Der Aufstieg der Ultra-Läufer. Adharanand Finn
Läufern war ich bei weitem der Langsamste auf der Etappe. Wir starteten bei Sonnenuntergang – wie eine Jagdgesellschaft, die hinter den anderen her hetzt – doch bald war ich abgeschlagen und alleine. Ich verbrachte Stunden damit, im Scheinwerferlicht des Wagens zu laufen, der hinter dem allerletzten Läufer herfährt. Es war richtig ärgerlich, das Auto die ganze Zeit hinter mir zu hören, wie es die Stille der Wüste durchbrach, aber immerhin half es mir dabei, weiterzulaufen.
Irgendwann begann ich die ersten Läufer der langsameren Gruppe einzuholen, doch zu diesem Zeitpunkt bewegte ich mich bereits kaum schneller voran als sie. Wir unterhielten uns, als ich für eine Weile neben ihnen herging. Danach nahm ich wieder alle meine Kraft zusammen und lief ein Stück weiter.
Je später es wurde, desto mehr ging ich, als ich lief. Ich musste mir immer wieder von neuem überlegen, wie lange ich da draußen sein würde. Erst fünf Stunden. Dann sechs. Dann sieben. Würde ich es überhaupt bis ins Ziel schaffen? Ich blieb einige Male stehen, schaltete meine Kopflampe ab und betrachtete den funkelnden Sternenhimmel über mir. Hier war ich nun, ein winziges Wesen, ganz allein am Rande eines Planeten, der sich durch das All bewegte. Es schien lächerlich, mir über meine Position im Rennen Gedanken zu machen. Wen interessierte es denn schon, wie langsam ich lief? Niemanden, stellte ich erleichtert fest. Nicht einmal mich selbst. Ich könnte weiterhin nur gehen und den prachtvollen Anblick des sich immer weiter ausdehnenden Universums genießen.
Aber wenn ich mich nicht etwas zusammenreißen würde, wäre ich die ganze Nacht hier draußen. Also versuchte ich wieder weiter zu traben. Ich konnte das Wasser hören, wie es in meiner Trinkflasche hin und her schwappte, und verfiel schließlich in eine Art Trance, in der ich meine Schritte und meine Atmung dem Geräusch des Wassers anpasste, ähnlich dem Rhythmus eines Trommelschlags. Alles, was ich sah, war der Lichtkegel vor mir, ein Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels. Ich lief weiter ins Licht, weiter und weiter, platsch, platsch, platsch.
Irgendwann hatte ich es dann doch geschafft. Ein Marathon in sieben Stunden und 34 Minuten. Einige Monate zuvor war ich einen Straßenmarathon in unter drei Stunden gelaufen. Das war ein ordentlicher Rückschlag. Mein Rennen, als Wettkämpfer, als Top 20 Mann, war vorbei. Ich war in ein dunkles Loch gefallen, doch ich hatte überlebt. Ich war im Ziel. Und das war alles was zählte zu dem Zeitpunkt. Bis zum nächsten Morgen. Inzwischen war es ein Uhr nachts. Der Start der nächsten Etappe, die letzte des Rennens, war nur mehr acht Stunden entfernt. Ich brauchte jetzt meinen Schlaf.
Ich humpelte durch das stille Lager. In dieser Nacht war ich die letzte Person zurück in Zelt 2. Mein einziger Wunsch war es, nur mehr in meinen Schlafsack hineinzukriechen, doch ich konnte mich kaum bücken und meine Schuhe ausziehen. So stand ich also da und starrte hinein in das dunkle Zelt voll mit schlafenden Körpern und kam mir vor wie ein laufender Zombie. Obwohl sie schon in ihre Schlafsäcke eingehüllt im Bett lagen, bemerkten mich Rob und Dino und standen auf, um mir zu helfen. Rob mixte ein Getränk zusammen, das mich wieder auf die Beine bringen sollte, während Dino mir meine Schuhbänder aufschnürte. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Auch sie hatten sich durch die Nacht gequält. Es brauchte auch keine Worte, wir hatten alle das Gleiche durchgemacht. Die Qualen der vergangenen Etappe waren an unseren Gesichtern abzulesen.
Rob hatte mir ein T-Shirt geliehen – das Meinige war noch komplett durchgeschwitzt – und ich wollte es mir gerade etwas bequemer machen, als wir einen markdurchdringenden Schrei hörten. Leute begannen zu schreien, größtenteils auf Italienisch, und Taschenlampen blitzten im ganzen Lager auf. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. So lag ich also da in meinem Schlafsack, noch immer mitgenommen von meinem Lauf, und betete, dass alles in Ordnung wäre.
Nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass sich ein Unglücksrabe, der sich zehn Stunden durch den Sand ins Ziel gequält hatte, auf einen Skorpion gesetzt hatte, nachdem er endlich in seinem Zelt angekommen war. Ich weiß nicht, ob ich mit so etwas fertig geworden wäre.
Die Ärzte waren glücklicherweise gleich zur Stelle, um ihn zu behandeln, und nach etwas Aufregung und Leuten, die im Mondlicht hin und herliefen, und irgendwo ein Lastwagen startete, war er versorgt und verbrachte die restliche Nacht im Erste-Hilfe-Zelt. Zu meinem Erstaunen stand er bereits ein paar Stunden später bei Sonnenaufgang mit dem Rest von uns wieder an der Startlinie.
Ich befand mich am Ende des Starterfelds, die Sonne schien bereits hell vom Himmel. Wie heißt es bei Shakespeare: „Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde!“ Doch ich war leer. Ein holländischer Läufer sagte mir am Ende des zweiten Tages, nachdem er aufgegeben hatte zu laufen und sich nur mehr gehend fortbewegte, dass „das Feuer erloschen war“. Sein Wunsch ein richtiges Rennen zu bestreiten, so schnell wie möglich das Ziel zu erreichen, war einfach gestorben. Ohne triftigen Grund weiter da draußen zu sein, ein Feuer in sich zu tragen, das einem hilft, sich weiter zu pushen, war es nur zu einfach, den Willen weiterzumachen zu verlieren. Nun wusste auch ich, was er damit gemeint hatte. Mein Feuer war ebenfalls erloschen. Nach weniger als 20 Schritten auf der letzten Etappe entschied ich, dass ich nicht mehr laufen konnte. Ich bewegte mich bereits nur mehr gehend fort. Mein Energiepegel war auf null. Meine Beine waren kaputt, meine zusammengeflickte Leiste schmerzte bei jedem Schritt. Und es lagen noch etwa 22,5 Kilometer lockerer Sand vor mir bis ins Ziel.
Es war der längste Gewaltmarsch meines Lebens. Jeder Schritt, auch wenn ich langsam ging, war eine Qual. Die Sonne stand hoch und brannte wie ein Hochofen herab. Immer wieder hielt ich an und setzte mich hin. Weswegen sollte ich mich denn beeilen, für mich war der Wettbewerb sowieso schon gelaufen. Doch das Ziel winkte mir zu. Das Meer. Unser Ziel lag am Meer. Ich stellte mir vor, wie ich fröhlich in den Fluten herumplantschte.
Irgendwo entlang dieser trostlosen Straße fanden mich dann auch Gudrun und Hansmartin. Und retteten mich.
Zurück im Lager, nachdem ich mich im Meer abgekühlt hatte, war die Atmosphäre eine andere. Die Leute waren glücklich, entspannt. Die Angespanntheit der vergangenen Tage, die sonst nach den Etappen herrschte, war wie weggeblasen. Das Rennen war gelaufen. Als wir da lagen, in unseren Schlafsäcken, und hinaus auf das Meer blickten, begannen wir wieder an Zuhause zu denken, an unsere Jobs, unser Leben in der Stadt, in Häusern. An das Leben jenseits der sengenden, unwirtlichen und alles verschlingenden Wüste. Täuschte ich mich oder schlich sich da gerade ein wenig Traurigkeit in die Freude und Erleichterung, das Rennen endlich beendet zu haben, mit ein?
Es stellte sich heraus, dass dieses Rennen hart war für einen ersten Ultra. Viele der Läufer waren bereits auch den Marathon des Sables gelaufen. Und viele von ihnen meinten, dass das Rennen hier mit seinem endlosen, lockeren Sand sogar härter gewesen wäre.
„Dagegen ist der Marathon des Sables geradezu ein Wellness Camp“, meinte Gudrun, die nun bereits beide Rennen bestritten hatte.
„Gegen Ende war das wie in den Alpen“, sagte Elisabet, die schwedische Läuferin. „Nur dass die Berge hier aus Sand bestehen.“ Wie sich herausstellte, hatte sie jede Etappe dieses Rennens für sich entscheiden können und durfte nun auch den Oman Desert Marathon in ihre stetig wachsende Siegesliste eintragen. Nachdem ich so viel zu kämpfen hatte bei diesem Rennen, erschien mir die Idee, bei solchen Rennen um den Sieg mitzulaufen, als eine komplett andere Welt. Es war eine elitäre Gruppe von vielleicht fünf Männern und Frauen, die sich jeden Tag auf den Weg machten, mit dem Gedanken, das Rennen gewinnen zu können, und bereit waren, alles dafür zu geben, sich Gedanken über ihre Konkurrenz zu machen und taktische Schachzüge zu planen. Der Rest von uns versuchte eigentlich nur, den Willen, das Rennen zu beenden, am Leben zu erhalten.
Zu Hause in England angekommen, musste ich immer wieder an den Reiz des Ultra-Marathons denken. Es war diese Abenteuerromantik, die mich anfangs so in ihren Bann gezogen hatte, die Wüste zu Fuß zu durchqueren. Aber es gibt viel einfachere Wege, die Pracht und Schönheit dieser Welt zu erleben. Auf dem Rücken von Kamelen zum Beispiel, oder Wanderungen. Das wäre doch genauso abenteuerlich, nur eben ohne die extremen Strapazen, dem andauernden Fluchen und stetigem Kampf. Und doch scheint es, als ob sich alle – inklusive mir – trotz all der Schmerzen, speziell während der Nachtetappe, nach dem Rennen glücklich und zufrieden fühlten. Ein stiller Frieden lag am Tag nach der letzten Etappe über dem Lager. Hatten wir plötzlich