverständlich sind Differenzierung und Individualisierung im gemeinsamen Unterricht unabdingbar, jedoch gilt es, das gemeinsame Lernen als übergeordnetes Ziel im Blick zu behalten (Baurmann/Müller 2016). Gemeinsamer Unterricht bedeutet nicht nur, in einer Klassengemeinschaft räumlich gesehen gemeinsam zu lernen, sondern durch gemeinsame Lernerlebnisse das Potential einer heterogenen und eben auch mehrsprachigen Lerngruppe zum Vorteil erwachsen zu lassen (Lengyel 2016). Dies setzt eine konzeptionell und ressourcenorientiert solide Basis voraus (Baurmann/Müller 2016: 7). Es gilt, für alle SuS ein Gerüst zu bauen, damit sie am gemeinsamen Unterricht aktiv partizipieren können. Diese Mammutaufgabe wollen wir Lehrkräften mit dem vorliegenden Buch erleichtern. Wir verstehen es als einen Beitrag zur sprachdidaktischen Diskussion, der sprachliche Heterogenität nicht nur am Rande behandelt, sondern den Sprachunterricht in multilingualen Klassen theoretisch und fachdidaktisch fundiert.
1.5 Aufbau des Buches
Wir orientieren uns an den fünf wesentlichen Arbeitsgebieten des Sprachunterrichts, die für alle Schulformen gelten (Tab. 1).
Im Unterschied zu den Bildungsstandards der KMK betrachten wir im Arbeitsgebiet Schreiben die Bereiche Texte schreiben und Richtig schreiben getrennt. Des Weiteren fokussieren wir aus sprachdidaktischer Perspektive das Lesen und lassen Aspekte des literarischen und medialen Lernens hier außen vor (s. hierzu ausführlich Rösch 2017). Es werden so aus inhaltlichen Gründen Bereiche getrennt, die im Unterricht zusammengehören. Besonders deutlich wird das im Schriftspracherwerb, der den Lese- und Schreiberwerb (sowohl Richtig schreiben als auch Texte schreiben) umfasst.
Jedes Kapitel beginnt mit einem Beispiel und einer Einleitung zum Arbeitsgebiet. Es folgt eine Einführung in die fachlichen Grundlagen, bevor die besondere Lernausgangslage von SuS mit DaZ verdeutlicht wird. Ausgehend davon werden sprachdidaktische Konzeptionen vorgestellt und ihre Eignung für mehrsprachige Lerngruppen reflektiert. Jedes Kapitel endet mit einem Einblick in die Herausforderung des Erhebens von Fähigkeiten sowie der Leistungsbeurteilung. Es folgen abschließend jeweils einige weiterführende Literaturhinweise und Aufgaben zum Arbeitsgebiet. Lösungsvorschläge zu den Aufgaben sind abrufbar unter www.meta.narr.de/9783823383390/Loesungen.pdf.
1.6 Aufgabe
Setzen Sie sich mit Ihrer Mehrsprachigkeit auseinander: Wie viele Sprachen (inkl. Dialekte, Ethnolekte) haben Sie bereits erworben oder gelernt? Wie gesteuert oder ungesteuert war dieser Erst-/Zweit-/Fremdspracherwerb? Was begeistert Sie an anderen Sprachen? Was fällt Ihnen beim Sprachenlernen schwer?
1.7 Weiterführende Literaturhinweise
Eine Diskussion grundsätzlicher Fragen zu Mehrsprachigkeit und mehrfachem Spracherwerb findet sich bei Tracy (2011). Mehr zum Thema Herkunftssprachen und zur Sprachverwendung kann z. B. bei Brehmer / Mehlhorn (2018) nachgelesen werden. Einführungen in das Thema Deutsch als Zweitsprache bieten u. a. Harr et al. (2018), Rösch (2011) und Jeuk (2013). Spezifisch sprachdidaktische Überlegungen mit einem besonderen Fokus auf SuS mit DaZ sind bei Michalak / Kuchenreuther (Hrsg., 2012), Kalkavan-Aydɪn (Hrsg., 2015 und 2018, hier speziell für die Sekundarstufe I und II) und Rösch (2017) zusammengestellt.
2 Sprechen und Zuhören
„also <H> ist groß weil das <<leiser werdend>Substantiv> ist?“
Diesen Beitrag leistet Zainal (elf Jahre alt), eine Schülerin mit DaZ, die (ebenso wie CLAUDIU) erst seit 13 Monaten in Deutschland lebt und die 4. Klasse einer Grundschule besucht, in einem „Rechtschreibgespräch“ (u.a. Leßmann 2014) mit zwei Klassenkameradinnen, die ebenfalls DaZ erwerben, zu dem schwierigen Wort Handtaschendiebstahl. In dieser kurzen Äußerung wird bereits deutlich, wie umfangreich Zainals sprachliche