Schneesturm im Hochsommer. Meinrad Inglin

Schneesturm im Hochsommer - Meinrad Inglin


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Gefüge hinein.

      Während die beiden Füsiliere die Schlösser der überall verteilten Minenkästen prüften, ging er selber zur Kontrolle einer Minenkammer auf dem schneeverwehten Plattensteg vorsichtig weiter bis zum nächsten Pfeiler und hatte sich ­dabei immer wieder unter gekreuzten eisernen Strebebalken durchzubücken. Dieser Steg besaß kein Geländer, und wer hier nicht schwindelfrei war oder sonst ausglitt, konnte leicht in die tiefe Schlucht hinunterstürzen; ein Offizier und ein Unteroffizier waren hier auf einem Kontrollgang so um ihr Leben gekommen. Als der Leutnant von diesem Gang ­zurückkam, sah er den Schelbert im vereisten Gebälk eigenmächtig mit einer Verwegenheit über dem Abgrund her­um­klettern, als ob es da etwas herauszufordern gälte. Er wun­der­­te sich, schwieg aber dazu.

      Alles war in Ordnung, die Brücke konnte in die Luft fliegen, wenn es notwendig würde. Die Patrouille stapfte oben auf dem Schienenweg weiter bergan, warf einen prüfenden Blick in die nächste Telefonkabine, zog ein Signalwerk auf und betrat einen längeren Tunnel, dessen Eingang von der Schildwache eines zur Kompagnie gehörenden nahen Unteroffizierspostens bewacht wurde. In diesem Augenblick signali­sier­­te draußen am Eingang der Glockenhammer einen talwärts fahrenden Zug. Der Leutnant zögerte kurz, dann befahl er zwei Meter Abstand von Mann zu Mann und schritt, mit der Taschenlampe voranleuchtend, auf dem groben Schotter weiter in den stockdunklen Schacht hinein. Er hätte den Zug draußen abwarten können, aber man sollte nicht sagen, dass er selber sich auch nur das Geringste geschenkt habe. Vielleicht konnte man sich in eine Nische drücken, vielleicht auch nicht, aber für diesen zweiten Fall bestanden genaue Verhaltungsmaßregeln, die jeder kannte. Außerdem wusste jeder, dass vor Monaten ein bergwärts kontrollierender Offi­zier sich links in der Zugsrichtung hingeworfen hatte, statt rechts dem Zug entgegen, und am vorschriftswidrig getragenen Mantel unter die Räder gerissen worden war.

      Der Leutnant ging an der letzten Nische vorbei und sah nach etwa dreißig Schritten vor sich in einer Kurve schon einen Schimmer Tageslicht, als der Zug von der offenen Strecke, wo der Schnee die Geräusche dämpfte, in den Tunnel einbog und mit dem voranstürzenden Ungetüm der elektri­schen Maschine krachend auf ihn zuschoss. «Abliegen!», brüllte er noch, warf sich zwischen Tunnelwand und Geleise der Länge nach hin, dass der Helm hart aufschlug, und sperrte wie hinter feuernden Geschützen den Mund auf. Die Räder rasten mit einem ohrenbetäubenden eisernen Lärm Funken schlagend an ihm vorüber, und die Trittbretter, denen er kurz entgegenschielte, schienen so knapp an seinem Helm vorbeizusausen, dass er den Kopf wieder senkte. Die letzten Wagen des langen leeren Güterzuges, der mit Schnellzugs­eile talwärts glitt, verschwanden neben ihm wie weggewischt. Er sprang auf, leuchtete mit der Taschenlampe seine Leute an und sah nur zwei, die sich langsam erhoben; erschrocken fragte er nach dem Dritten und rief mit einem bangen Unterton in das Dunkel zurück: «Füsilier Schelbert!»

      Der Gerufene meldete sich, kam mit einem Gegenstand in den Händen gelassen daher und erklärte ruhig, er sei vor dem Zug in die für ihn noch erreichbare Nische zurück­gerannt. «Schelbert», rief der Leutnant erzürnt, «das ist nun allerdings Gott versucht, diesmal kann man es mit Recht sagen. Sie wissen, dass das verboten ist. Im Dunkeln vor dem Zug herrennen! Der reine Zufall, dass Sie nicht über Schotter und Schwellenköpfe gestolpert sind! In der Nische wären Sie dann geschnetzelt angekommen.»

      «Und wenn ich nicht zurückgerannt wäre, Herr Leutnant, so würde ich jetzt wahrscheinlich mausetot neben den Schienen liegen», entgegnete Schelbert im Ton eines fast heiteren Widerspruches, als ob er diesmal seiner Sache mindestens so sicher wäre wie bei der gestrigen Widerrede, und wies den Gegenstand vor, einen schweren Bremsklotz, der genau dort zu Boden geschmettert worden sei, wo er sich hätte hinlegen sollen.

      Der Leutnant leuchtete den Bremsklotz mit der Taschenlampe an, dann befahl er, um vorerst einmal ans Tageslicht zu kommen: «Vorwärts, wir wollen weiter!» Während er dem Ausgang zuschritt, hörte er die Leute hinter sich über das Vorgefallene reden und gewann den Eindruck, dass es wirklich ungefähr so geschehen sein müsse. Der Vordermann Schelberts behauptete jedenfalls, er habe bei allem übrigen Lärm hinter sich einen harten Aufschlag gehört, den er sich erst jetzt erklären könne, und Schelbert selber erzählte, dass der Klotz, der natürlich noch ein paar Sprünge gemacht habe, neben ihm an die äußerste Nischenwand geprallt und dort liegen geblieben sei. Ungewöhnlich war es nicht, dass auf dieser Strecke ein Bremsklotz absprang; gewisse ausländische Güterwagen, aus denen auch dieser Zug bestand, waren so verlottert, dass man nach ihrer Durchfahrt häufig abgesprungene Eisenteile fand, darunter auch manchmal einen Bremsklotz, ja dass untüchtige Wagen auf der Station ersetzt werden mussten. Ungewöhnlich war nur dieser Zufall, der dem Fehlbaren recht und seinem Vorgesetzten unrecht gab. Der Leutnant machte sich indes nicht allzu viel daraus und bemerkte am Ende nur noch, man könne ja ausnahmsweise einmal Glück haben, auch wenn man sich falsch benehme, aber das entschuldige nichts.

      Die Patrouille kehrte um Mittag auf den Posten zurück, eben als wieder ein schneetreibender kalter Wind einsetzte, der gegen Abend zum schon gewohnten Sturm anwuchs. Der Leutnant meldete diesmal in seinem schriftlichen Abendrapport an seinen Vorgesetzten die Lawinengefahr, doch mehr, um es gemeldet zu haben, als um etwas zu erwirken. Nach Mitternacht ließ das Fauchen um die Baracke allmählich nach, und im ersten Tageslichte sah es wieder genau so aus wie gestern Morgen, der Sturm hatte da unten aufgehört und die Sicht auf den Berg über der Brücke freigegeben, aber in der Höhe blies er weiter. Die Ordonnanz am Barackenfenster, die tagsüber regelmäßig abgelöst wurde und mit der außer Rufweite stehenden Brückenschildwache Augenverbindung zu halten hatte, rief jedenfalls, dass der Wind immer noch Schnee von den obersten Gratwächten wegstäube. Das war um acht Uhr. Eine Viertelstunde später stieß diese Ordonnanz, um besser zu sehen, plötzlich das Fenster auf und rief laut: «Was ist das?»

      Der Leutnant lief ans Fenster und sah am obersten Steilhang unter dem Grat ein pulveriges Schneegewölk, das sich rasch in die Länge zog und einen Augenblick aussah wie ein hochgeschwollen über Felsen polternder riesiger Wildbach. Er rannte hinaus und schrie zur Brücke hinauf, wo von sieben bis neun wie gestern Morgen wieder Schelbert Schildwache stand, schrie, die Hände als Schalltrichter vor dem Mund, aus vollem Halse: «Schelbert, fort, die Lawine, die Lawine!» Die Leute rannten auch hinaus und starrten schreiend und winkend zu ihrem Kameraden hinauf, der weder zu hören noch zu sehen schien und in unbegreiflich wirkender Ahnungslosigkeit dem Brückengeländer entlang patrouillierte. Schon war die obere Berghälfte von hastig aufquellenden pulverigen Schwaden halb verschleiert, die Lawinenfront überfuhr als breite, wulstige Brandung die mittleren Hänge, und ihr vor­an sauste es dunstig wie zerstäubtes Wasser, das der Sturm von schäumenden Wellenkämmen wegfegt, gegen den alten Lawi­nenzug hinab. Der Leutnant schrie nach Gewehren, um den unbegreiflichen Mann da oben durch Schüsse zu wecken, aber da schrak der Mann endlich selber auf; er hielt, wie man sah, knapp an, das Gesicht gegen den Berg gewandt, dann rannte er los, stolperte und fiel hin, was alle begreiflich fanden, die je über die schneeverwehte Brücke gegangen waren. Er stand wieder auf, unbehilflicher, als man ihm zugetraut hätte, drehte sich plötzlich torkelnd rundherum und flog über das Brückengeländer hinaus. Alle sahen es, einige wie auf den Mund geschlagen, andere mit erregten Rufen. Er flog, in Dunst gehüllt, aber vom unheimlichen Hintergrund eines brodelnden weißen Gewölks noch deutlich abgehoben, wehrlos ins Leere hinaus, und gleichzeitig nahte von dorther ein pfeifendes Sausen wie vom heranstürzenden Föhn. Im nächsten Augenblick rannten alle Leute, von einem Sturmwind gepackt, der die Tür und das offene Fenster zuschmetterte, hinter die Baracke, es wurde dunkler, als ob ein Gewitter ausbräche, die Luft war voller Schneestaub, und von der Schlucht her donnerte das dumpfe Gepolter der aufschlagenden Lawinenmasse.

      Der Leutnant befahl die Mannschaft in die Baracke hinein, ließ durch den Gefreiten den beiden nächsten Bahnstationen telefonisch den Niedergang der Lawine melden und schickte gleichzeitig eine vom Korporal geführte Patrouille zur Brücke hinauf, mit dem Befehl, allfällige Züge in genügender Entfernung anzuhalten, wenn das Geleise verschüttet oder die elektrische Fahrleitung beschädigt sein sollte. Darauf mel­dete er den Vorfall seinem Hauptmann, bat um das Aufgebot der Kompagniereserve, bestellte Schaufeln, Pickel, Sondierstangen, einen Lawinenhund, und führte, den Wacht­­meister als seinen Stellvertreter und drei Mann in der Baracke zurück­lassend, die übrigen Leute mit ihrem Schanzwerkzeug und der einzigen Schneeschaufel auf die Suche nach dem Verunglückten in die Schlucht hinab.


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