Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
halbe Meile vor der Stadt, in einer Senkung zwischen Haselnußsträuchern und einem Bach, entdeckte sie ein Wanderlager: ein Verdeckwagen, ein Zelt, einige angepflockte Pferde. Ein breitschultriger Mann hockte auf seinen Absätzen und hielt eine Bratpfanne über ein Lagerfeuer. Er blickte zu ihr hinüber. Es war Miles Bjornstam.
»Nanu, nanu, was machen Sie hier draußen?« brüllte er. »Kommen Sie, essen Sie'n Stück Speck mit uns! Pete! He, Pete!«
Ein zerzauster Mensch kam hinter dem Verdeckwagen hervor.
»Pete, das ist die einzige wirklich anständige Frau in meiner vertrottelten Stadt. Kommen Sie, kriechen Sie rein und setzen Sie sich auf ein paar Minuten, Frau Kennicott. Ich drück' mich für den ganzen Sommer.«
Der rote Schwede stand taumelnd auf, rieb sich die steifgewordenen Knie, ging zum Drahtzaun hinüber und hielt die Stränge für sie auseinander. Ohne es zu wissen, lächelte sie ihm beim Durchsteigen zu. Ihr Kleid blieb an einer Spitze hängen. Sorgfältig löste er es los.
Neben diesem Mann im blauen Flanellhemd, den weiten Khakihosen, mit den ungleichen Hosenträgern und dem schäbigen Filzhut war sie ganz klein und zierlich.
Der mürrische Pete rückte einen umgekehrten Eimer für sie zurecht. Darauf saß sie, die Ellbogen auf den Knien. »Wohin gehen Sie«, fragte sie.
»Ich gehe für den ganzen Sommer weg, Pferde handeln.« Bjornstam lachte leise. Sein roter Schnurrbart funkelte in der Sonne. »Wir sind richtige Tramps und öffentliche Wohltäter. So 'ne Wanderung mach' ich immer wieder mal. Wir sind Roßtäuscher, wir kaufen die Gäule von einem Farmer und verkaufen sie an andere. Wir sind ehrlich – sehr oft. Wir haben's wunderschön. Wir lagern an der Straße. Ich wollt' Ihnen schon immer mal Adieu sagen, bevor ich abhau', aber – Hören Sie, kommen Sie doch mit uns mit.«
»Ich würd' es gern tun.«
»Während Sie mit Frau Lym Cass Kindereien treiben, wandern Pete und ich quer durch Dakota und durch die Bad Lands ins Hügelland, und wenn der Herbst kommt, werden wir vielleicht irgendeinen Paß im Dickhorngebirge übersteigen und im Schneesturm Lager machen, 'ne viertel Meile schnurgerade über einem See. Dann, am Morgen werden wir schön warm in unseren Decken liegen und durch die Fichten zu einem Adler hinaufschauen. Wie würd' Ihnen das gefallen? He? 'n Adler schwebt und schwebt den ganzen Tag – großer weiter Himmel –«
»Nicht! Oder ich komme mit Ihnen, und dann gibt's einen kleinen Skandal, fürchte ich. Vielleicht mach' ich's einmal. Adieu.«
Ihre Hand verschwand in seinem abgeschabten Lederhandschuh. Als sie auf die Straße kam, winkte sie ihm zu. Sie war jetzt ernster geworden, und sie war allein.
Aber der Weizen und das Gras waren im Sonnenuntergang glatter Samt, die Präriewolken waren bräunlich golden; und glücklich bog sie in die Hauptstraße ein.
2
In den ersten Junitagen begleitete sie Kennicott bei seinen Krankenbesuchen. Er wurde ihr zum Inbegriff dieses mannhaften Landes; sie bewunderte ihn, wenn sie sah, wie respektvoll die Farmer ihm gehorchten. In der Morgenkühle, nach einer hastigen Tasse Kaffee, war sie im Freien, und wenn die frische Sonne über dieser unverdorbenen Welt aufging, war sie schon im offenen Land. Lerchen riefen auf Zaunpfählen, wilde Rosen verbreiteten einen reinen Duft.
Der Juli war lähmend heiß. Bei Tag kroch man die Hauptstraße entlang; bei Nacht war es schwer zu schlafen. Sie sehnte sich nach den Fichten des Nordens, nach dem Meer des Ostens, aber Kennicott erklärte, gerade jetzt wäre es einigermaßen schwer, wegzukommen.
Der Ausschuß für Hygiene und sanitäre Maßnahmen des Thanatopsis ersuchte sie, an dem Feldzug gegen die Fliegen teilzunehmen; sie lief in der Stadt umher und bemühte sich, die Hausbesitzer zu überreden, sie möchten die vom Klub gelieferten Fliegenfänger benutzen, oder setzte den Kindern Preise für getötete Fliegen aus. Sie war ziemlich eifrig, aber nicht glühend, und da sie das auch gar nicht sein wollte, begann sie die Sache zu vernachlässigen, sobald die Hitze sie schwach machte.
Kennicott fuhr mit ihr nach Norden und verbrachte eine Woche bei seiner Mutter – das heißt, Carola verbrachte sie bei seiner Mutter, während er fischte.
Das große Ereignis war der Ankauf eines Sommerhäuschens, draußen am Minniemashiesee.
So ziemlich das Angenehmste im Leben von Gopher Prairie waren die Sommerhäuschen. Es waren kleine, zweizimmrige Hütten, die so dünne Wände hatten und so nahe aneinander standen, daß man es hören konnte – und auch wirklich hörte – wenn ein kleines Kind fünf Häuser weiter Schläge bekam. Doch man saß unter Ulmen und Linden auf einer Anhöhe, hatte einen Ausblick über den See auf Felder mit reifem Weizen, die sanft zu grünen Wäldern abfielen.
Hier vergaßen die würdigen Frauen ihre gesellschaftlichen Eifersüchteleien und saßen plaudernd beieinander oder sie paddelten stundenlang in alten Badeanzügen, von aufgeregten Kindern umgeben. Carola war mit ihnen zusammen; sie tauchte schreiende kleine Jungen und half den ganz Kleinen beim Bau von Sandteichen für unglückselige Fischchen. Sie hatte Juanita Haydock und Maud Dyer gern, wenn sie ihnen bei der Bereitung des Picknickabendbrotes für die Männer half, die jeden Abend im Automobil aus der Stadt herauskamen. Sie gab sich jetzt freier und natürlicher.
Hätte man dieses normale, unzivilisierte Leben fortführen können, so wäre Carola die begeistertste Bürgerin Gopher Prairies gewesen. Sie war erlöst, als sie sich sagen konnte, daß sie nicht literarische Konversation allein ersehnte, daß sie von der Stadt nicht erwartete, sie solle eine Literatensiedlung werden. Sie war jetzt zufrieden, sie kritisierte nicht.
Doch im September, als das Jahr am köstlichsten war, diktierte die Gewohnheit, es sei Zeit zur Rückkehr in die Stadt; Zeit, die Kinder von der unnützen Beschäftigung mit der Natur loszureißen und zu Unterrichtsstunden zurückzusenden, in denen sie lernen mußten, wieviel Kartoffeln William an John verkauft. Die Frauen, die den ganzen Sommer zufrieden und vergnügt baden gegangen waren, setzten zweifelnde Mienen auf, wenn Carola bat: »Seien wir im Winter diesmal viel im Freien, wir wollen rodeln und eislaufen.« Ihre Herzen verschlossen sich wieder bis zum Frühling, und die neun Monate der Cliquen, der Heizkörper und der »Erfrischungen« begannen wieder.
3
Carola hatte einen Salon gegründet.
Da Kennicott, Vida Sherwin und Guy Pollock ihre einzigen Löwen waren, und da Kennicott Sam Clark allen Dichtern und Radikalen der Welt vorgezogen hätte, kam ihre Privat- und Selbstverteidigungsclique über ein einziges Dinner für Vida und Guy an ihrem ersten Hochzeitstag nicht hinaus; und dieses Dinner kam über eine Kontroverse, deren Gegenstand Raymie Wutherspoons Schmachten war, nicht hinaus.
Guy Pollock war der artigste Mensch, den sie hier gefunden hatte. Er sprach natürlich und ohne Witze zu machen über ihr neues Kleid; er hielt ihr den Stuhl, als sie sich zum Essen setzten; und er unterbrach sie nicht wie Kennicott, um zu schreien: »Ach, hör' mal, da wir g'rad davon reden, da hab' ich heute 'ne gute Geschichte gehört.« Aber Guy war ein unverbesserlicher Einsiedler. Er blieb lange, redete kaum und kam nie wieder.
Dann traf sie Champ Perry auf der Post – und kam zu dem Schluß, daß die Geschichte der Pioniere das Universalheilmittel für Gopher Prairie, für ganz Amerika sei. Wir haben ihre Ausdauer verloren, sagte sie sich. Wir müssen den letzten Veteranen wieder zu Ansehen bringen und ihm auf dem Pfad nachgehen, der zurückführt zur Lauterkeit Lincolns, zur Fröhlichkeit der Ansiedler, die in einer Sägemühle tanzten.
Champ Perry war der Einkäufer im Getreidespeicher. Auf einer derben Brückenwage, in deren Sprüngen jedes Frühjahr die Körner sproßten, wog er Weizenfuhren. Zwischendurch nickte er im verstaubten Frieden seines Büros.
Sie besuchte die Perrys in ihrer Wohnung, die über Howland & Goulds Kaufladen lag.
Die beiden hatten ihr Geld in einem Speicher angelegt und es verloren, als sie bereits alt waren. Sie mußten ihr geliebtes gelbes Ziegelhaus aufgeben und in diese Wohnung über dem Lebensmittelgeschäft einziehen.
Sie