Steuerstrafrecht. Johannes Franciscus Corsten
Wertgrenze von 50 000 Euro ersetzt, die Gefährdungen und eingetretene Schäden gleichermaßen erfasst.[114]
(1) Das Doppelbestrafungs- und Verfolgungsverbot, Art. 103 Abs. 3 GG
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Aus Art. 103 Abs. 3 GG folgt auch für das Steuerstrafrecht, dass wegen derselben Tat niemand mehrmals bestraft werden darf (Ne bis idem-Grundsatz, Doppelbestrafungsverbot, zu den Folgen eines Verstoßes s. Rn. 66).[115] Über den Wortlaut hinaus ist nach allg. Meinung auch die mehrfache Verfolgung untersagt (Doppelverfolgungsverbot).[116] Das Verbot der doppelten Bestrafung bzw. Strafverfolgung findet dabei zunächst nur direkte Anwendung auf die Sanktionen des deutschen Kriminalstrafrechts, womit weder Sanktionen des Zivilrechts noch ausländische Strafsanktionen erfasst sind (zum europäischen Verbot der doppelten Bestrafung bzw. Strafverfolgung gem. Art. 54 SDÜ s. Rn. 67 f.).[117] Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts können den kriminalstrafrechtlichen Sanktionen qualitativ so nahe kommen, dass eine analoge Anwendung von Art. 103 Abs. 3 GG angezeigt sein kann.[118]
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Die Frage der Identität der abgeurteilten Taten wirft vielfältige Probleme auf. Die Rspr. behilft sich mit dem Kriterium eines aus „Anklage und Eröffnungsbeschluss“ sich ergebenden „geschichtliche(n) Vorgang(s)“, „innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll“.[119]
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Die Sperrwirkung des Doppelbestrafungs- und Verfolgungsverbots aus Art. 103 Abs. 3 GG erfasst vor allem verurteilende oder freisprechende (Sach-)Urteile[120] sowie den Strafbefehl,[121] da sie über eine inhaltliche Entscheidung über das Strafanspruch beinhalten. Prozessurteile wie etwa Einstellungsurteile, haben keine Sperrwirkung.[122] Eine nur eingeschränkte Sperrwirkung haben hingegen gerichtliche Einstellungsentscheidungen (z.B. §§ 153 Abs. 2, 153a Abs. 2 StPO) oder die Nichteröffnungsentscheidung (§ 204 i.V.m. § 211 StPO).[123]
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Keine Sperrwirkung haben im Grundsatz staatsanwaltliche Entscheidungen (Ausnahme: § 153a Abs. 1 S. 5 StPO).[124]
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Folgen eines Verstoßes: Wurde die Tat bereits rechtskräftig strafrechtlich abgeurteilt (Rn. 62 f.) und ist die Entscheidung von der Sperrwirkung des Art. 103 Abs. 3 GG erfasst (Rn. 64), liegt ein Verfahrenshindernis vor, das von Amts wegen zu beachten ist und zur Einstellung des Verfahrens führt (z.B. gem. § 385 Abs. 1 i.V.m. § 260 Abs. 3 oder § 206a StPO).
(2) Das europäische Doppelbestrafungs- und Verfolgungsverbot, Art. 54 SDÜ
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Art. 54 SDÜ erweitert das deutsche Verbot der doppelten Bestrafung bzw. Strafverfolgung gem. Art. 54 SDÜ auf den europäischen Raum.[125] Der EuGH spricht dabei dem europäischen Ne bis in idem-Grundsatz eine weitreichendere Bedeutung Art. 54 SDÜ zu, als es der deutschen Tradition entspricht. So soll eine „rechtskräftige Aburteilung“ i.S.v. Art. 54 SDÜ nicht nur durch gerichtliche Entscheidungen ergehen, sondern auch bereits dann vorliegen, wenn die „Strafverfolgung durch eine Entscheidung einer Behörde beendet wird, die zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege in der betreffenden nationalen Rechtsordnung berufen ist“.[126]
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Abweichungen ergeben sich auch bei der europarechtlichen Bestimmung der Identität der abgeurteilten Tat. So soll bei einer von Anfang geplanten „Schmuggelfahrt“ durch mehrere europäische Länder nur eine einheitliche Tat i.S.v. Art. 54 SDÜ vorliegen.[127] Diese extensive Interpretation hat zur Folge, dass auch die mitgliedstaatliche Bestrafung eines Teilgeschehens die Aburteilung wegen eines anderen Teils des Geschehens in einem anderen Mitgliedstaat sperrt.[128]
Anmerkungen
Engisch Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 26, unter Zit. v. Stammler.
Unionszollkodex (VO i.S.v. Art. 288 Abs. 2 AEUV); s. § 369 Rn. 5.
Vgl. § 370 Abs. 6; s. etwa BGH NStZ 2001, 201 (ital. EUSt).
Isensee NJW 1985, 1007, 1008; s. auch Flore/Tsambikakis-Gaede § 369 Rn. 10; zu den vielfältigen Verknüpfungen von Strafrecht und Steuerrecht im Steuerstrafrecht s. Joecks/Jäger/Randt-Joecks Einl. Rn. 2.
Ebenso Flore/Tsambikakis-Gaede § 369 Rn. 11: „Akzessorietät des Steuerstrafrechts“; § 370 Rn. 2; Radtke FS BFH, S. 569, 570: „akzessorische Strafrechtsauslegung“.
Zur Rechtstechnik des Zusammenlesens s. Kudlich/Oglakcioglu § 2 Rn. 59 ff.
BVerfGE 37, 201, NJW 1974, 1860, 1862 – Mineralölsteuergesetz (für § 392 a.F., der Vorgängerregelung zu § 370); BVerfG NJW 1995, 1883, 1883 (Nichtannahmebeschl.).
Den Blankettcharakter von § 370 bejahen: BVerfG NJW 2018, 480, 483 (Ust-Hinterziehung beim Handel mit Emissionszertifikaten); BVerfGE 37, 201, NJW 1974, 1860, 1862 – Mineralölsteuergesetz (für § 392 a.F., der Vorgängerregelung zu § 370); BVerfG BeckRS 2003, 21320 (Nichtannahmebeschl.); BVerfG NJW 1992, 35, 35 (Nichtannahmebeschl.); BGH NStZ 2007, 595, 595; BGHSt 34, 272, NJW 1987, 1274, 1276; BGH NStZ 1984, 510, 511; BGHSt 20, 117, NJW 1965, 981, 982 (für § 392 a.F.); offen gelassen bei BGHSt 37, 266, NJW 1991, 1306, 1310; zustimmend: Graf/Jäger/Wittig-Jäger Vor 396 ff. AO Rn. 3; Graf/Jäger/Wittig-Allgayer § 369 AO Rn. 20 ff.; Joecks/Jäger/Randt-Joecks Einl. Rn. 5; MK-StGB-Schmitz/Wulf § 370 AO Rn. 19; Gaede JA 2008, 88, 90. Den Blankettcharakter von § 370 verneinen hingegen: Weidemann wistra 2006, 132, 133. Eine nach dem Wortlaut differenzierende Position haben MK-StGB-Schmitz/Wulf § 370 AO Rn. 16; Hüls NZWiSt 2012, 12, 16 f. Zum Ganzen s. auch § 370 Rn. 2 ff.
Krit. etwa MK-StGB-Schmitz/Wulf