Gesammelte Werke. Sinclair Lewis

Gesammelte Werke - Sinclair Lewis


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noch immer heimliche, neugierige Blicke auf gerundete Mädchenkörper warf. Aber das, versicherte er sich, geschah nur, weil er noch nicht »zur Vollkommenheit gelangt war«.

      Es gab Zweifel. Die Gewohnheit des alttestamentarischen Gottes, die blutige Niedermetzelung eines jeden zu verlangen, der ihm nicht schmeichelte, erschien ihm ziemlich antisozial, und er mußte darüber nachdenken, ob all die wollüstigen Worte im Hohenlied Salomos sich wirklich auf das Treueverhältnis zwischen Christus und der Kirche bezögen. Es schien so unähnlich den Tagungen der Oberlinkapelle und der Miller-Avenue-Baptistenkirche von Cleveland, Ohio. Sollte es möglich sein, daß Salomo vielleicht Beziehungen zwischen weltlicheren, frivoleren Geschöpfen meinte?

      Die Verstandeskräfte, die Frank hatte, widmete er nicht der Untersuchung der Heiligen Schrift, an der sein Zweifel vieles auszusetzen hatte, sondern der Untersuchung und Verscheuchung des Zweifels selbst. Für ihn war es ein Axiom, daß der Zweifel etwas Verruchtes sei, und er konnte sich einer ziemlich beträchtlichen Begabung für seine Zweifelaustreibung erfreuen. Er fand ein gutes Teil Selbstachtung und Vergnügen in den purpurverbrämten Doppeldeutigkeiten der Religion.

      Daß er Geistlicher werden sollte, war stets selbstverständlich gewesen. Er hatte keinen so deutlichen und ekstatischen Ruf wie Elmer erlebt, wußte aber seit jeher, daß er sich immer mit Theorien über die Eucharistie herumschlagen und den Menschen den Weg zu den auf keiner Karte verzeichneten Hochebenen weisen würde, die da heißen Gerechtigkeit, Idealismus, Ehrlichkeit, Aufopferung, Schönheit, Erlösung.

      Mit seinem flachsfarbenen Haar, der blühenden Hautfarbe, der schönen Nase, den braunen Hundeaugen und seiner aufrechten Haltung war Frank mit dreiundzwanzig Jahren, in seinem Seniorenjahr im Mizpah-Seminar, ein hübscher junger Mann.

      Er stand bei Dekan Trosper und dem Professor für Auslegung des Neuen Testaments in Gunst; seine Noten waren gut, sein Betragen respektvoll, er versäumte keine Vorlesung. Aber sein geliebter Meister unter den Lehrern war der stammelnde und strauchelnde Bruno Zechlin, dieser bärtige Advocatus der hebräischen Syntax, der im Geruch stand, ein Opfer des deutschen Biers und des deutschen Rationalismus zu sein, und Frank war der einzige Student unter seinen Altersgenossen, den Dr. Zechlin zu seinem Vertrauten erwählte.

      In Franks erstem Jahr in Mizpah verhielten Zechlin und er sich lediglich höflich gegeneinander; sie beobachteten einander, achteten einander und blieben einander fern. Frank empfand vor Dr. Zechlins Gelehrsamkeit Scheu, und schließlich war Zechlin es, der Freundschaft anbot. Er war ein einsamer Mann. Er war Junggeselle und verachtete alle Kollegen, die er nicht fürchtete. Einen ganz besonderen Abscheu hatte er davor, von aktiven, langbeinigen, brüllenden Predigern aus dem Urwald »Bruder Zechlin« genannt zu werden.

      Zu Beginn seines zweiten Jahrs in Mizpah klagte Frank einmal in der Exegesevorlesung: »Professor Zechlin, ich möchte Sie bitten, mir etwas anscheinend Widerspruchsvolles aus der Bibel zu erklären. Es heißt bei Johannes – irgendwo im ersten Kapitel, glaub' ich, steht es – ›Niemand hat je Gott gesehen‹, und dann wird bei Timotheus von Gott ausdrücklich gesagt, ›welchen kein Mensch gesehen hat, noch sehen kann‹, und doch haben in Exodus Vierundzwanzig Moses und mehr als siebzig andere ihn gesehen, mit Boden unter seinen Füßen, Isaias und Amos sagen, sie hätten ihn gesehen, und Gott richtete es eigens für Moses ein, daß er einen Teil von ihm sehen könnte, und auch da – Gott sagte zu Moses, niemand könnte es ertragen, sein Angesicht zu sehen, und am Leben bleiben, und doch hat Jakob tatsächlich mit Gott gerungen, ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen und trotzdem weitergelebt. Wirklich, Professor, ich suche nicht Zweifel zu erwecken, aber hier scheint doch ein Widerspruch zu stecken, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich die richtige Erklärung dafür finden könnte.«

      Dr. Zechlin sah ihn mit seltsam verwirrter Freude an. »Was verstehen Sie unter einer richtigen Erklärung, Shallard?«

      »Etwas, womit wir diese Dinge jungen Leuten, die davon gequält werden könnten, zu erklären imstande sind.«

      »Nun die Sache ist ziemlich kompliziert. Wenn Sie heute abend nach dem Essen in meine Wohnung kommen wollen, werde ich versuchen, es Ihnen klarzumachen.«

      Doch als Frank voll Schüchternheit seinen Besuch machte (Dr. Zechlin hatte übertrieben, als er von seiner »Wohnung« sprach, denn er hatte nur ein Studierzimmer, in dem überall Bücher herumlagen, mit einem Alkoven für das Bett, im Haus eines Osteopathen) versuchte er keineswegs, es klarzumachen. Er machte Andeutungen, um hinter Franks Ansichten über das Rauchen zu kommen, und gab ihm eine Zigarre; er begrub sich in einem muffigen Lehnstuhl und fragte:

      »Empfinden Sie überhaupt manchmal einen kleinen Zweifel über die buchstäbliche Auslegung unseres Alten Testaments, Shallard?«

      Sein Ton war freundlich, sehr verständnisvoll.

      »Ich weiß nicht. Ja, ich glaube. Ich nenne es nicht gern Zweifel –«

      »Warum nicht Zweifel? Zweifeln ist ein sehr gesundes Zeichen, insbesondere an jungen Menschen. Begreifen Sie nicht, daß Sie sonst den ganzen Unterricht ungekaut verschlingen würden, und sind Sie nicht auch der Meinung, daß kein menschlicher Lehrer immer recht haben kann?«

      So begann es – begann eine Unterredung, stets vorsichtig, immer offener werdend, die bis Mitternacht dauerte. Dr. Zechlin lieh ihm (unter Beschwörungen, die Bücher keinem einzigen Menschen zu zeigen) Renans »Jesus« und »Die Religion eines reifen Verstandes« von Coe.

      Frank kam wieder in Dr. Zechlins Zimmer, sie gingen spazieren, bummelten gemeinsam durch süßduftende Apfelgärten und merkten in ihrem Eifer, über die Bestimmung des Menschen und über die neidischen Götter, nicht einmal etwas vom Altweibersommer.

      Erst nach drei Monaten gestand Zechlin ein, daß er Agnostiker sei, und erst nach einem weiteren Monat, daß Atheist vielleicht eine angemessenere Bezeichnung für ihn wäre als Agnostiker.

      Schon bevor Zechlin seinen Doktor der Theologie gemacht hatte, war es ihm klar gewesen, daß es ebenso unmöglich sei, die Mythen des Christentums buchstäblich zu nehmen, wie die Mythen des Buddhismus. Doch viele Jahre lang hatte er seine Ketzereien rationalisiert. Diese Mythen, tröstete er sich, sind Symbole, welche die Herrlichkeit Gottes und die Führerschaft von Christi Genius darstellen. Er hatte eine zufriedenstellende Parabel zustande gebracht: Der Buchstabengläubige, sagte er, versichert, daß eine Fahne etwas Heiliges sei, etwas, wofür man sterben müßte, nicht symbolisch, sondern an sich. Der Ungläubige, am andern Ende der Stufenleiter, behauptet, die Fahne sei ein Fetzen aus Wolle, Seide oder Baumwolle, mit ziemlich unästhetischen Zeichen bedruckt, viel unnützer, deshalb auch weniger heilig und weniger romantisch als ein Hemd oder eine Bettdecke. Für den vorurteilsfreien Denker jedoch, für ihn selbst, sei sie ein Symbol, geheiligt einzig durch die Suggestion, deshalb aber um nichts weniger geheiligt.

      Nach nahezu zwei Dekaden wußte er, daß er sich selbst zum Narren gehalten hatte; daß er in Wirklichkeit Jesus nicht als alleinigen Führer bewunderte; daß die Lehren Jesu einander widersprächen und von früheren Rabbinern entlehnt seien; und daß die Lehren des Christentums, wenn sie passende Flaggen, Symbole, Philosophien für die meisten der herumschreienden Prediger seien, die er kennenlernte und verachtete, für ihn notwendigerweise die Flaggen, die Symbole des Feindes sein müßten.

      Jedoch, er blieb weiter Baptistengeistlicher und unterrichtete weiter junge Prediger.

      Das versuchte er Frank Shallard zu erklären, ohne daß er sich allzusehr zu schämen schien.

      Erstens, meinte er, sei es hart für jeden Menschen, besonders für einen fünfundsechzig Jahre alten Lehrer, der Philosophie untreu zu werden, die er sein ganzes Leben lang gelehrt hatte. Das ließe das Leben zu jämmerlich nutzlos erscheinen.

      Außerdem liebe er es ungemein, theologische Labyrinthe zu durchwandern.

      Und, gestand er ein, als sie einmal in der Winterdämmerung heimwärts stapften, er habe Angst, die Wahrheit zu bekennen, weil er unweigerlich seine Stellung verlieren würde.

      Er sei wohl ein Mann von Wissen, aber ein zu kläglicher Prediger, um von einer liberalen Religionsgesellschaft aufgenommen zu werden, ein zu schwerfälliger Schreiber, um sich dem Journalismus


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