Die normative Kraft des Decorum. Sophia Vallbracht

Die normative Kraft des Decorum - Sophia Vallbracht


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des höchsten Guts“48.

      Für Thomasius ist die individuelle Glückseligkeit des einzelnen Menschen jedoch untrennbar mit derjenigen der ganzen Gemeinschaft verknüpft.49 Das eine bedingt das andere: So sei die eigene Glückseligkeit eine Phantasie, wenn „sie mit der Unglückseligkeit der meisten verknüpffet ist.“ Die Glückseligkeit aller ist das große Ziel, dem die drei Prinzipien von justum, honestum und decorum dienen und nach welchen sich der Weise in seinem Leben orientiert (Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. I, 6, 32). Das decorum ist daher eine besondere Klasse von „Gut“ und eine Norm für sich: Es ist nicht wie das justum als äußerlich durchsetzbare Form von Recht oder wie das honestum als innerlich verankerte Form von Recht und Moral zu sehen, sondern ist nach Thomasius zwischen den beiden genannten Normen dasjenige, welches die mittleren Übel beschränkt und nach Grunert „ein Faktor sozialer Produktivität“50 ist. Bei Thomasius nimmt das decorum beim chronologischen Erlernen dieser Trias die Mitte51 zwischen justum und honestum ein, handelt von den moralisch neutralen Mitteldingen (ἀδιάφορα) und analog zu Cicero schließt es das honestum, rectum und justum als Teilaspekte von Seelentugenden mit ein (vgl. Abbildung 1).

      Trotz einer imperativisch und positiv formulierten Charakterisierung und prominenten Stellung des decorum als Norm und Ethik, die vom Menschen eine vorbildliche Handlung und Verhaltensweise fordert52, gibt es letztlich keine Grundregel für das decorum im Leben, aber durch geschärftes iudicium und aufmerksame Beobachtung kann das situativ-ephemere decorum erlernt werden:

      [...] [S]o kan man auch das decorum durch unbetrügliche Grund-Regeln nicht erlernen/sondern es gehöret eine continuirliche und genaue Auffmerckung und zwar auff die geringsten Kleinigkeiten dazu/weil das decorum alle Tage sich ändert/und an allen Orten anders ist. [...] So kann es dann nicht fehlen/weil ein Ehrgeiziger stets auff den Unterscheid der geringsten Dinge in dem gegenwärtigen decoro (denn das vergangene oder das studium antiquitatis hilfft ihn hierbey wenig) Achtung giebet/er sein judicium dadurch uberaus exerciren und schärffen müsse.53

      Aufgrund von Thomasius’ Korrekturen und Ergänzungen zu den decorum-Ausführungen und Unterscheidungen seiner Vorgänger, wie Pufendorf und Velthuysen, und an seinen eigenen Ausführungen zur „Wohlanständigkeit“ oder „Manierlichkeit“, wie Manfred Beetz detailliert für die Zeit zwischen den Jahren 1689 und 171054 nachgewiesen hat, gilt Thomasius als „Decorumsytematiker“ und „Lehrer konkreter Soziabilität und Conduite“.55 In seinem Spätwerk Cautelae circa praecognita jurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani (1710), das sich im 15. Hauptstück dem decorum als der „Wissenschafft der Wohlanständigkeit“ widmet, findet sich auch schließlich seine Unterscheidung der zwei Arten des decorum: das decorum des natürlichen Rechtes (decorum juris naturae) und das politische decorum (decorum politicum).

      Das decorum juris naturae ist Teil des natürlichen Rechts und geht von der grundlegenden Gleichheit aller Menschen („ex communi hominum omnium aequalitate deducitur56) aus. Aus diesem Grund ist das decorum des natürlichen Rechts als natürliche Wohlanständigkeit mit nur wenigen Ausnahmen im Gegensatz zum politischen decorum fast immer unveränderlich.57

      So verwundert nicht, dass Thomasius das politische decorum in den Cautelae ausführlicher beschreibt und dieses auch in Bezug zum Christentum setzt. Das politische decorum wird in den Cautelae XV, 10 als Lehre „höfflicher Sitten“ und wie man sich Freunde zu machen hat, definiert. Außerdem gehören als Spezifikum zu dem politischen decorum die Mitteldinge („actiones indifferentes“ in den Cautelae XV, 20). Im Unterscheid zum decorum juris naturae setzt das politische decorum die soziale Ungleichheit der Menschen voraus, weil es von den Standesunterscheiden („inaequalitatem hominum“) der Menschen ausgeht.58 Daraus resultiert bei Thomasius das Desiderat von Stände-decori, denn jeder soziale Status fordert ein anderes decorum: „[T]ot esse variantis decori species, quot sunt status variantes.“59 Das Verhalten eines Menschen wird gemäß seines Standes und sozialen Status in den Cautelae XV, 57 bestimmt: Einem höher Stehenden solle man eine anständige Hochachtung und Ehrerbietung zeigen, einem Menschen vom selben Stand solle man freundlich und höflich begegnen und mit einem Menschen von einem unteren Stande solle man leutselig und bescheiden umgehen. Wie bereits konstatiert, mangelt es einer genauen Regelbeschreibung für das jeweilige politische decorum, doch die gesunde Vernunft („recta ratio“) gilt stattdessen als Richtschnur für das decorum („decori communis regula“).60 Diese verschiedenen decora bedingen die Veränderlichkeit des politischen decorum: Je nach Völkern, Landschaften, Städten und Gesellschaften kann das decorum variieren.61 Diese Variation resultiert zum einen aus den sozialen Rangunterscheiden, ist aber auch bedingt durch die „zeitliche und situative Konstanz“62.

      Das Prinzip des politischen decorum zeigt sich darin, dass der Mensch seine natürlichen und zufälligen Mängel vor seinen Mitmenschen verbirgt und keinen Ekel durch sein Handeln erregt.63 Diese Art des politischen decorum ist am besten zu erfassen und beobachten, wenn das eigene Tun durch Nachahmung („quod sit imitatio rationalis“) derjenigen Menschen des je eigenen Standes, die als vortrefflich und vorbildlich gelten, bestimmt wird, und die Regeln des justum, honestum und decorum nicht verletzt werden.64 Interessant ist hier die pragmatische Formulierung „Nachahmung von Menschen, die als vorbildlich gelten“, nicht notwendigerweise von Menschen, die vorbildlich sind. Der Anschein von Vortrefflichkeit reicht für das politische decorum allem Anschein nach für Thomasius aus.

      Thomasius’ „Wissenschaft der Wohlanständigkeit“, die die moralische Beschaffenheit des menschlichen Handelns (Cautelae XV, 9) zum Thema hat und zwischen dem wahren decorum (decorum verum) und einem Scheindecorum (decorum apparens) unterscheidet (Cautelae XV, 14), berührt sich auch mit dem Christentum. Trotz des scheinbaren „Widerstandes“65 gegenüber Standesunterschieden und den daraus resultierenden verschiedenen decora – die zunächst scheinbar schwerlich mit dem christlichen Gesetz der Brüderlichkeit und Gleichheit zu vereinen sind – steht die Lehre vom politischen decorum nicht im Gegensatz zum Christentum: „Tantum vero abest, ut decorum politicum repugnet doctrinae Christi“66. Ganz im Gegenteil: Thomasius führt Beispiele für das politische decorum an, die zu finden und aufmerksam zu studieren seien: Christus strafe den Pharisäer nur leicht, als dieser ihm nicht die Füße wäscht, was ihm eigentlich das politische decorum als wohlanständige Tat und als Verhalten gemäß der Sitten der Juden gebiete.67 Dies ist Thomasius’ Hinweis dafür, dass das Christentum dem Christen und jedem Menschen rate, nach seinem jeweiligen Stande das politische decorum zu beachten und diese Kautelen, die Thomasius in diesem 15. Hauptstücke vorgestellt hat, zu berücksichtigen.68

      In den oben besprochenen Werken von Christian Thomasius hat die Angemessenheit durchaus eine besondere Relevanz für seine Theorie. Nach Frederick Barnard ist der Begriff des decorum bei Thomasius mit demjenigen der „Rechtmässigkeit“ und Rechenschaft eng verbunden und beschreibt eine moralische und legale Dimension menschlichen Verhaltens, ohne jedoch eine strikte moralische Kategorie für Thomasius zu sein.69 Das decorum in der Konzeption von Christian Thomasius ist nach Barnard als ziviles Ethos für Gesellschaft und Politik zu sehen.

      Zwar wird bei Thomasius, wie Till und Braungart gezeigt haben, eine paradigmatische Umstellung des decorum und der Affektenlehre, von der Rhetorik auf die Anthropologie vorgenommen, doch zeugen seine Beschäftigung mit dem decorum und seine Forderung und Beschreibung einer „Wissenschaft der Wohlanständigkeit“ von einem Desiderat für Gesellschaft und Wissenschaft im 17. Jahrhundert. So lässt sich auch eine Vielzahl zeitgenössischer Autoren nennen, die sich dem decorum als sozialem Regulativ widmen: Cumberland, Velthuysen, Pufendorf, Jungendres, Amthor oder Mencke70, um nur einige zu nennen. In der Neuordnung der Gelehrtenrepublik, die eine Aufwertung der Nationalsprache und deren Akzeptabilität und Angemessenheit71 in Poetik und Rhetorik, Hofberedsamkeit, Patriziat und Beamtenaristokratie zur Folge hat, ist der Bedarf an einem Verhaltensmaßstab jenseits von Recht und Moral offensichtlich.

      2 Zur Etymologie von Decorum


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