Götterfunken. Chris von Rohr

Götterfunken - Chris von Rohr


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Heiler und Leben. Sich Zeit zu nehmen, kostet Geld. Das sagt die Wirtschaft. Vom Piepsen des Weckers friert es mich an den Zähnen. Und doch muss ich den Halunken am Bettrand grummelnd akzeptieren, darf nicht schlafen, bis ich von selber damit fertig bin. Bedauerlicherweise lassen sich Brot und Früchte nicht im Schlummer verdienen. Abends hingegen, wenn mein Kopfkino die farbigsten und anregendsten Filme startet, soll ich gefälligst abschalten und schlafen. Tatendrang, hau ab, du kommst ungelegen! Weshalb kann der Tag überhaupt nicht mit dem Abend anfangen? Am Ende des Tages scheint mein geistiger Werkraum viel üppiger gefüllt zu sein Ich denke über eine Volksinitiative nach.

      Ich erlebte traurige, kranke und herzschwere Zeiten, in denen ich gern in die Hände geklatscht hätte, um im Spiel des Lebens drei Jahre vorzurücken – in der Hoffnung, dass die Zeit geheilt hat und ich bis dahin vielleicht den Bachelor in Sachen Weisheit geschafft hätte. Doch so läuft das nicht. Sie lässt sich gern Zeit mit dem Heilen von Wunden, die Zeit, und wir haben die Musse dafür verloren. Wir finden zu wenig Zeit, Verluste zu beklagen und sie zu Grabe zu tragen. Das wirkt ausserdem uncool. Brüche und Schicksalsschläge betrachtet der Trendsetter als Chance zur Neuorientierung und Ausgestaltung des Lebenslaufs. Ausgeleierte Lismersocken werden fröhlich entsorgt und durch anpassungsfähigere und durchlässigere intelligente Fasern ersetzt. Wir besitzen ferngesteuerte Backöfen, sensible Sonnenschütze, die sich selber aus- und einfahren, alleskönnende Smartphones, jedoch keinen Geschirrflickomaten.

      Das sollte jetzt eine Streicheleinheit sein für all die ewiggestrigen Schwerenöter, Melancholiker und Scherbenhaufenproduzenten, die ich von Herzen mag. Da kommt mir das Lied von Mani Matter in den Sinn: Mir hei e Verein, i ghöre derzue. Gibt es nicht auch noch den Verein derer, die die Zeit totschlagen müssen, die Metzger der Zeit? Gibt es solche, die nach einer Beschäftigung Ausschau halten – im gleichen Augenblick, in dem ich den Finger auf den Zeiger der Uhr drücken möchte, damit sie mir eine Verschnaufpause gönnt? In dem Augenblick, wo ich der Welt den Stecker ziehen möchte, suchen andere den Starterknopf. Menschen, die aus purer Langeweile ins Virtuelle abdriften oder online »Freunde« suchen, um »Spass zu haben«.

      Zeitgenossen aller Gattungen streben nach den unterschiedlichsten Dingen, um die Zeit zu geniessen – aber jeder ist auf seine Weise ihrem Galopp untergeordnet. Der Mensch ist Anschauungsmaterial der Vergänglichkeit, welche zugleich plagend und barmherzig ist. Wir können die Zeit nur im Geiste aushebeln. Wenn wir uns Geschichten erzählen aus der Vergangenheit, dann löst sie sich für einen Atemzug auf. Ich liebe diese zeitlosen Momente! Am häufigsten erlebe ich solche, wenn ich Musik mache. Da gerate ich in einen Fluss, der mich wegträgt aus dem Sekundentakt. Dieses Vertieftsein in etwas, das man liebt, ist vielleicht das erhebendste Gut der Menschen. Kinder können das noch bestens in ihrem Spiel. Neugierig, witzig, leichtfüssig, frei, herzoffen, urvertraut und voll da. Eine arglose, in die Natur hinaus ergänzte, erweiterte Freudigkeit.

      Ich kann es kaum erwarten, in den »Mouse-Room«, mein Einstern-Zimmer im Süden Kretas einzuchecken und alles andere auszustecken. Dort, wo die Zeit noch nicht dem Rasertum verfallen ist, kann ich meine Seele schweben lassen, die Sterne betrachten, mit meinem Tochterherz braune, ausgetrocknete Erde bewandern, ins vom Sommer gewärmte Salzwasser springen, Berge von griechischem Salat verspeisen, Raki trinken, Gespräche mit einheimischen Zeitzeugen führen, ein paar Akkorde auf der Gitarre schrummen, ein Hemingway-Buch lesen und immer wieder das Meer betrachten, bis die Zeit wieder zu mir zurückfindet und sich für eine kleine, luxuriöse Ewigkeit reumütig in meinen Schoss legt. Wie damals in Neuenburg.

      Alles schön ruhig und friedlich. Die Hälfte des Landes ist weg. Fühlt sich an wie Neunzehnhundert-Blumenkohl. Sommer! Du hast mich gelehrt, dich zu packen, wenn du endlich mal wieder zu Gast bist hierzulande. Dein magischer Zauber hält nur kurz und schon bist du wieder weg.

      Ich entspanne auf einer orangefarbenen Luftmatratze. Der See liegt spiegelglatt und flimmernd vor mir. Die Sonne brennt mit voller Kraft herunter und spiegelt einen blauen, von gross geballten, schneeweissen Sommerwolken durchzogenen Himmel. Hinter mir entfernt sich langsam das schattige Wiesenufer mit seinen tief hängenden Trauerweiden. Mit dem Ufer bleibt auch das zurück, was mich dort umtreibt und beschäftigt. Je weiter ich in diesen See hineingleite, die Gerüche, die Farben und Geräusche aufnehme, desto fremder und unbegreiflicher wird das eben noch Gewichtige. Die Sonne prickelt auf meiner Haut, wohlig bis tief in die Knochen hinein, und ein laues Lüftchen umschmeichelt mich. Liebe Leser, so muss sich die Ankunft im Paradies gestalten …

      Daheim liegen Notizblöcke voller guter und schlechter Ideen, an die 50 unbeantwortete E-Mails, Briefe, inflationäre Werbebroschüren, Rechnungen, die fällig sind, Einladungen, die ich ablehnen muss, aufgeschlagene Magazine, Zeitungen, Bücher und ein Haufen waschfälliger Kleider. Alle diese Dinge erscheinen mir hier auf dem See plötzlich fremd, überflüssig – einer verirrten, grotesken

      Welt zugehörig, der ich heute entkommen bin und mit der ich zunehmend meine Mühe habe. Es ist die busygoing-nowhere-Falle – zu viel machen, reden und studieren – zu wenig freies Leben. Ich weiss, dass es vielen Menschen auf diesem Planeten so geht, nur tröstet mich das wenig.

      Wenn ich hier und jetzt in diesen vieltausendjährigen, tiefblauen Himmel blicke, die Wolken gelassen vorbeiziehen sehe, wenn diese Berge, so majestätisch, kühn und unverrückbar klar vor mir stehen – wie kann es da sein, dass daneben all dieser lumpige Alltags-Bagatell-Kram der Trostpflaster-Konsumwelt noch ihre Relevanz hat? Warum lassen wir uns da bloss immer wieder so reinziehen? Die fragwürdige Kunst eines jeden Tages ist doch heute, die Perlen im ganzen Ramsch zu finden, der uns umgibt und angeboten wird. Doch selbst die Lüge dient der Wahrheit und die Schatten löschen die Sonne nicht aus, vor allem nicht im Sommer. Auf geht’s …

      Wieder zu Hause, fragt mich meine liebe Tochter, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr ins nahe liegende Kloster zu gehen. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen nach dem See. Eine braungekleidete Kapuzinernonne öffnet uns freundlich die Pforten. Lange dunkle Gänge führen in den Innenhof. Ein paar Schwestern machen im Halbschatten ein Kartenspiel. Wir zwinkern ihnen zu und ich glaube, sie freuen sich, zwei so bunte, streunende Hunde in ihren Mauern zu sehen. Es fühlt sich gut und sehr kühl an. Die Kirchen und Klöster sind ja eigentlich die Erfinder der Aircondition … nur liess es sich nicht patentieren.

      Wir lassen uns den umwerfend schönen Garten zeigen. Wie man mir berichtete, durfte man früher hier nur unter strenger Strafe aus den Klosterzellen darauf herunterblicken. Zu gross waren wohl die Verführungskraft und die Ablenkung all der prächtigen, alten Rosen, Hortensien, Lindenbäume und dem berauschenden Jasmin und Lavendel. Das passte nicht zur streng auferlegten Kasteiung der jungen Nonnen – obwohl sich eigentlich Gott, oder wie wir es nennen wollen, in dieser wunderbaren Natur, in all den Blüten, Früchten und Düften so gross und stark offenbart.

      Wir ergreifen die Gelegenheit und nehmen auch noch am anschliessenden Vesper, dem liturgischen Abendgebet, teil. Da sitzen fünfzehn ältere Nonnen im Halbkreis in einem holzgetäfelten Raum in engen, unbequemen Chorstühlen und lobpreisen mit wackligem aber herzvollem Gesang Gottvater, Gottsohn und den heiligen Geist – fern von der Aussenwelt und ohne Nachkommenschaft. Far out! Ein wirklich spezieller Moment, den ich mit meiner Tochter erleben durfte.

      Spätnachts im Bett sinniere ich über diesen Tag, das Erlebte, über die Vergänglichkeit und ob jetzt ich oder die Nonnen etwas im Leben verpasst haben … Wie lange mag mein Tochterkind wohl noch so schöne Ausflüge mit mir machen? Ist meine neue Songidee dazu himmlisch genug? Ganz leise hallt ein Ferngewitter. Mein Haus liegt zwischen drei Klöstern und auch morgen werde ich wieder von einem ihrer Glöcklein geweckt werden. Die wunderbaren schwarzen Kirschen und Aprikosen warten auf dem Tisch und ich bin frohgemut, dass sich ein weiterer Sommertag ankündet. Ich möchte unbedingt noch die Gefilde goldener und rauschender Ähren besuchen, bevor sie die Sense oder der Mähdrescher bald schon zu sich holt. Und schliesslich bitte ich noch den grossen Manitu, er möge mir Ruhe, Durchlässigkeit und Kraft geben. Ich meine damit die Art von Kraft, die uns wieder mehr eins sein lässt mit dem Schöpfer und die uns in den Schoss der Natur zurückführt. Oh Sommer, tust du mir gut!

      Die Sonne nickte dem Städtchen Solothurn freundlich zu und ich spielte


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