Nietzsche aus Frankreich. Jacques Derrida

Nietzsche aus Frankreich - Jacques  Derrida


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ihr wie einem Gesetz unterworfen zu sein; und wieder ein anderes, dieses Gesetz im Bild des Kreises zu formulieren.

      Das Streben nach Wahrheit ist uns als Trieb gegeben und dieser Trieb mit der Funktion des Bewußtseins vermischt; zu fragen, inwieweit das Streben nach Wahrheit dem Pathos und seinen Irrtümern einverleibt werden kann, würde also heißen, daß das Pathos etwas erzeugt, was es sich noch einverleiben muß. Und tatsächlich – wenn das Bewußtsein nur diesem Streben als seinem eigenen Trieb folgt, so wirkt es, im Namen der Wahrheit, auf seinen eigenen Ruin hin: was ist es, das einem derartigen triebhaften Streben nachgeht, dies Ding oder dieser Zustand, den das Bewußtsein unter dem Namen der Wahrheit am hellichten Tage als sein Ziel aufstellt? Was ist dieser Name der Wahrheit andres als das verkehrte Bild dessen, wovon dieses Streben selber das Bedürfnis war? Und auf diese Weise diesen letzten Trieb, Streben nach Wahrheit genannt, seinerseits umzukehren – dieses Streben des in seiner Gesamtheit ergriffenen Pathos –, das Bild dieses Strebens umzukehren, heißt das zu formulieren, was Nietzsche im folgenden Satz ausspricht: Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt. Das im Leben zuletzt aufgetretene Streben – das gefährliche Streben nach Wahrheit, wäre also bloß die Umkehrung des gesamten Pathos unter der Form des Ziels.

      Doch hier entdecken wir bei Nietzsche etwas Beunruhigendes: in welcher Absicht stellt er die Frage, inwieweit die Wahrheit ihre Einverleibung in die Lebensbedingungen verträgt, in welchem Sinn sagte er, daß dies triebhafte Streben nach Wahrheit wie die natürlichen Irrtümer lebenserhaltend geworden sei? Hat er die Frage nicht in den Begriffen des bewußten, aber herdenhaften Denkens gestellt, in den Begriffen des Bewußtseins, das sich notwendig ein Ziel setzt, und erfüllen sich nicht die Begriffe von Irrtum und Wahrheit, ihres Gehalts durch die herdenhafte Bedeutung schon beraubt, sogleich mit deren Gehalt?

      Welche Form müßte diese Erfahrung für den Philosophen oder den Denker oder den Weisen im Sinne Nietzsches annehmen, um gelehrt werden zu können? Wie wäre der Wille dazu zu bringen, gegen den Strich der bewußten Zweckmäßigkeit zu wollen, daß dies Wollen sich demjenigen zuwende, was es selbst als sein Wesentlichstes hat, als sein am wenigsten Mitteilbares, daß es sich selbst als sein Objekt nehme, sich selbst als zu sich selbst zurückgekehrtes Wollen der zu sich selbst zurückgekehrten Existenz begreift? Wäre es nicht nötig, das bewußte Denken wachzurufen und folglich die Sprache der Herde (in diesem Fall die des Positivismus) zu verwenden und den Begriff des Nutzens und des Ziels gegen allen Nutzen und gegen jedes Ziel gekehrt wiederaufzunehmen?

      Im rückblickenden Vorwort zur Fröhlichen Wissenschaft, das von 1886 datiert ist, lesen wir:

      »Incipit tragoedia – heißt es am Schlusse dieses bedenklichunbedenklichen Buches: man sei auf der Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel…«

      Was bedeutet, heißt es im ersten Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, was bedeutet das immer neue Erscheinen jener Stifter der Moralen und Religionen, jener Urheber des Kampfes um sittliche Schätzungen, jener Lehrer der Gewissensbisse und Religionskriege? Was bedeuten diese Helden auf dieser Bühne? … Es versteht sich von selber, daß auch diese Tragöden im Interesse der Art arbeiten, wenn sie auch glauben mögen, im Interesse Gottes und als Sendlinge Gottes zu arbeiten. Auch sie fördern das Leben der Gattung, indem sie den Glauben an das Leben fördern. »Es ist wert zu leben – so ruft ein jeder von ihnen –, es hat etwas auf sich mit diesem Leben, das Leben hat etwas hinter sich, unter sich, nehmt euch in acht!« Jener Trieb, welcher in den höchsten und gemeinsten Menschen gleichmäßig waltet, der Trieb der Arterhaltung, bricht von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor; er hat dann ein glänzendes Gefolge von Gründen um sich und will mit aller Gewalt vergessen machen, daß er im Grunde Trieb, Instinkt, Torheit, Grundlosigkeit ist. Das Leben soll geliebt werden, denn! Der Mensch soll sich und seinen Nächsten fördern, denn! Und wie alle diese Solls und Denns heißen und in Zukunft noch heißen mögen! Damit das, was notwendig und immer, von sich aus und ohne allen Zweck geschieht, von jetzt an auf einen Zweck hin getan erscheine und dem Menschen als Vernunft und letztes Gebot einleuchte – dazu tritt der ethische Lehrer auf, als der Lehrer vom Zweck des Daseins, dazu erfindet er ein zweites und anderes Dasein und hebt mittels seiner neuen Mechanik dieses alte gemeine Dasein aus seinen alten gemeinen Angeln…. Und Nietzsche schließt: nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und Notwendigkeiten der Arterhaltung! – Und folglich! Folglich! Folglich! Oh versteht ihr mich, meine Brüder? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe und Flut? Auch wir haben unsere Zeit!

      Wird nun Nietzsche seinerseits als ein neuer Lehrer vom Zwecke des Daseins die Szene betreten? Als ein neuer Lehrer der Moral? Sollte es nötig sein, die Überlegungen des bewußten zwecksetzenden Denkens für das zur Hilfe zu rufen, was wir als Wesentlichstes besitzen, wenn es darum geht, die Existenz ohne Zweck zu begreifen? Nietzsche bringt immer wieder eine Formel ins Spiel, die einen Imperativ zu implizieren scheint: den Willen zur Macht.

      Es gibt eine große Schwierigkeit: welche ist Nietzsches wahre Sprache? Ist es die seiner Erfahrung, die der Inspiration, die der Offenbarung oder diejenige der aufgegebenen Erfahrung, also die des Experiments? Und gibt es nicht eine Interferenz beider Sprachen immer dann, wenn sich die Begierde geltend macht, die nicht mitteilbare Erfahrung der ewigen Wiederkehr durch einen Beweis zu legitimieren, den sie sich selber entweder auf dem Niveau des wissenschaftlich verifizierbaren Kosmos gibt oder auf der moralischen Ebene durch die Herausarbeitung eines Imperativs, der geeignet ist, dem Wollen durch die Beziehung auf den Willen zur Macht zu gebieten? Kommt es so zu den zweifelhaften Hinweisen auf die Naturwissenschaft, die Biologie, nachdem sich seine fundamentale Erfahrung bereits auf völlig andere Weise in der Gestalt des Zarathustra ausgesprochen hat? Möglicherweise finden wir darin einen der Begriffe der Alternative, einen Aspekt des Widerspruchs in Nietzsche: die Erfahrung der Ewigkeit des Ich im ekstatischen Augenblick der ewigen Wiederkehr aller Dinge kann ebensowenig Gegenstand eines Experiments wie einer rational konstruierten Erklärung sein; ebensowenig wie diese unerklärliche und also nicht mitteilbare Erfahrung sich als ethischer Imperativ aufstellen läßt, der aus dem Erlebten ein Gewolltes und Wiedergewolltes macht, da die universelle Bewegung der ewigen Wiederkehr den Willen unfehlbar dazu leiten soll, im gewollten Augenblick zu wollen: als eine Erfahrung und also vollständig einer Kontemplation einverleibt, in der sich der Wille gänzlich in der auf sich selbst bezogenen Existenz absorbiert. Und zwar so sehr, daß der Wille zur Macht bloß Attribut der Existenz ist, die sich selbst so will, wie sie ist. Daher auch der oft zweifelhafte Charakter all derjenigen Sätze in den Fragmenten zur Umwertung der Werte, in denen der Wille zur Macht unabhängig vom Gesetz der ewigenWiederkehr behandelt wird, unabhängig von dieser Offenbarung, von der er unablösbar ist. Auf der Ebene der Erfahrung bleibt Nietzsche hinter Zarathustra also zurück, ist bloß noch der Lehrer einer Gegenmoral, die sich offenkundig deutlich ausspricht und deren ganzes Ansehen sich dem wagemutigen Versuch verdankt, das bewußte Denken zugunsten dessen zu gebrauchen, was keinen Zweck hat. Lehrer vom Zwecke des Daseins, damit beschäftigt, seinen Rückzug in ein Gebiet zu decken, in das er sich tatsächlich schon zurückgezogen hat – in diese Unsterblichkeit, an der er, wie er mehr als einmal sagt, gestorben ist und aus der er einzig im Taumel des Wahnsinns wiederkehrt, um zu bekunden, was er unter zwei verschiedenen Namen ist: Dionysos und der Gekreuzigte.

      Nach dem Satz: Die Wahrheit ist ein notwendiger Irrtum, finden wir diesen anderen Satz: Die Kunst ist ein der Wahrheit übergeordneter Wert, der die Schlußfolgerung derjenigen enthält, in denen ausgesprochen ist, daß die Kunst uns davor bewahrt, uns in den Abgrund der Wahrheit zu stürzen oder die Kunst uns vor der Wahrheit schützt; all diese Sätze haben den selben pragmatischen Charakter wie der voraufgehende Satz, daß die Wahrheit ein notwendiger Irrtum ist; in ihnen wird alles unter der Perspektive der Zweckdienlichkeit betrachtet.

      Sofern indessen der Irrtum formenschaffend ist, muß die Kunst selbstverständlich dasjenige Reich sein, in dem der gewollte Irrtum eine Spielregel begründet: ebenso wie es widersprüchlich wäre, eine praktische Anwendung der Wahrheit als Irrtum zu versuchen, ebenso klar ist es, daß


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