Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
So nette Augen!«
»Huhu, junger Shallard, Sie haben also auch herumgeschnuppert!«
»Mein Gott, Gantry, Sie sind wirklich ein vollendetes Musterexemplar!«
6
Diakon und Mrs. Bains – er war ein freundlicher, energischer, wackerer Mann mit schwarzem Schnurrbart, sie eine dicke, kleine Person – legten es darauf an, Frank und Elmer gleichzeitig als Verkünder der heiligen Mysterien und als zwei hungrige Jungen zu behandeln, die in Mizpah kurz gehalten würden und heute abend alles nachholen sollten. Brathühner, Sahnenbraten, selbstgemachte Würste, Essiggurken und Fleischpasteten, in denen Elmer dankbar unerlaubten Brandy argwöhnte, waren nur ein Teil der kräftigen Tischarbeit, die von den jungen Propheten verlangt wurde. Mr. Bains brüllte dem angeschwollenen, unglücklichen Frank alle drei Minuten zu: »Unsinn, Unsinn, Bruder, Sie haben ja noch gar nicht angefangen zu essen! Was ist denn los mit Ihnen? Geben Sie Ihren Teller rüber, damit Ihnen noch was aufgelegt wird.«
Miß Baldwin, die alte Jungfer, zwei weitere Diakone mit ihren Frauen und ein junger Mann von einer benachbarten Farm, ein gewisser Floyd Naylor, waren da, und man erwartete von der Geistlichkeit auch, daß sie belehrend wirkte. Man nahm an, daß sie für kein anderes Thema als Theologie und die Kirche Interesse hätten, und zweitens, daß eine derartige Unterhaltung bei dem lustigen Geschäft, sich am Schlafen, Einspännerfahren und Essen zu erfreuen und doch in den Himmel zu kommen, wohltätig und heilsam wäre.
»Sagen Sie, Bruder Gantry«, erkundigte sich Mr. Bains, »was für eine Baptistenzeitung lesen Sie am liebsten daheim? Ich hab's eine Zeit lang mit dem Watchman Examiner probiert, aber mir scheint, daß der die Campbelliten nicht so runtermacht, wie er sollte, und auch den Katholiken nicht genug auf den Kopf gibt, wie's ein wirklich ernsthaftes christliches Blatt tun sollte. Jetzt hab' ich mit Word and Way angefangen. Das ist mal 'ne grundanständige Zeitung, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt, und wirklich fein geschrieben – gerade recht für mich. Die sagen einem schlankweg, wenn man nicht an die unbefleckte Empfängnis, an die Auferstehung des Fleisches und das Sühnopfer und die Taufe durch Untertauchen glaubt, dann kommt's gar nicht auf die sogenannten guten Werke und die Wohltätigkeit und so weiter an, weil man dann gerichtet ist und schnurstracks in die Hölle fahren muß, und in keine Scheinhölle, sondern ein richtiges gottsmiserables Marterbett aus anständigen Kohlen! Jawohl, mein Bester!«
»Ach hören Sie, Bruder Bains!« protestierte Frank Shallard. »Sie wollen doch nicht sagen, daß der Herr Jesus nicht eine einzige Menschenseele retten wird, die nicht orthodoxer Baptist wäre?«
»Also, ich behaupt' ja nicht, selbst das alles zu wissen, wie wenn ich ein unterrichteter Prediger war'. Aber ich denk' mir's so: O ja, vielleicht wenn einer nie Gelegenheit gehabt hat, das Licht zu sehen – sagen wir, er ist als Methodist oder Mormone erzogen worden und hat nie von einem richtigen waschechten Baptisten die ganze Wahrheit erklärt gehört, dann kann Gott ihm vielleicht vergeben, weil er unwissend war. Aber eins weiß ich ganz sicher: Alle die ›fortgeschrittenen Denker‹ und ›höheren Kritiker‹ kommen in das heißeste Loch in der Hölle! Was meinen Sie dazu, Bruder Gantry?«
»Persönlich neige ich sehr dazu, Ihnen zuzustimmen«, sagte Elmer gewichtig. »Aber wir können es getrost Gottes Barmherzigkeit überlassen, sich mit Wankenden, mit Feiglingen und Phrasendreschern, wie diesen sogenannten fortgeschrittenen Denkern, zu befassen. Wenn sie unsere Bemühungen, hier auf unserem Acker Seelen zu retten, hinterlistig durchkreuzen wollen, große Diskussionen und Debatten loslassen und überall mit dummen Spekulationen herumschusseln, die bei dem großen Werk, armen leidenden Seelen den Frieden zu bringen, auch nicht das geringste Gute stiften, ja, dann hab' ich zu viel zu tun, um meine Zeit an sie zu verschwenden, das ist alles, und es wär' mir auch ganz egal, wenn sie mich hörten und es wüßten! Tatsache, das ist das einzige Unglück mit Bruder Shallard hier – ich weiß, er trägt die Gnade Gottes im Herzen, aber er wird seine Zeit daran verschwenden, sich mit einer Menge von Lehren herumzuschlagen, wo doch alles in der Baptistentradition niedergelegt ist und man mehr nicht zu wissen braucht. Ich möchte, daß Sie darüber nachdenken, Frank –«
Elmer hatte sich erholt. Es machte ihm Freude, Blitzen zu trotzen, vorausgesetzt, daß die Blitze nicht gewaltiger waren als die, welche Frank zu schleudern imstande war. Er sah Frank in die Augen … Seit ihrem Gespräch im Schlafzimmer war vielleicht eine halbe Stunde vergangen.
Zweimal öffnete Frank den Mund und schloß ihn wieder. Dann war es zu spät. Diakon Bains überwältigte ihn schon mit der Wiedergeburt und mit Fleischpastete.
7
Lulu saß am anderen Ende des Tisches, Elmer war ziemlich erleichtert. Er verachtete Franks Schwäche, aber er war nie – wie bei Eddie Fislinger – sicher, was Frank tun oder sagen würde, und beschloß, auf der Hut zu sein. Ein- oder zweimal warf er Lulu einen vertraulichen Blick zu, aber alles, was er sagte (und er gab sich, um von Lulu bewundert zu werden, Mühe, es gelehrt und doch mannhaft klingen zu lassen) richtete er an Mr. Bains und die anderen Diakone.
›So!‹ reflektierte er. ›Jetzt muß der verdammte Idiot, der Shallard, sehen, daß ich nichts mit dem Kind vorhab' … Wenn er sich irgendwas ausrutschen läßt, zum Beispiel, was ich für Absichten mit ihr hab', werd' ich ganz einfach erstaunt sein, Mr. Frank Shallard seine Schlechtigkeit vorhalten und ihn mitsamt seinen dreckigen hinterlistigen Vermutungen zum Teufel schicken!‹
Aber: ›Herr Gott, ich muß sie haben!‹ rief alles von Ungestüm Flammende in den untersten Schichten seines Bewußtseins: darauf antwortete er lediglich mit einem vorsichtigen: ›Aufpassen! Achtgeben! Dekan Trosper würde dich fliegen lassen! Der alte Bains würde sein Schießeisen nehmen … Achtgeben! … Warten!‹
Erst eine Stunde nach dem Essen, als die anderen über den Maisröster gebeugt waren, fand er Gelegenheit ihr zuzuflüstern:
»Trauen Sie dem Shallard nicht! Er gibt sich als Freund von mir aus – ich dürft' ihm kein falsches Fünfcentstück anvertrauen, muß Ihnen von ihm erzählen. Ich muß! Passen Sie auf! Schleichen Sie herunter, wenn die anderen oben schlafen gegangen sind. Ich werd' hier sein. Sie müssen!«
»Oh, ich kann nicht! Cousine Adeline Baldwin schläft bei mir.«
»Gut! Tun Sie so, als ob Sie ins Bett gehen wollten – fangen Sie an und machen Sie Ihr Haar oder so was – und dann kommen Sie herunter nachschauen, ob das Feuer in Ordnung ist. Ja?«
»Vielleicht.«
»Sie müssen! Bitte! Liebe!«
»Vielleicht. Aber ich kann nur eine Sekunde bleiben.«
Höchst tugendhaft, höchst priesterlich: »Oh, selbstverständlich.«
Sie saßen alle nach dem Essen im Wohnzimmer. Die Bains' waren stolz darauf, gesellschaftlich so weit zu sein, daß sie ihre Abende nicht in der Eßküche verbrachten. Das Wohnzimmer hatte die Einfachheit eines neu-englischen Farmhauses; ein in schwachen Farben gestreifter Lappenteppich, ein wundervoller Patentschaukelstuhl mit korinthischen Knäufen und Drachenfüßen aus Messing, große Kreidedrucke, ein Tisch, auf dem Farm and Fireside und Modern Priscilla aufgehäuft lagen, und der ungeheure Band mit den Bildern von der Weltausstellung in Chicago. Es war kein Kamin da, der Ofen war ein lustiges Ungeheuer aus Nickel und Marienglas, mit einer herzigen Messingkrone, die goldener war als Gold, und mit einer Kette aus Glassaphiren, Glassmaragden und Glasrubinen um den glühenden Bauch.
Neben der schimmernden Gemütlichkeit des Ofens drehte Elmer seinen Geisteshahn auf und arbeitete darauf hin, entzückend zu sein.
»Jetzt dürft ihr mir aber heute abend kein Wort mehr von Kirchensachen reden! Jetzt will ich kein Prediger sein – ich will ganz einfach ein junger Mensch und auf der Weide übermütig sein, nach diesem herrlichen Essen, und ich erklär' feierlich, wenn ich nicht wüßte, daß sie eine tugendsame Mutter in Zion ist, würd' ich mit Mutter Bains tanzen – ich könnte wetten, daß sie ebenso nett ein Tanzbein schwingen kann wie irgendeine von den Kunsttänzerinnen im Theater!«
Und