Die normative Kraft des Decorum. Sophia Vallbracht
in das System der Rhetorik folgt nicht.27 Das Desiderat wird jedoch formuliert: Es solle ein wahrhaftes Konzept de Decoro und in Abhängigkeit von demselben auch ein Konzept de Pudore (Kapitel 13, S. 34) erarbeitet werden. Insgesamt werden 24 verschiedene Aspekte des decorum als mögliche Forschungsfelder angeführt, die von den zuerst genannten de fundamento decori, dem Unterscheid zwischen decorum und justum/decorum und utili und dem Decorum pro bono vero & apparente über die verschiedenen Arten des decorum, von pudor als Verletzung des decorum bis hin zu den zuletzt genannten Themen des decorum im Reden und im Handeln reichen. Anhand dieser hierarchischen Reihenfolge, die das decorum im Reden weit hinten platziert, wird seine Einordnung des decorum in die philosophia practica als einer lebenswichtigen Norm im höflichen Umgang der ständischen Sozietät und nicht als eine bloß rhetorisch-ästhetische Lehre des Stiles untermauert.28
Thomasius’ generelle Rhetorik-Kritik, in die später auch Friedrich Andreas Hallbauer (1725)29 einstimmen sollte, hat den Zweck, eine vortreffliche „Oratorie“ auf den Weg zu bringen, die erst nach dem Studium der Philosophie, der Grammatik und der Poesie in den Schulen gelehrt werden soll.30 Thomasius schreibt: „Ehe ich weiter gehe/sehe ich wohl zuvor/daß ihrer viele mir für einen defect zweiffels ohne anrechnen werden/wenn ich die Oratorie, ehe ich ad Philosophiam practicam schreite/so vorbey passiren solte. Aber ich bin der beständigen Meynung/daß man besser thue/wenn man diese Disciplin etwas weiter hinaus sparet.“31 Denn er will weg von der pedantischen Schulrhetorik, hin zu einer Rhetorik, die sich auf den Orator als selbst denkenden Menschen mit Verstand und freiem Willen32 fokussiert. Der Akzent verschiebt sich auf den sprechenden Menschen und seine Affekte.33
Für Christian Thomasius ist das decorum ein wahrhaftiges und notwendiges Gut; es ist die Bedingung, um in der vita civili sozial reüssieren zu können und notwendig geworden aufgrund der Abgrenzung der Stände und dem menschlichen Drang nach Geselligkeit. Um in dieser Gemeinschaft jeden Stand und jedem Menschen die ihm gebührende Ehrbezeugung angedeihen zu lassen, bedarf es des decorum.34 Doch Thomasius geht sogar noch weiter, wenn er das decorum nicht nur als ein soziales Gut definiert, sondern es als Gut über die gewöhnlichen Klassen und so neben Gott stellt:
Also siehest du/daß wir alles bißhero einzeln erzehletes Gute unter die gewöhnlichen Classen gebracht haben/biß auff Gott und das Decorum, die sich nach der gemeinen Beschreibung nicht füglich zu einer von derselben setzen lassen. Was das Decorum betrifft/daran hat bißhero niemand gedacht/was es für ein Gut sey/obgleich alle Philosophi darinnen wider die Cynicos einig gewesen/daß über die Tugend noch etwas anders sey/das man in gemeinen Leben und Wandel als eine Richtschnur in acht nehmen müsse.35
Die Bedeutung des thomasischen decorum kann nicht überschätzt werden, ist es für ihn doch „die Seele der menschlichen Gesellschaften“, die von Gott als Lehre den Menschen gegeben und wozu sie von ihm befähigt worden sind.36 So prangert er in der Einleitung zur Sittenlehre I, 125-126 die Indifferenz der Menschen gegenüber dem decorum an, die lediglich Gesundheit, Weisheit und Tugend als edle und notwendige, jedoch Freiheit, Ehre, Reichtum, Freunde und das decorum als nicht notwendige Güter ansehen. Hier ist zu unterscheiden zwischen zwei Ursachen der notwendigen Güter:
1 weil sie zum menschlichen Wesen gehören (necessaria absolutè)
2 weil die menschliche Gesellschaft ihrer bedarf, da sie selbst nicht vollkommen, sondern korrupt ist (necessaria ex hypothesi status corrupti societas civilis).
Ein sozialer Aufstieg innerhalb dieses filigranen Geflechts sozialer Umstände, Ungleichheiten und intellektueller Fähigkeiten kann nur mit Hilfe des decorum gelingen, wodurch es wiederum als ein notwendiges Gut bestimmt wird.37
Um Thomasius’ scheinbar widersprüchliche Aussagen über das decorum, zum einen als notwendiges Gut besonderer Klasse und zum anderen als bloße Zier des Menschen, – erreichbar ohne großen Aufwand, welche jedoch nichts zum Glück eines Menschen beiträgt38 –, zu verstehen, muss auf sein Verständnis von Naturrecht eingegangen werden.
Thomasius trennt die Sittlichkeit vom Recht: Während die Sittlichkeit der Gemeinschaft und dem Menschen immanent ist, ist das Recht kein notwendig immanenter Bestandteil von Gemeinschaft, denn es gibt auch Gemeinschaften ohne Recht, wie Diktaturen oder Sekten. Mit dieser Trennung löst Thomasius das Recht aus dem religiösen Bezugsrahmen und stellt es auf die drei Grundsäulen, die Recht und Ethik bestimmen: Justum, honestum und decorum. Dennoch wäre es falsch, ihm hierbei eine Abneigung gegen das Christentum39 zu unterstellen, denn für Thomasius ist das Naturrecht ein von Gott gegebenes Recht, das den Menschen befähigt, mittels der Vernunft das Rechte zu erkennen und das Recht in der Gemeinschaft durch Gesetze zu realisieren und zu leben. Thomasius unterscheidet das Naturrecht (jus naturae) als vernünftige Ratschläge im Sinne moralphilosophischer Überlegungen vom positiven Recht als staatlich gesetztem Recht: „Hüte dich demnach/daß du nicht meinest/als wenn das natürliche und gegebene/das göttliche und menschliche Gesetze Arten von einerley Natur wären: Das natürliche und göttliche Gesetze gehöret mehr zu denen Rathschlägen/als zu denen Herrschaften; das menschliche Gesetze in dem eigentlichen Verstande genommen wird nur von der Norm der Herrschafft gesaget.“40
Um auch moralische Gebote neben dem im positiven Recht verankerten justum durchsetzen zu können, bedarf es eines Naturrechtsbegriffes, der auch das honestum und decorum beinhaltet.41 Insofern könnte man justum, honestum und decorum auch als drei verschiedene Ethiken auffassen, nach denen es gilt, sein Leben in rechter Weise zu leben. Sie sind Ratschläge (consilium) und Leitlinien, wie der Mensch mit seinen Mitmenschen umzugehen hat und auf Grund derer er entsprechende Gegenreaktionen zu erwarten hat. Ziel und Zweck dieser drei Grundprinzipien des Rechts und der Ethik nach Thomasius ist die Glückseligkeit im Leben. Doch ist diese nicht automatisch durch die Einhaltung einer dieser drei Normen zu erlangen: „Es ist aber deswegen das Decorum kein nothwendig Stücke der Gemüths-Ruhe wenn es nur nicht mit Vorsaß und aus blosser Liebe zur Singularität unterlassen wird.“42 Glückseligkeit besteht nicht im Genuss von Gütern, sondern in der Gemütsruhe und ihrer Erhaltung im Leben.43 Diese Ruhe muss mithilfe normierender Prinzipien und qua „gesunder Vernunft“ (Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. I, 1, 90) erst erarbeitet werden, indem jene die Okkupation des freien Willens als „Begierde im Herzen“ (Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. I, 1, 34) überwinden.
So zeigt sich auch das Wesen des decorum erst im Tun: Es kann sich in dreifacher Ausprägung zeigen, tugendhaft, lasterhaft oder indifferent sein.44 Der Mensch darf keine „offenbahre Singularität“ oder „Liebe zur bestialität“ (II, 108) aufweisen, dies bedeutet, dass er nicht egoistisch leben oder wie eine „Bestie“ schändlich handeln darf. Es ist zu unterscheiden zwischen einem Menschen, dem das decorum fehlt und demjenigen, der „indecenter vivit“.45 Nur demjenigen, der „indecenter vivit“, wird abgesprochen, je die Glückseligkeit in seinem Leben erreichen zu können. Dies bedeutet, dass ein Mensch, der das decorum erkannt hat und sich dennoch – wider die Vernunft – dazu entschlossen hat, nicht gemäß dem decorum zu leben, kein Lebensglück wird erfahren können. Ein Handeln wider besseres Wissen und Vermögen schließt Erlangung von Glückseligkeit im Leben für Thomasius aus. Die Sittenlehre garantiert deshalb ein Leben in Glückseligkeit. Thomasius definiert sie „als eine Lehre/die den Menschen unterweiset/worinnen seine wahre und höchste Glückseligkeit bestehe/wie er dieselbe erlangen/und die Hindernissen/so durch ihn selbst verursachet werden/ablegen und überwinden solle.“46 „Glückseligkeit“ wird in seiner Einleitung zur Sittenlehre II, 4 als „das wahre Gut des Menschen“ definiert. Erst gegen Ende des zweiten Hauptstückes (II, 123-126), tituliert Von der grösten Glückseligkeit des Menschen, werden die konstitutiven Teile der Gemütsruhe als „Güter der Seele“ (Einleitung zur Sittenlehre II, 124) angeführt: Weisheit und Tugend. Die Weisheit reinigt den Verstand, so dass der Mensch die „wahre Glückseeligkeit der Gemüths-Ruhe erkennet/und dadurch den Willen disponiret“. Die Tugend wiederum erstrebt die Gemütsruhe und erhält diese durch tugendhafte Taten. Diese Teile der wahren Gemütsruhe zu erkennen und nicht Scheingüter zu erstreben oder egoistisch zu leben, ist die conditio sine qua non für das eigene Lebensglück.47