tali dignus amico. Vicente Flores Militello
In fünf anaphorischen Relativsätzen präsentiert der Sprecher eine Liste der negativen Eigenschaften von typischen clientes (21‑25), die vor allem in den Bereich der luxuria gehören. Der Sprecher bleibt durch seine Kommentierung präsent, statt das Wort etwa an den patronus abzugeben; damit kann er auch über den dives amicus sprechen, der nämlich über diese vitia seiner clientes ein negatives Urteil fällen darf, obwohl er selbst solchen vitia verfallen ist. Aber er darf die vitia ausüben, weil er die Mittel dazu hat. Es geht hier also nicht um allgemeingültige moralische Werturteile, sondern um die materiellen und gesellschaftlichen Grenzen des Verhaltens (vgl. contendere noli, 28; desine mecum | certare, 30f.; arta decet sanum comitem toga, 30). Gleichzeitig fordert der Sprecher damit den cliens aber auf, sich in den patronus hineinzuversetzen: Ein parasitisches Benehmen stelle eine stultitia dar, die eigentlich nur dem Klienten schadet; es verursacht die Aversion des Patrons und richtet den Klienten zugrunde. Dies fasst der Sprecher mit dem Eutrapelus-Beispiel zusammen (31‑36): Selbst ohne prosopographische Identifizierung12 ist im horazischen Eutrapelus die Figur des callidus patronus zu erkennen, welcher sich über seine schmeichlerischen, schmarotzerhaften clientes lustig macht, wie schon Porphyrio notiert.13 Eutrapelus machte dem cliens ein kostbares Geschenk – scheinbar als eine gute Handlung, deren Absicht jedoch durch den Erzählerkommentar entlarvt wird (er will dem cliens schaden). Der Mechanismus, den das Geschenk auslöst, wird mit psychologischer Weitsicht schon am Anfang des vitia-Katalogs beschrieben: gloria super vires et vestit et ungit (21): Statt ein honestum officium zu übernehmen (34f.), also cliens zu bleiben, verfällt der reich Beschenkte in hochmütiges und unangemessenes Verhalten, so dass er seinen wirtschaftlichen Zusammenbruch und seinen sozialen Abstieg selbst verursacht (35f.).
Dass für den Sprecher decus also ein zentrales Element im patronus-cliens-Verhältnis ist, wird evident. Daher führt er nun einen für den angehenden (Dichter-)Klienten zu empfehlenden Verhaltensregelkatalog ein (37‑103). Wichtig ist, dass der Lehrvortrag an Lollius zwar die Sicht der patroni verdeutlicht, aber nicht von einem patronus vorgetragen wird, sondern von einem Sprecher, der selbst ein cliens und amicus ist. Er steht damit auf derselben sozialen Stufe wie der Belehrte und darf seine Autorität aus der Erfahrung und dem Erfolg im Umgang mit patroni beanspruchen, indem er die „Tugendforderungen“ (Krebs 2002, 90ff. spricht sogar von einem „Dekalog“) konkretisierend veranschaulichen kann.
Inhaltlich lässt sich der Katalog folgendermaßen zusammenfassen: a) Im ersten Teil (37‑40) empfiehlt der Sprecher drei Verhaltensregeln: Vertrauenswürdigkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung bei eigenen Vorlieben zugunsten der Interessen des patronus.14 Letzteres erläutert er anhand eines Vergleichs mit dem mythischen Beispiel des Brüderpaars Zethos und Amphion (41‑48): Habe Amphion mit dem Spielen der Lyra aufgehört, um dem Bruder zu helfen,15 so solle der Dichterklient seine carmina zur Seite legen, wenn der potens amicus etwa jagen gehen möchte. Dies fasst der Sprecher prägnant in der Sentenz zusammen: tu cede potentis amici | lenibus imperiis (44f.). Nach einem längeren Exkurs, der humorvoll römische virtus bei der Jagd und körperlicher Ertüchtigung als Aufmunterung für den (offenbar als Dichter an körperlicher Aktivität wenig interessierten) Adressaten präsentiert (41‑66), setzt der Sprecher b) als monitor im zweiten Teil des Katalogs seine Veranschaulichung der Forderungen fort (67), indem er die Vertrauenswürdigkeit behandelt. Dabei warnt er seinen Adressaten vor den negativen Folgen ungünstiger Beziehungen zu Personen außerhalb des Verhältnisses zum Gönner (68‑85): Er empfiehlt folglich wiederum Diskretion sowie das Vermeiden von percontatores und garruli sowie schließlich von erotischen Avancen gegenüber den pueri und puellae des Gönners (68‑75). Auch von persönlichen Empfehlungen wird abgeraten, denn diese könnten zu unangenehmen Situationen führen – gegebenenfalls seien falsche Empfehlungen also zu bekennen, um die eigene Verlässlichkeit dem Patron gegenüber zu zeigen (78‑85). c) Im letzten Teil empfiehlt der Sprecher schließlich, sich der Stimmung des potens amicus anzupassen, um Erfolg zu genießen (85‑95). Dies wird als besondere Herausforderung beim Umwerben eines mächtigen Freundes dargestellt, die höchste Disziplin abverlangt. Dabei greift Horaz nicht nur sprichwörtlich auf Pindars γλυκὺ δὲ πόλεμος ἀπειροίσιν (Frg. 110 SM) zurück,16 sondern definiert ein solches „Umwerben“ ausdrücklich als cultura potentis amici (epist. 1,18,86‑88):Horazepist. 1,18,86 88
dulcis inexpertis cultura potentis amici:
expertus metuet. tu, dum tua navis in alto est,
hoc age, ne mutata retrorsum te ferat aura.
Hier wird cultura semantisch auf eine innovative Weise eingesetzt.17 Denn tatsächlich ist in der römischen Literatur nur an dieser Stelle das Substantiv cultura im Sinne von cura hominum (so der TLL 4,1323,40 s.v. cultura) zu finden: Das Pflegen der Beziehung zu mächtigen Freunden wird als offensichtliche Umdeutung aus dem Bereich des Ackerbaus für das Verhältnis zwischen Patronen bzw. Gönnern und (Dichter-)Klienten eingesetzt.18 Während es bei Pindar der Krieg (πόλεμος) ist, der Angst macht, so stellt Horaz das Pflegen (cultura) des Verhältnisses zu einem mächtigen Gönner als furchterregend dar.19 Bemerkenswert ist, dass Horaz gerade an dieser Stelle nicht von amicitia spricht, sondern von cultura … amici. Dies zeigt, dass es sich dabei natürlich nicht um eine aufrichtige amicitia in einem philosophischen Sinne handelt,20 sondern das komplexe und vielschichtige Abhängigkeitsverhältnis zu einem Gönner intendiert wird, das zwischen wahrer und utilitaristischer Freundschaft sowie offener clientela schwankt.21 Diese Komplexität bezieht der Sprecher hier aber nicht nur auf die bisher dargestellten Punkte im Verhaltensregelkatalog, sondern sie wird vor allem in der Schwierigkeit erklärt, sich dem Temperament und der Stimmung des Patrons anzupassen, ja sich willfährig zu zeigen, ohne dabei als scurra oder als asper Anstoß zu erregen (89‑95)22 – wer darin aber die Andeutung vonseiten des Horaz-Sprechers erkennen will, dieser nehme den Verlust der inneren Freiheit in Kauf, um Profit aus der cultura potentis amici zu ziehen, lässt m.E. die Tatsache unbeachtet, dass eine solche Stimmungsanpassung erst dann erfolgt, wenn der angehende Klient eine philosophische Selbsterkenntnis gewonnen hat, wie die letzten Verse der Epistel klar darlegen (vgl. v.a. das se sibi amicum reddere in 10123). Denn aus der eigenen Erfahrung beteuert der Sprecher, dass die für eine solche Tätigkeit nötige innere Ruhe nur in der Philosophie zu finden sei, ohne welche diese cultura keinesfalls erfolgreich durchgeführt werden könne.
Dafür stellt also die eigene philosophische Einstellung die Voraussetzung dar, wie der Horaz-Sprecher am selbst erlebten Beispiel zeigt (96‑103). Dabei geht es nicht um absolute Wahrheit oder um eine fixe Regel, sondern um Entscheidungsprozesse, die jeder selbst mit Hilfe der Philosophie durchlaufen muss. Gefragt wird nach einem traducere leniter aevum, d.h. nach einer vita beata, die nur durch Selbsterkenntnis erreicht werden kann.24 Jeder müsse also selbst entscheiden, meint der Horaz-Sprecher, was ihn glücklich mache und wo die virtus liege. Negative Motive aus den Versen 21‑25, die auf avaritia und luxuria