Der Aufstieg der Ultra-Läufer. Adharanand Finn
Uns selbst so weit zu pushen, bis wir an einen Punkt kommen, an dem wir Angesicht zu Angesicht mit dem Teufel kämpfen, es aber schaffen, uns aufzurichten und ihn zu überwinden? Könnte ich dem Sturm entgegentreten – was auch immer da kommen möge – und ihn mithilfe meiner Willenskraft besiegen? Dieser Gedanke hat etwas Verlockendes. Weit weg von jenem Financial-Times-Journalisten, der sich darüber beschwert, dass sich sein Hotelbus verspätet.
Ich muss zugeben, all das schmeichelt meinem Ego sehr. Ich sehe mir gerade eine Dokumentation über die Evolution des Menschen und welche Rolle das Laufen darin gespielt hat an. Darin meint ein Professor für Anthropologie am Hunter College in New York: „Wir haben sogar Aufzeichnungen über Menschen, die 160 Kilometer in einem durchlaufen können.“ Sein Ton hört sich an, als wäre dies eigentlich unmöglich, als müssten das irgendwelche Supermenschen sein. Und ich ertappe mein Ego dabei, wie es arrogant über meine Schulter blickt und sagt: „Du könntest das auch.“
Wie es die US-Komikerin und Ultra-Läuferin Michelle Wolf in einem Interview mit dem Magazin Runner’s World schon sagte: „Es gibt dir irgendwie das Gefühl, richtig knallhart zu sein.“
Wenn ich mit anderen Ultra-Läufern spreche, habe ich jedoch den Eindruck, dass die Bewältigung einer solchen Aufgabe und es bis ins Ziel zu schaffen nicht die einzige Befriedigung ist, sondern auch dieses Gefühl selbstzerstörerischer Gleichgültigkeit, das sie verspüren, wenn sie in diesen Sturm eintreten und nahe am Abgrund entlangtaumeln. „Durch ein Tal von Schmerzen laufen“, wie es erfahrene Ultra-Läufer oft genüsslich beschreiben.
Während ich nach Rennen suche, an denen ich teilnehmen könnte, ertappe ich mich dabei, wie ich mir die Streckenprofile ansehe, und ich spüre, wie mir ganz mulmig wird. Es kommt mir so vor, als ob jedes Ultra-Rennen einen kurzen Film mit viel Dramatik produziert. Und jeder dieser Filme zeigt jemanden, der komplett erledigt aussieht, am Rande des Zusammenbruchs. Die Läufer gleichen eher Überlebenden einer Beinahe-Apokalypse als Athleten und Athletinnen. Es sagt schon etwas aus, dass genau diese Bilder verwendet werden, um das Rennen zu bewerben. Die Teilnehmer wollen diese Verzweiflung erleben, sie wollen so nahe wie möglich an ihre eigene Selbstzerstörung kommen.
Viele Ultra-Läufer sagen mir, sie hätten ihre Inspiration, mit diesem Sport zu beginnen, gefunden, nachdem sie Dean Karnazes erstes Buch Ultramarathon Man: Aus dem Leben eines 24-Stunden-Läufers gelesen hatten. Darin beschreibt er in allen Details, wie er in einem 160-km-Rennen langsam kaputtgeht, wie Körper und Geist nach und nach aufhören zu funktionieren, bis eigentlich nichts mehr geht und er die Straße buchstäblich auf Händen und Füßen entlangkriecht. Ich erschaudere, während ich das Buch lese. Solche Schmerzen will ich nicht empfinden. Doch es gibt Läufer, die sagen, dass sie das Buch gelesen hätten und dabei dachten: „Genau das will ich auch.“
Etwas ängstlich, doch mit einem Ego, das mir zuflüstert, ich wäre robust genug, beginne ich nach einem Rennen zu suchen, bei dem ich die volle Ultra-Marathon-Erfahrung machen könnte. Ein Rennen, das mich direkt ins Herz dieses wachsenden Sports brächte, das mir alle Geheimnisse offenbaren würde und es mir erlaubt zu verstehen, was da eigentlich vor sich geht.
Das Ganze ist ein riesiges, unüberschaubares Thema, das ich hier begreifen will. Ein Sport, der sich gleichzeitig in mehrere Richtungen entwickelt. Ohne zentralen Verband oder Dachorganisation streiten und kämpfen Rennveranstalter, Interessensgruppen und selbsternannte Wächter des Ultra-Laufs um Kontrolle und einen Anteil am Geld, das darin involviert ist. Das weite Feld des Ultra-Marathonsports ist wie der Wilde Westen: unbändig und entschlossen, verteidigt von vielen der Alteingesessenen gegen die Eingriffe von Marken und Außenstehenden – Personen, von denen sie der Meinung sind, dass sie die Mentalität des Sports nicht wirklich verstehen. Es ist dieser unbeschwerte „Raus-in-die-Wildnis“-Minimalismus, die Chance, sich da draußen in der Natur zu verlieren, die härtesten und extremsten Gegenden unseres Planeten mit nicht mehr als einer Flasche Wasser und einer Regenjacke zu durchqueren, das den Reiz dieses Sports für viele ausmacht.
Einige der routinierten Ultra-Läufer empfinden den Zustrom von Neulingen bereits als zu viel und sie beginnen den großen Rennen den Rücken zuzukehren, auf der Suche nach noch isolierteren Herausforderungen. Ein Ableger für all diejenigen, die Massenstarts und „Goody bags“ mehr verabscheuen, als die eine oder andere Nacht unterkühlt an einer gefrorenen Felswand zu verbringen, ist ein weiteres wachsendes Phänomen namens FKT (Fastest Known Times/Schnellste bekannte Zeit). Dabei läuft man einfach los, meist allein, um eine bestimmte, vordefinierte Route schneller als irgendjemand anderer (von dem man die Zeit weiß) zuvor zu bewältigen. Das kann von einem bis ans andere Ende Neuseelands sein, oder ein bekannter Wanderpfad, wie der Appalachian Trail in den Vereinigten Staaten. Oder der Weg hinauf zum Gipfel des Mount Everest.
Doch darüber werde ich später mehr herausfinden. Jetzt suche ich einmal nach Rennen. Das reicht fürs Erste für mich. Ich habe viele Rennen über die Jahre bestritten. Nun möchte ich einfach längere Strecken laufen, das ist alles.
Ein Wort, das man oft hört, wenn über Ultra-Marathons und Ultra-Rennen gesprochen wird, ist „laufbar“. Einige Rennen werden als laufbarer betrachtet als andere. Das heißt nun nicht unbedingt, dass man die ganze Strecke durchlaufen kann – außer man ist einer der Superstars des Sports – aber theoretisch ist der Weg recht eben und die Anstiege und Abwärtspassagen gut machbar, so dass man zumindest den Großteil der Strecke laufen kann. Es gibt aber immer wieder Athleten, die sich darüber beschweren, wenn Rennen zu laufbar sind. Diese Sportler bevorzugen das genaue Gegenteil – im Ultra-Jargon auch als „technische“ Rennen bezeichnet – wenn das Gefälle zu steil und der Boden zu uneben sind, um frei dahinzulaufen. Rennen, bei denen man bei jedem Schritt aufpassen muss, wohin man tritt, und manchmal auch die Hände benutzen muss, um weiterzukommen.
Ich tendiere definitiv mehr zu laufbar als zu technisch. Natürlich, auf den richtig schwierigen Abschnitten darf man schon einmal gehen und über ein paar Felsen klettern ist auch O. K., aber wenn ich das tue, möchte ich trotzdem auch laufen.
Die Welt des Ultra-Sports ist vergleichbar mit einem Baum mit vielen Ästen. Einer der ältesten Äste ist, zumindest in unseren Breitengraden, das Berglaufen. Solche Rennen können über die unterschiedlichsten Distanzen gehen, von ein paar Kilometern bis zu einer nach oben hin offenen Ultra-Distanz, und führen in der Regel über Berge sowie meist unmarkierte Routen, was wiederum ein wenig Navigationskenntnisse voraussetzt. Der erste überlieferte Berglauf fand im Jahre 1040 n. Chr. in Großbritannien statt, als König Malcolm Canmore von Schottland einen Lauf in Braemar, Aberdeenshire, veranstaltete, um den schnellsten Boten zu ermitteln.
Trotz seiner langen Geschichte ist der Berglauf ein recht isolierter Zweig im Ultra-Laufen. Seine regionalen Wurzeln sowie der recht nüchterne, ernsthafte Charakter sind Teil des Anreizes und werden vehement verteidigt. Ich würde es wirklich gerne einmal ausprobieren, doch wenn ich Ultra-Marathons laufen will, dann denke ich an etwas mehr Internationales und Allumfassendes. Genau an das, was für den Boom des Sports verantwortlich ist.
Ein anderer Zweig im Ultra-Sport und einer, der einen starken Teilnehmeranstieg verzeichnet, sind mehrtägige Etappenrennen, wie der Marathon des Sables, die meist an exotischen, unwirtlichen Orten stattfinden: in der Wüste, im Dschungel, am Polarkreis. Die Teilnahme an solchen Rennen ist sehr kostspielig und benötigt eine Menge Vorausplanung.
In einigen Teilen der Ultra-Welt herrscht eine starke Abneigung gegenüber manchen dieser Mehrtagesrennen. Diese Ablehnung basiert teilweise auf den Kosten und dem damit einhergehenden Hype solcher Rennen wie dem MdS. „Ein Urlaub für Vorstandsmitglieder“, meinte einmal ein Ultra-Läufer zu mir. Da ich selbst schon da draußen in der Wüste war, wusste ich, wie hart und zermürbend es ist, andererseits verbrachten wir einen guten Teil des Tages in unseren Zelten, um uns zu erholen. Und trotz meiner ungenügenden Vorbereitung konnte ich die meiste Zeit im Vorderfeld einigermaßen mitlaufen. Urlaub würde ich es also nicht gerade nennen, doch es gibt sicherlich noch härtere, herausforderndere Rennen da draußen.
Ein weiterer Ableger dieses Sports inkludiert eine ganze Palette von Rennen, die so hart und extrem sind, dass jedes davon eine eigene Kategorie darstellen könnte. Diese Rennen umfassen Rennen wie das Spine Race, das etwa 430 Kilometer entlang des Pennine Way im Norden Englands verläuft. Non-stop.