Gesammelte Werke. Sinclair Lewis

Gesammelte Werke - Sinclair Lewis


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lieben wie dieses verträumte Baby. Und ich bin genau so hübsch wie sie!«

      Allein, als sie auf dem Bett saß und ihre dünnen Schenkel anstarrte, verließ der Trotz sie allmählich. Sie wehklagte:

      »Nein. Ich bin's nicht. Du lieber Gott, wie halten wir uns selber zum Narren! Ich behaupte, ich bin ›geistig‹. Ich behaupte, meine Beine sind hübsch. Sind sie gar nicht. Sie sind mager. Altjüngferlich. Es ist mir ekelhaft! Ich hasse diese impertinente junge Person! Eine egoistische Katze, die seine Liebe für selbstverständlich hält – Nein, sie ist zum Anbeten … Ich finde, sie sollte nicht so freundlich zu Guy Pollock sein.«

      Ein Jahr lang liebte Vida Carola, sehnte sich danach, die Einzelheiten ihrer Beziehungen zu Kennicott auszuspionieren – tat es aber nicht – freute sich an ihrem Spieltrieb, der sich in kindischen Teegesellschaften auslebte, und ärgerte sich, da nun das mystische Band zwischen ihnen vergessen war, auf höchst gesunde Weise darüber, daß Carola annahm, sie sei ein soziologischer Messias, der gekommen sei, Gopher Prairie zu erlösen. Dieser letzte Teil von Vidas Gedankenkette wurde nach Ablauf eines Jahres am häufigsten beleuchtet. Sie brütete verdrossen: »Die Leute, die alles mit einemmal, ohne jede Arbeit, ändern wollen, gehen mir auf die Nerven! Ich muß mich vier Jahre hinstellen und arbeiten, die Schüler für Debatten aussuchen und abrichten, sie quälen, damit sie sich vorbereiten, sie bitten, sich selbst Themen zu wählen – vier Jahre, um zwei, drei gute Diskussionen zu bekommen! Und sie kommt rauschend daher und erwartet, sie könnte in einem Jahr die ganze Stadt in ein Bonbonparadies verwandeln, in dem kein Mensch mehr etwas anderes tut, als Tulpen züchten und Tee trinken. Und dabei ist es doch wirklich eine nette, gemütliche alte Stadt!« Aber trotzdem betrog sie sich nie, und immer wieder war sie zerknirscht.

      Durch Hughs Geburt erwachte ihre transzendentale Gefühlswelt wieder. Sie war empört darüber, daß Carola nicht ganz davon ausgefüllt war, Kennicotts Kind geboren zu haben. Sie gab wohl zu, daß Carola das Kind zärtlich zu lieben und tadellos zu pflegen schien, aber sie begann jetzt sich mit Kennicott zu identifizieren und in dieser Phase zu empfinden, daß sie viel zu sehr unter Carolas Unbeständigkeit gelitten hätte.

      2

      Vida hatte an Raymie Wutherspoons Singen in der Anglikanerkirche Gefallen gefunden; sie hatte bei »Geselligen Methodistenzusammenkünften« und im Bon Ton das Wetter erschöpfend mit ihm besprochen. Aber wirklich lernte sie ihn erst kennen, als sie in Frau Gurreys Pension zog. Es war fünf Jahre nach ihrem Abenteuer mit Kennicott. Sie war neununddreißig, Raymie vielleicht ein Jahr jünger.

      Sie sagte zu ihm, ganz aufrichtig: »Mein Gott! Sie können ja alles erreichen, was Sie wollen, mit Ihrem Verstand und Takt und mit Ihrer großen Stimme. Sie waren so gut im ›Mädchen von Kankakee‹. Ich bin mir damals ganz dumm vorgekommen. Wenn Sie zum Theater gehen würden, könnten Sie, glaube ich, ebenso gut sein wie irgendwer in Minneapolis. Aber trotzdem tut es mir nicht leid, daß Sie Kaufmann bleiben. Das ist ein so aufbauender Beruf.«

      Es war für beide das erstemal, daß sie zufriedenstellende geistige Kameradschaft fanden. Sie sahen herab auf den Bankangestellten Willis Woodford und seine verschüchterte Frau, die nur für ihre Kinder lebte, auf die schweigsamen Lyman Cass', den salopp redenden Reisenden und den Rest von Frau Gurreys Gästen. Voll Freude erkannten sie, daß sie ein gemeinsames Glaubensbekenntnis hatten:

      »Leute wie Sam Clark und Harry Haydock nehmen Musik und Bilder und schöne Predigten und wirklich feine Filme nicht ernst, aber, andererseits, Leute wie Carola Kennicott reiten zuviel auf der Kunst herum. Man kann ja ruhig schöne Dinge würdigen, aber trotzdem muß man praktisch sein und – und alles praktisch betrachten.«

      An einem Sonntagnachmittag im Spätherbst gingen sie zum Minniemashiesee hinaus. Ray sagte, er würde gern das Meer sehen; es müßte ein großartiger Anblick sein; es müßte noch großartiger sein als ein See, sogar als ein riesig großer See. Vida stellte bescheiden fest, sie habe es gesehen; sie habe es gelegentlich einer Sommerreise zum Cape Cod gesehen.

      »Sie sind bis zum Cape Cod gekommen? Massachusetts? Ich wußte, daß Sie Reisen gemacht haben, aber ich hätte nie gedacht, daß Sie so weit gekommen sind!«

      Durch sein Interesse größer und jünger geworden, legte sie los: »O ja, ja. Es war ein wunderschöner Ausflug. In Massachusetts gibt es soviel interessante Stellen – historische Punkte. Dort ist Lexington, wo wir die Rotröcke zurückgeschlagen haben, und das Haus Longfellows in Cambridge und Cape Cod – dort gibt's einfach alles – Fischer und Walfischfänger und Sanddünen und alles.«

      Sie sprach den Wunsch aus, einen kleinen Stock in der Hand zu tragen. Er brach ihr einen Weidenzweig ab.

      »Herrje, sind Sie stark!« sagte sie.

      »Nein, nicht sehr. Ich wollte, ich hätte Gelegenheit zu regelmäßigem Trainieren.«

      »Sie sind sehr geschmeidig, für einen so großen Mann.«

      »O nein, nicht so sehr. Aber ich wollte, ich hätte Gelegenheit zum Trainieren, Vida – es ist wohl ziemlich frech von mir, daß ich ›Vida‹ zu Ihnen sage.«

      »Ich sage schon seit Wochen ›Ray‹ zu Ihnen.«

      Er mußte darüber nachdenken, warum das geärgert klang.

      Er half ihr den Abhang hinunter zum Ufer, ließ aber plötzlich ihre Hand los; als sie auf einem Weidenstumpf saßen und er ihren Ärmel streifte, rückte er taktvoll ab und murmelte: »Oh, entschuldigen Sie – Zufall.«

      Sie starrte auf das schmutzigbraune Wasser hinaus, auf die schwimmenden braunen Binsen.

      »Sie sehen so nachdenklich aus«, sagte er.

      Sie warf die Hände empor. »Ich bin es auch! Können Sie mir vielleicht sagen, was für einen Sinn das – das Ganze hat! Ach, reden wir nicht von mir. Ich bin eine melancholische alte Pute. Erzählen Sie mir von Ihren Plänen, am Bon Ton beteiligt zu werden. Ich denke, Sie haben recht: Harry Haydock und der schlechte alte Simons sollten Sie beteiligen.«

      Als sie dann aufstanden, reichte er ihr die Hand. »Wenn Sie gestatten. Ich finde, es ist fürchterlich, wenn jemand mit einer Dame spazierengeht und sie ihm nicht vertrauen kann, und er mit ihr flirten will und so.«

      »Ich bin überzeugt, daß man Ihnen sehr vertrauen kann!« erwiderte sie und sprang ohne seine Hilfe auf. Dann sagte sie, übermäßig lächelnd: »Ach – finden Sie nicht, daß Carola manchmal Doktor Wills Tüchtigkeit nicht gerecht wird?«

      3

      An einem Märzabend tranken Ray und sie auf dem Heimweg vom Kino bei Dyer Schokolade. Vida fragte: »Wissen Sie, daß ich nächstes Jahr nicht mehr hier bin?«

      »Was wollen Sie damit sagen?«

      Mit ihren schwachen, schmalen Nägeln putzte sie die Glasplatte auf dem Tisch, an dem sie saßen. Unter dem Glas waren im Vitrinentisch schwarze, goldene und zitronengelbe Parfümkartons. Ringsum sah sie Regale mit roten Gummithermophoren, hellgelben Schwämmen, Waschlappen mit blauen Rändern, Kopfbürsten mit Rücken aus poliertem Kirschholz. Sie schüttelte den Kopf wie ein nervöses Medium, das aus der Trance zu sich kommt, starrte ihn unglücklich an und fragte:

      »Warum sollte ich hierbleiben? Und ich muß mich entschließen. Jetzt. Es ist die Zeit, in der wir unsere Lehrkontrakte für das nächste Jahr erneuern müssen. Ich denke, ich werde in eine andere Stadt unterrichten gehen. Alle Leute hier haben genug von mir. Ich kann ebensogut gehen. Bevor man daherkommt und sagt, daß man genug von mir hat. Ich muß mich heute abend entscheiden. Ich kann ebensogut – Ach, das ist ja egal. Kommen Sie. Gehen wir. Es ist spät.«

      Sie sprang auf, hörte nicht auf sein Gewinsel: »Vida! Warten Sie! Setzen Sie sich! Herrgott! Ich bin außer mir! Herrje! Vida!« Sie marschierte hinaus. Während er bezahlte, ging sie voraus. Er lief ihr nach, stotterte: »Vida! Warten Sie!« Im Schatten des Flieders vor dem Gougerlinghaus holte er sie ein und legte ihr die Hand auf die Schulter.

      »Ach, nicht! Nicht! Was liegt denn daran?« bat sie.


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