Gesammelte Werke. Sinclair Lewis

Gesammelte Werke - Sinclair Lewis


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halt' ich nicht viel. Ganz nett aussehender junger Bursch, aber dumm im Kopf. Steht da wie 'n Ochs auf 'nem Holzklotz. Na, er ist gut genug, um die Würmer in der Sonntagsschule zu unterrichten.«

      Bruder Gantry schüttelte reihum die Hände. Seine heiligende Priesterweihe – oder vielleicht war es auch der letzte Sommer, in dem er von Kanzel zu Kanzel gehüpft war – hatte ihn derart erleuchtet, daß er sie ebenso imponierend und brüderlich begrüßen konnte wie ein Nähmaschinenagent. Er drückte die Hände mit festem Griff, er sah alle betagteren Schwestern an, als ob er versucht wäre, ihnen einen heiligen Kuß zu geben, er sagte das Richtige über das Wetter, und zufällig, oder dank einer Eingebung, war es der säuerlichste Frömmler in der Provinz Boone, dem er einen mörderischen Text aus Maleachi zitierte.

      Während er an der Spitze seiner Herde durch das Kirchenschiff paradierte, keuchte er:

      »Hab' sie schon! Ich kann's ja, diese Bauernschädel aufwecken, wo alte Weiber wie Frank oder Carp nur endlos herumfaseln würden. Wie könnt' ich nur in der vergangenen Woche so kopfhängerisch sein und so – äh – so sinnlich? Wollen mal auf die Kanzel!«

      Sie blickten ihn aus harten, geraden Kirchenstühlen an, zottige Köpfe vor der braunen Wand und dem fichtenen Doppeltor, das geädert war, um Eiche vorzutäuschen; sie füllten erfreulich das Gebäude, und im Hintergrund standen scharrende junge Männer mit unrasierten Gesichtern und hellblauen Krawatten.

      Er empfand seine Gewalt über sie, während er den Chor »Die Kirche im Urwald« anstimmte.

      Sein Text war aus den Sprüchen: »Haß erreget Hader, aber Liebe deckt zu alle Übertretungen.«

      Er packte die Seitenwände der Kanzel mit seinen kräftigen Händen, blickte die Gemeinde finster an, entschloß sich aber dann doch, wohlwollend dreinzuschauen, und legte los:

      »Wie viele von uns, denke ich oft, mögen wohl im Hasten und Treiben des Alltagslebens Einhalt tun, um zu bedenken, daß wir in allem, was unser Höchstes und Bestes ist, nicht von unseren eigenen Bemühungen – und seien sie noch so tüchtig – geleitet werden, sondern von der Liebe? Was ist die Liebe – die göttliche Liebe, welche der – der große Sänger in den Sprüchen lehrt? Sie ist der Regenbogen, der nach der finsteren Wolke kommt. Sie ist der Morgenstern und sie ist auch der Abendstern, und diese beiden sind, wie ihr alle recht gut wißt, die strahlendsten Sterne, die wir kennen. Sie leuchtet über der Wiege des Kleinen, und wenn das Leben, ach, dahingegangen ist, um nicht wiederzukehren, findet man sie noch immer am stillen Grab. Was ist es, das alle großen Männer begeistert – seien sie nun Prediger oder Patrioten oder große Geschäftsleute? Was ist es, meine Brüder, denn die Liebe? Ah, sie erfüllt die Welt mit Melodien, mit solchen heiligen Melodien, wie wir eben zusammen eine gesungen haben, denn was ist Musik? Was, meine Freunde, ist Musik? Ah, was ist denn die Musik anderes als die Stimme der Liebe!«

      Er erklärte, daß Haß gemein wäre.

      Auf jeden Fall aber (den mehr ledernen und eifrigen Diakonen zuliebe, die vorne saßen) erlaubte er ihnen, alle Katholiken zu hassen, alle Menschen, die nicht an die Hölle und an die Taufe durch Untertauchen glaubten, und alle reichen Hypothekeninhaber, die sich an dem verführerischen Lächeln der Purpur- und Scharlachweiber letzten – deren jede in Seide gekleidet war und in ihrer ringgeschmückten Hand ein Rubinglas voll bösen Weines hielt.

      Er schloß, indem er seine Stimme zu einem mütterlichen Flüstern herabsenkte und ein ganz aus der Luft gegriffenes, doch höchst erbauliches Erlebnis mit einem sündigen alten Herrn erzählte, der auf seinem Schmerzenlager zugegeben hätte – auf Elmers Drängen – daß er unverzüglich bereuen müßte, es aber immer noch aufschieben wollte und schließlich inmitten seiner tugendsamen, gramzerrissenen Töchter gestorben und höchstwahrscheinlich direkt in die Hölle gefahren wäre.

      Als Elmer zur Tür hinuntergaloppiert war, um allen die Hand zu drücken, die nicht zur Sabbathschule zurückblieben, sagten tatsächlich sechzehn einzelne Zuhörer: »Bruder, das war eine sehr heilsame Predigt, und so zierlich gesprochen«; er schüttelte ihnen die Hände mit einer knabenhaften Dankbarkeit, die schön anzusehen war.

      Diakon Bains klopfte ihn auf die Schulter. »Einen so jungen Prediger hab' ich noch nie so schöne Lehren sprechen gehört, Bruder. Das ist meine Tochter Lulu.«

      Und sie war da, das Mädchen, nachdem er die ganze Zeit, seit er nach Mizpah gekommen war, ausgesehen hatte.

      Lulu Bains war ein grauweißes Kätzchen mit einem rosa Bändchen. Sie war ganz hinten in der Kirche gesessen, vom Ofen verborgen; er hatte sie nicht gesehen. Durstig blickte er zu ihr hinunter. Seine Freude darüber, daß er mit seiner Predigt so viel Beifall eingeheimst hatte, war nichts im Vergleich zu der Freude über die Aussicht, daß er sie bei seinen künftigen geistlichen Arbeiten in seiner Nähe haben würde. Das Leben war etwas Verlockendes und Schimmerndes, während er ihre Hand hielt und sich Mühe gab, den Klang seiner Stimme nicht zu aufdringlich zärtlich werden zu lassen. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Schwester Lulu.«

      Lulu war neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Sie leitete in der Sonntagsschule eine winzig kleine Klasse von zwölfjährigen Buben. Elmer hatte vorgehabt, sich aus der Sonntagsschule zu drücken, Frank Shallard die Verantwortung zu überlassen und sich ein Plätzchen zu suchen, wo er in Ruhe seine Zigarre rauchen könnte, aber angesichts dieser neuen geistlichen Entdeckung blieb er da, strahlte vor heiliger Billigung des guten Werks und war männlich und brüderlich zu den kleinen Jungen in Lulus Klasse.

      »Wenn ihr erwachsen und große Burschen werden wollt, richtige feste starke Kerls, dann hört euch nur an, was Miß Bains euch davon zu erzählen hat, wie Salomo seinen wundervollen großen alten Tempel erbaut hat«, sagte er ihnen sanft; und wenn sie sich in Schüchternheit wanden und kicherten, lächelte ihm doch Lulu zu … grauweißes Kätzchen mit süßen Kätzchenaugen … kleines weiches Kätzchen, das schnurrte: »O nein, Bruder Gantry, ich hab' ja solche Angst, daß ich mich kaum zu unterrichten trau'« … große Augen, die ihn in ihre Tiefen zogen, bis er sie lispeln hörte wie Engelsstimmen, Lerchen und ganze Orchester von Flöten.

      Als die Sonntagsschule aus war, könnt er sie nicht gehen lassen. Er mußte sie aufhalten –

      »Ach, Schwester Lulu, kommen Sie und sehen Sie sich die Draisine an, auf der Frank und ich – Bruder Shallard und ich – herausgekommen sind. Die ist so nett! Sie werden sich einfach totlachen!«

      Da die Sektionsrotte mindestens zehnmal in jeder Woche durch Schoenheim kam, dürften Draisinen nicht gerade überraschende Neuigkeiten für Lulu gewesen sein, aber sie trottete neben ihm einher, staunte nett und sang: »Ach, wirklich! Darauf sind Sie hergekommen? Nein, so was!«

      Sie schüttelte beiden freundlich die Hände. Voll Eifersucht meinte er, daß sie zu Frank ebenso nett wie zu ihm wäre.

      »Er sollte sich lieber in Acht nehmen und mir nicht mein Mädel verrückt machen!« dachte Elmer, als sie nach Babylon zurückpumpten.

      Er gratulierte Frank nicht zu der Überwindung seiner Angst vor dummen Bauernzuhörern (Frank hatte immer in der Stadt gelebt) und auch nicht dazu, daß er den Tempel Salomos nicht einfach zu etwas Fürchterlichem gemacht hatte, das aus einem »Ellen« genannten Material bestand, sondern zu einem wirklichen Heiligtum, in dem ein wirkender und fürchterlicher Gott hauste.

      3

      Zwei Sonntage hatte Elmer sich nun Mühe gegeben, auf Lulu nicht nur als tüchtiger junger Prophet, sondern auch als begehrenswerter Mann Eindruck zu machen. Immer waren zu viel Leute in der Nähe. Nur einmal hatte er sie allein. Damals gingen sie eine halbe Meile weit, um eine kranke alte Frau zu besuchen. Auf dem Weg hatte Lulu vor Verlegenheit neben ihm gebebt (grauweißes Kätzchen mit einem kleinen Hut aus weichem flaumigem Grau, den er gern gestreichelt hätte).

      »Sie langweilen sich wohl bei meinen Predigten zu Tod, nehm' ich an«, fischte er.

      »O nnnnein! Ich find' sie einfach wundervoll!«

      »Ja, wirklich?«

      »Wirklich, ja!«

      Er


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