Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
Inhaltsverzeichnis
1
Die Beziehungen zwischen Bruder Gantry und Bruder Shallard waren um die Weihnachtszeit nicht die glänzendsten, nicht einmal während des engen Beieinanderseins auf der Draisine.
Während sie sich nach der Kirche in Schoenheim auf der Strecke abmühten, klagte Frank:
»Hören Sie, Gantry, es muß etwas geschehen. Ich bin mit Ihnen und Lulu nicht zufrieden. Ich hab' euch dabei erwischt, wie ihr einander anseht. Außerdem hab' ich den Verdacht, daß Sie mit dem Dekan über Dr. Zechlin gesprochen haben. Ich fürchte, ich werde zum Dekan gehen müssen. Sie sind nicht geeignet ein Pastorat zu bekleiden.«
Elmer hörte auf zu pumpen, starrte vor sich hin, rieb sich die in Fäustlingen steckenden Hände an seinen Schenkeln und sagte ganz ruhig:
»Darauf hab' ich gewartet! Ich bin impulsiv – sicher; ich mach' böse Fehler – jedem Mann, der Blut in den Adern hat, geht's so. Aber wie steht's mit Ihnen? Ich weiß nicht, wie weit Sie in Ihren teuflischen Zweifeln gegangen sind, aber ich hab' gehört, wie vorsichtig zögernd Sie die Fragen in der Sonntagsschule beantworten, und weiß, daß Sie anfangen zu wanken. Sie werden recht bald ein Erzliberaler sein. Gott! Planen, die christliche Religion zu schwächen, kraftlosen, suchenden Seelen ihre einzige Hoffnung auf Erlösung zu stehlen! Der ärgste Mörder, den es je gegeben hat, ist kein solcher Verbrecher wie Sie!
»Das ist nicht wahr! Ich würde eher sterben als irgend jemand seinen Glauben nehmen, wenn er ihn nötig hat!«
»Dann haben Sie ganz einfach nicht genug Verstand, um zu wissen, was Sie tun, und keine christliche Kanzel hat Platz für Sie! Ich bin's, der zu Pop Trosper gehen und sich beschweren sollte! Erst heute, wie das Mädel zu Ihnen gekommen ist und darüber geklagt hat, daß ihr Pa die Familiengebete eingestellt hat, da haben Sie sich benommen, als ob nichts daran läge. Es ist möglich, daß Sie diese arme junge Dame auf die mit Zweifeln gepflasterte Straße geführt haben, die zur ewigen Hölle führt!«
Und den ganzen Weg nach Mizpah gab Frank sich Mühe und erklärte.
In Mizpah gestattete Elmer ihm huldvoll, auf sein Amt in Schoenheim zu verzichten, und gab ihm den Rat, zu bereuen und sich vom Heiligen Geist führen zu lassen, bevor er es je wieder mit einem Pastorat versuchen sollte.
Elmer saß in seinem Zimmer und flammte vor evangelistischem Triumph. Es war ihm so ernst damit, daß er sich erst nach einigen Minuten einfallen ließ, Frank bedeute jetzt in seinen Beziehungen zu Lulu Bains kein Hindernis mehr.
2
Bis zum März gelang es Elmer sehr oft, mit Lulu in ihrem Haus, in einem leerstehenden Holzschuppen oder in der Kirche zusammenzukommen. Aber er wurde ihres zutraulichen Geplappers müde. Sogar ihre Bewunderung begann ihn zu irritieren, weil sie immer von denselben Dingen auf dieselbe Weise schwärmte. In der Liebe war sie ebenso phantasielos. Sie küßte immer auf dieselbe Weise und erwartete immer auf dieselbe Weise geküßt zu werden. Schon vor dem März hatte er genug gehabt, aber sie war ihm so mit ganzer Seele ergeben, daß er darüber nachdachte, ob er nicht die Schoenheimer Kirche aufgeben müßte, um sie loszuwerden.
Er kam sich benachteiligt vor.
Kein Mensch konnte behaupten, daß er je unfreundlich zu Mädchen wäre oder sie verachtete, wie Jim Lefferts es zu tun pflegte. Er hatte Lulu sehr viel gelehrt, sie von ihren bäurischen Vorstellungen befreit, ihr gezeigt, wie man fromm sein und sich's doch gut gehen lassen könnte, wenn man die Sache nur richtig überlegte und einsähe, daß man wohl die höchsten Ideale lehren müßte, aber von keinem Menschen erwarten könnte, er solle jeden Tag strikte nach ihnen leben. Besonders wenn er jung sei. Und hatte er ihr nicht ein Armband geschenkt, das fünf gute Dollars kostete?
Aber sie war so eine vermaledeite dumme Gans. Nie konnte sie begreifen, daß ein Mann von einem gewissen Augenblick an mit den Liebespielen aufhören und seine nächste Sonntagspredigt vorbereiten oder sein verdammtes Griechisch büffeln wollte. Eigentlich, dachte er ärgerlich, hatte sie ihn enttäuscht. Er hatte sie für ein nettes, sicheres, ruhiges kleines Ding gehalten, das ja recht nett zum Spielen sein, ihn aber in Ruhe lassen würde, wenn er sich um ernsthaftere Dinge bekümmern müßte, und dann hatte sich herausgestellt, daß sie leidenschaftlich war. Sie wollte immer weiter geküßt und geküßt und geküßt werden, wenn es ihm schon über war. Ihre Lippen krochen immer herum, berührten seine Hand oder seine Wange, wenn er sprechen wollte.
Sie schickte ihm winselnde Briefchen nach Mizpah. Wenn jemand einen davon fände! Herr Gott! Sie schrieb ihm, sie lebe nur bis zu ihrem nächsten Beisammensein – legte es darauf an, ihn zu ärgern und seine Aufmerksamkeit abzulenken, wenn er Männerarbeit zu tun hatte. Sie himmelte mit ihren dummen, sanften, zärtlichen Augen die ganze Predigt hindurch zu ihm herauf – verpatzte ihm einfach den Stil. Er konnte es nicht mehr mit ihr aushalten, mußte sie loswerden.
Er tat es nur sehr ungern. Er war wirklich immer nett zu Mädchen gewesen – zu allen. Aber es war um ihretwillen ebensosehr wie seinetwegen. –
Er würde gemein zu ihr sein und ihr weh tun müssen.
3
Sie waren nach der Morgenandacht allein in der Schoenheimer Kirche. Sie hatte ihm an der Tür zugeflüstert: »Ich hab' was, was ich dir sagen muß.«
Er war erschrocken; er knurrte: »Wir sollten nicht so viel zusammen gesehen werden, aber – schleich zurück, wenn die anderen Leute gegangen sind.«
Er saß auf der vordersten Bank in der verlassenen Kirche und las, da er nichts Besseres hatte, Lieder, als sie hinter ihn schlich und ihn aufs Ohr küßte. Er fuhr auf.
»Du lieber Himmel, erschreck einen doch nicht so!« schnaubte er. »Also, was hast du mir alles zu sagen?«
Sie stammelte, war den Tränen nahe. »Ich dachte, es würde dir recht sein! Ich wollte nur ganz nah bei dir sein und dir sagen, daß ich dich lieb hab'!«
»Also, du guter Gott, du solltest dich wirklich nicht aufführen, als ob du schwanger wärst oder so was!«
»Elmer!« Sie war zu verletzt in ihrer heiteren Zärtlichkeit, zu empört in ihrem bäuerlichen Anstandsgefühl, um böse zu werden.
»Na ja, du benimmst dich ja genau so! Läßt mich hier warten, wenn ich in die Stadt zurück muß – wichtige Verabredung – und zwingst mich, ganz allein die Draisine zu bedienen! Ich wollte, du würdest dich nicht die ganze Zeit wie ein zehnjähriges Kind benehmen!«
»Elmer!«
»Ach, Elmer, Elmer, Elmer! Ist ja alles gut. Ich spiel' und mach' Witze ebenso gern wie sonst wer, aber dieses ganze – dieses ganze – die ganze Zeit.«
Sie eilte nach vorne, vor den Kirchenstuhl, kniete neben ihm nieder, ihre kindliche Hand auf seinem Knie, und plapperte in einer Kindersprache, die ihn wütend machte:
»Oh, so ein b'ummiger alter Bär! So ein b'ummiger alter Bär! So b'ummig mit Lulukins!«
»Lulukins! Himmel-Herrgott!«
»Aber, Elmer Gantry!« Es war die Sonntagsschullehrerin, die jetzt entsetzt war. Sie setzte sich auf ihre Knie.
»Lulukins! Von allem verdammten blöden Kindergeschwätz, das ich bis jetzt gehört hab', ist das der Gipfel. Das ist schlimmer als alles andere! Versuch doch um Gottes Willen wie ein menschliches Wesen zu sprechen! Und hock da nicht so herum. Wenn jemand hereinkommen sollte. Willst du mich denn absichtlich ruinieren? … Lulukins!«
Sie stand auf, mit gestrafften Fäusten. »Was hab' ich denn gemacht? Ich wollt' dir doch nicht weh tun! Oh, das wollt' ich nicht. Lieber! Bitte, verzeih mir! Ich bin doch nur reingekommen, um dich zu überraschen!«
»Hu! Überrascht hast du mich richtig!«
»Lieber!