Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
ihr die vorüberfahrenden Züge. Jetzt merkte sie, daß sie ihr in der Stadt notwendig gewesen waren als sicheres Symbol dafür, daß es draußen noch immer eine Welt gab.
Die Eisenbahn war für Gopher Prairie mehr als ein Transportmittel. Sie war ein neuer Gott; ein schrecklicher Götze mit stählernen Gliedern, Eichenrippen und steinernem Fleisch, mit einem verblüffenden Hunger nach Fracht; eine Gottheit, die der Mensch geschaffen hatte, um sich die Ehrfurcht vor dem Eigentum zu erhalten, wie er anderwärts Bergwerke, Baumwollspinnereien, Automobilfabriken, Colleges und Heere als Stammesgötter aufgerichtet hatte, denen er diente.
Der Osten wußte noch von Generationen, die keine Eisenbahn gekannt hatten, und empfand keine ehrfürchtige Scheu vor ihr; aber hier hatte es schon vor der Zeit Eisenbahnen gegeben. Die Städte waren auf der kahlen Prärie als passende Haltepunkte für die künftigen Bahnen angelegt worden; und in der Zeit von 1860 und 1870 hatte es viel Gewinn und viel Gelegenheit zur Gründung aristokratischer Familien gebracht, im voraus zu wissen, wo Städte entstehen würden.
Wenn eine Stadt in Ungnade war, konnte die Eisenbahn sie vernachlässigen, vom Handel abschneiden, töten. Für Gopher Prairie waren die Geleise ewige Wahrheiten und Eisenbahndirektionsausschüsse eine Allmacht. Der kleinste Junge und das zurückgezogenste Großmütterchen konnten einem sagen, ob Nr. 32 am letzten Dienstag eine heißgelaufene Achse hatte, ob Nr. 7 einen Wagen mehr anhängen würde; und der Name des Eisenbahnpräsidenten wurde täglich an jedem Frühstückstisch genannt.
Sogar in dieser neuen Ära der Automobile gingen die Bürger zum Bahnhof hinaus, um die Züge durchfahren zu sehen. Das war ihre Romantik; ihr einziges Mysterium außer der Messe in der katholischen Kirche; und aus den Zügen stiegen große Herren der Außenwelt – Geschäftsreisende mit eingefaßten Westenausschnitten, und Vettern, die aus Milwaukee zu Besuch kamen.
Der Nachttelegraphist im Bahnhof war die tragischste Gestalt in der Stadt: um drei Uhr morgens wachend, allein in einem Raum, in dem das Geklapper des Telegraphentasters zitterte. Die ganze Nacht »redete« er mit Telegraphisten, die zwanzig, fünfzig, hundert Meilen weit weg waren. Immer erwartete man, daß er von Räubern ausgehoben wurde. Das geschah nie, aber es umgab ihn die Vision maskierter Gesichter am Fenster, entgegengestreckter Revolver, fester Seile, die ihn an einen Stuhl fesselten, wütender Anstrengungen, zum Taster zu kriechen, bevor das Bewußtsein entschwände.
Bei Schneestürmen war alles, was mit der Eisenbahn zu tun hatte, tragisch. Es gab Tage, an denen die Stadt völlig abgeschnitten war, an denen sie keine Post, keinen Schnellzug, kein frisches Fleisch, keine Zeitungen hatten. Endlich kam der Schneepflug durch, bekämpfte die Verwehungen, schickte einen Geiser empor, und der Weg zur Außenwelt war wieder offen. Die Bremser, mit Halstüchern und Pelzkappen, liefen die Dächer der vereisten Güterwagen entlang; die Lokomotivführer kratzten das Eis von den Fenstern des Führerstandes ab und sahen hinaus, unerforschlich, geheimnisvoll, Lotsen des Präriemeeres …
Den kleinen Jungen war die Eisenbahn als Spielplatz vertraut. Sie erstiegen die Eisenleitern an den Seitenwänden der gedeckten Güterwagen, schichteten hinter den Stapeln alter Schwellen Holz für ein Feuer auf und winkten ihren Lieblingsbremsern zu. Doch für Carola war sie ein Zauber.
Sie fuhr mit Kennicott im Automobil, der Wagen holperte durch die Dunkelheit, die Scheinwerfer beleuchteten Schlammpfützen und zerzauste Stauden an der Straße. Ein Zug kam! Ein rasches Tschk-schk, Tschk-tschk, Tschk-tschk. Er raste vorbei – der Pacifik-Expreß, ein goldflammender Pfeil. Aus dem Schornstein flogen glimmende Funken. Im Nu war alles wieder vorbei; Carola war wieder in der langen Dunkelheit; und Kennicott sagte das seine über dieses Feuerwunder: »Nr. 19, muß ungefähr zehn Minuten Verspätung haben.«
In der Stadt lauschte sie in ihrem Bett dem Schnellzug, der in dem Durchlaß im Norden pfiff. Uuuuuuh! – schwach, nervös, nachlässig, das Horn der freien Nachtreiter, die in die großen Städte reisen, wo es Lachen und Fahnen und Glockenklang gibt – Uuuuuuh! Uuuuh! – die Welt fährt vorbei – Uuuuuuh! – schwächer, sehnsüchtiger, weg.
Hier draußen gab es keine Züge. Die Stille war übergroß. Die Prärie umschloß den See, lag rings um ihn, rauh, staubig, schwer. Nur der Zug konnte sie zerschneiden. Eines Tages würde sie in einen Zug steigen; und das würde eine große Unternehmung sein.
6
Bald darauf brach in Europa der Weltkrieg aus.
Eine Woche lang genoß Gopher Prairie die Wonne des Bebens, dann, als der Krieg zu einer geschäftlichen Angelegenheit mit Schützengrabenkämpfen wurde, vergaß man ihn.
Als Carola über den Balkan und über die Möglichkeit einer deutschen Revolution sprach, gähnte Kennicott: »Ach ja, es ist schon 'ne Mordsbalgerei, aber uns geht's nichts an. Hier haben die Leute zu viel damit zu tun, ihren Mais zu bauen, als daß sie sich mit einem idiotischen Krieg abgeben könnten, den diese Ausländer durchaus haben wollen.«
Miles Bjornstam aber sagte: »Ich find' mich nicht zurecht. Ich bin gegen Kriege, aber trotzdem, es scheint, Deutschland muß Hiebe beziehen, weil die Junker dem Fortschritt im Weg stehen.«
Im Frühherbst besuchte sie Miles und Bea. Sie empfingen sie mit freudigen Ausrufen, staubten Stühle ab und liefen Wasser holen zum Kaffeekochen. Miles stand da, lächelte sie strahlend an. Er kehrte oft und mit Freuden zu seiner alten Respektlosigkeit vor den Herren Gopher Prairies zurück, aber immer hängte er – mit einiger Schwierigkeit – etwas gut Klingendes und Anerkennendes daran.
»Ziemlich viel Leute haben Sie besucht, nicht wahr?« erkundigte sich Carola.
»Ach, na ja, Beas Kusine Tina kommt recht oft her, und der Vorarbeiter von der Mühle, und – oh, wir unterhalten uns recht gut. Hören Sie, sehen Sie sich doch mal die Bea an! Sollte man nicht meinen, daß sie ein Kanarienvogel ist, wenn man ihr zuhört und den Flachskopf sieht, den sie hat? Aber wissen Sie, was sie ist? Sie ist 'ne Mutterglucke! Was sie immer an mir rumzuschaffen hat – wie sie den alten Miles dazu bringt, daß er sich 'ne Krawatte umbindet! Ich will sie nicht verderben, deshalb soll sie's nicht hören, aber sie ist 'ne recht lausig nette – nette – Teufel auch! Was liegt denn uns dran, ob einer von den dreckigen Affen herkommt oder nicht? Wir haben uns.«
Carola bereiteten die Anstrengungen der beiden eine Zeitlang Kümmernisse, aber in ihrer Krankheit und Angst dachte sie nicht mehr daran. Denn in diesem Herbst wußte sie, daß sie ein Kind erwartete, daß endlich das Leben durch die Gefahr dieser großen Veränderung interessant zu werden versprach.
Neunzehntes Kapitel
1
Sie erwartete das Kind. Jeden Morgen war ihr übel, fröstelte sie, kam sie sich beschmutzt vor und war überzeugt, daß sie nie wieder hübsch würde; in jeder Abenddämmerung hatte sie Angst. Sie kam sich nicht erhaben vor, sondern unordentlich und verwildert. Die täglich wiederkehrenden Übelkeiten wurden zu endloser Langeweile. Bald fiel es ihr schwer, sich zu bewegen, sie tobte, daß sie, die schlank und leichtfüßig gewesen war, sich auf einen Stock stützen und die herzlichen Bemerkungen des Straßenklatsches anhören mußte. Schmutzige Blicke umgaben sie. Jede Ehefrau ließ fallen: »Jetzt, wo Sie Mutter werden, meine Liebe, werden Sie mit allen den Ideen fertig werden, die Sie immer haben, und sich eingewöhnen.« Sie merkte, daß sie nolens volens in die Gemeinschaft der Hausfrauen aufgenommen wurde; sobald das Baby als Geisel da war, würde sie niemals entfliehen; bald würde sie Kaffee trinken, schaukeln und über Windeln reden.
»Ich könnte sie bekämpfen. Ich bin daran gewöhnt. Aber dieses Aufgenommenwerden, dieses Selbstverständlich-genommen-werden, das kann ich nicht aushalten, und ich muß es aushalten!«
Abwechselnd verachtete sie sich selbst, weil sie die freundlichen Frauen nicht zu schätzen wußte, und verachtete diese wegen ihrer Ratschläge: düstere Andeutungen über die Schmerzen, die sie bei den Wehen leiden würde, Einzelheiten über