Schneesturm im Hochsommer. Meinrad Inglin

Schneesturm im Hochsommer - Meinrad Inglin


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paar Schritte weiter und trat auf die Schlange. Mit einem hohen, heiseren Aufschrei warf sie sich herum, glitt aus, stürzte und schlug grauenhaft kreischend mit der Haselrute um sich.

      Anselm sprang ihr sofort bei, sie umfasste ihn, auffahrend, mit beiden Armen und schrie, den entsetzten Blick auf die Natter gerichtet, zitternd und flehentlich: «Eine Schlange! Eine Schlange! Schlagen Sie sie tot, um Gottes willen, schlagen Sie sie doch tot!»

      Anselm, von der bebend an ihn Geschmiegten nun endlich ganz aus seinem inneren Gleichgewichte geworfen, bestürzt von ihrer unsäglichen Angst und um der Schutzflehenden willen ritterlich zu allem fähig, packte in dieser Verwirrung die Natter, hieb ihr die Haselrute in den Nacken und erschlug sie.

      Auf einem Steinblock, zehn Schritte vor ihm, tauchte Sebastian auf. «Anselm!», rief er erschrocken, hob beschwörend die Rechte und ließ sie langsam wieder sinken.

      Ilse aber zog sich, in ein krampfhaftes Weinen ausbrechend, unter bitteren Anklagen zurück: «Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass es hier Schlangen gibt? Ich wäre niemals hierhergekommen, und ich will sogleich fort, Xaver, ich will fort. Keiner von euch allen hat mir ein Wort gesagt, es ist abscheulich, ich will euch nicht mehr sehen, ich werde nie mehr hierherkommen …»

      Anselm hörte es. Er stand noch da, die leblos hängende Schlange in der Hand, blickte betroffen dem erzürnt weglaufenden Mädchen nach, schaute noch tiefer betroffen die tote Natter an und kam erschüttert zu sich. Der aufsteigende Schmerz, den er knabenhaft trotzig zu verhalten suchte, zuckte in seinem ganzen Gesicht und drang ihm tränenfeucht aus den Augen.

      «Anselm!», rief Sebastian noch einmal und kam herbei und blickte ihn an.

      «Ich habe sie erschlagen», klagte Anselm dumpf. Langsam wandte er sich ab und trug die Schlange ins Gehölz hinein. Die Kameraden scheu vermeidend, schlich er auf die düstere Kuppe und verbarg sich mit der erschlagenen Natter im Dickicht.

      Die Insel lebte verlassen ihr eigenes einsames Leben. Ein ­Gewittersturm peitschte den Regen schräg in die Kronen ihrer Bäume und warf die Wellen klatschend an ihre steinigen Ufer, nachts darauf wandelten wieder Sterne über sie hin, und die Bäume tropften leise weiter. Ein Hecht stieg aus der Tiefe und verweilte lauernd zwischen den langen Blattstengeln der längst verblühten Seerosen, ein weißer Falter, der gaukelnd den See überquerte, ruhte hier aus, und eines Morgens stand ein grauer Reiher am Ufer hinter dem dünnen Schilfgürtel. Viele Tage und Nächte lang regnete es eintönig rauschend ins Laub, der See schien leise zu sieden, das Wasser stieg. In diesen Tagen aber bewegte sich von einem überschwemmten flachen Seeufer her ein sonderbares dunkles Köpfchen gegen die Insel, landete züngelnd am Hechtekap und zog einen langen geschmeidigen Leib hinter sich her; eine Schlange war hier angekommen, eine Natter. Sie rastete am Ginsterhang und verschwand wieder, aber nach der Regenzeit lag sie manchmal auf einem Uferstein in der warmen Spätsommersonne.

      Endlich erschien eines Nachmittags auch wieder ein Mensch in einem alten Stehruderboot. Er ruderte sehr leise und zögernd, als ob er eine Scheu empfände, sich der Insel zu nähern, und landete ebenso leise zwischen zwei Uferklippen. Behutsam machte er das Boot fest und ging ins Gehölz hinein, ein Jüngling in einer verwaschenen roten Badehose, Sebastian. Gespannt und neugierig wie ein glücklicher Entdecker, der zum ersten Mal ein märchenhaftes Eiland betritt, streifte er still herum. Eine schöne junge Halbgöttin hatte ihn hier mit ihrem Zauber fast den Wundern der Insel entfremdet; aber er hatte sie nur angeschaut, nie berührt, nur geliebt, nicht begehrt und daher auch nicht verloren. Sie lebte als reines, süßes Bild beglückend in ihm weiter, und ihm allein war die Insel um dies Geheimnis reicher; während die tatkräftigen andern hier alles verloren hatten, war seiner tiefgründigen Schüchternheit dieser Preis von selber zugefallen.

      An einem der nächsten Tage schon aber kamen mit Sebastian auch Karl und Robert auf die Insel zurück. Karl hatte recht bekommen mit seinem Hass auf Ilse, das Unheil war eingetroffen und mit der Flucht des Mädchens am Ende nach seinem Wunsche verlaufen. Außerdem hatte sich Anselm bei ihm entschuldigt, und so war auch dieser Schatten verschwunden. Er verriet mit keinem Worte, ja sich selber gegen­über mit keinem Gedanken mehr, dass er noch eine tiefere Wunde empfangen hatte und sich jetzt die Insel zurückeroberte wie ein erstes verlorenes Stück seines Knabenparadieses. Eifrig ging er mit der Hechtrute ans Werk. Robert trat sehr unbekümmert auf, aber ihn erinnerte hier fast jeder Schritt und Tritt an die holde Beute, die seinen lebenskräftig erwachenden Sinnen entgangen war. Er empfand darüber ein dumpfes Missvergnügen, und so verweigerte auch ihm das Eiland die lautere Beglückung noch, die er früher hingenommen hatte wie eine beliebig erreichbare Lust. Anselm, der am wenigsten hoffen durfte, sein Paradies hier unverändert wiederzufinden, mied die Insel am längsten. Xaver aber, der alle Schuld auf sich nehmen wollte, bat ihn inständig um seine Rückkehr, und eines Nachmittags brachte er ihn mit. Anselm betrat den Schauplatz seiner Verstrickung, seiner Schuld und ritterlichen Niederlage reifer, denn er allein hatte sich hier ganz eingesetzt. Es war ein Lohn, den er nicht berechnen, ja noch nicht einmal erkennen konnte.

      So verbrachten die Jünglinge wieder manchen freien Nach­mittag auf der Insel, als ob hier nichts den heiteren Frieden unterbrochen hätte. Aber ein Sturm hatte ihn unterbrochen, eine geheimnisvolle Macht hatte sie alle berührt, zaubernd und Verwirrung stiftend mit ihrer Süße und Gefahr, eine Lebensmacht, von der sie wohl gelesen und reden gehört, aber vordem nichts gespürt hatten. Sie verschwiegen es voreinander, sie stellten sich noch einmal unter das stillere Gesetz der Insel und fischten ruhig weiter; mit dem Haselrütchen kletterte hier einer im Ufergestein herum und blickte auf den Grund des Wassers nach kleinen Barschen aus, ein anderer stand am Hechtekap, auf dem rechten Beine ruhend, die Hüften ein wenig verdreht, mit dem Unterarm den Schaft der langen Hechtrute stützend, und sah geduldig dem Korkschwimmer zu, ein Dritter setzte die Rute und schlenderte lautlos im Gehölz herum oder schaute durch eine Buschlücke versunken auf den See hinaus. Kein Lüftchen kräuselte die Fläche. Die wolkenlose Bläue wölbte sich in das lautere Wasser hinab, und auf diesem Spiegelbild des Himmels ruhte die Insel mit ihren bräunlich schimmernden Fischern und farbig glühenden Laubkronen wundervoll im klaren Herbsttag.

      Die Lawine

      Auf der Eisenbahnbrücke, die das Doppelgeleise über die tiefste Schlucht der Bergstrecke hinwegführt, brüllte eines stürmischen Winterabends die Schildwache «Halt!» und ging mit schussfertig erhobenem Gewehr durch das Schneege­stöber auf eine vermummte Gestalt zu, die sich der Brücke näherte. Die Gestalt blieb stehen, schob das verschneite Kopftuch beiseite und blickte mit einem blühend geröteten jungen Bäuerinnengesicht der Schildwache lächelnd entge­gen. «Erschießt mich nur nicht!», rief sie.

      «Ja so!», sagte der Soldat erfreut und nahm das Gewehr aus dem Anschlag. «Hab Euch nicht gleich erkannt.»

      Die stattlich gewachsene, aber noch mädchenhaft wirkende Bauernfrau, die auf dem Weg vom Dorf zu ihrem Heimwesen hier auf einem hohen Steg den Bahndamm überschreiten musste, und der Soldat, der zu bestimmten Stunden hier die Brücke bewachte, hatten bei jeder Begegnung freundliche oder scherzhafte Worte gewechselt und einander jedes Mal besser gefallen. Der Soldat, ein lustiger lediger Bauernbursche, hätte sie zu seinem Vergnügen gern einmal besucht, aber da sie den Ehering trug, fand er sich nicht genügend dazu ermu­tigt.

      «Seid Ihr auf dem Heimweg?», fragte er.

      «Ja. Ich bin im Dorf unten gewesen. Aber hab Euch nur sagen wollen, dass man hier jetzt nicht mehr sicher ist.»

      «Wegen der Laui, meint Ihr? Ja, auf dem Posten reden sie auch davon, aber unser Leutnant gibt nicht viel darum …»

      «Der wird es ja wissen. Aber gelt, Euch hab ich es jetzt gesagt …»

      «Halt!», rief der Soldat in diesem Augenblick einer zweiten Gestalt zu, die durch das Schneetreiben daherkam, dann schlug er, da nun diese Gestalt erstaunlicherweise nicht stehen blieb, mit einem erneuten brüllenden «Halt!» das Gewehr noch einmal an und wollte schon abdrücken, als ihm die Bäuerin den Gewehrlauf beiseitelenkte.

      «Das ist doch der Seppetoni!», rief sie erschrocken. «Den werdet Ihr mir doch nicht erschießen wollen!»

      «Der Tölpel, natürlich! Der ist hier schon vorgestern von einer Schildwache fast angeschossen


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