Ändere deine Welt. Cédric Herrou

Ändere deine Welt - Cédric Herrou


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dass es Kontrollen aufgrund der Hautfarbe gebe. Aber sind die wieder eingeführten Grenzkontrollen etwa nicht rassistisch motiviert? Der Kampf gegen die Einwanderung kein staatlicher Rassismus? Was denkt sich der Minister, wenn er den Polizisten befiehlt, den Zustrom von Flüchtlingen zu kontrollieren: dass sie blauäugige Blondschöpfe anhalten, um zu überprüfen, ob sie afrikanischer Herkunft sind?

      Das Royatal wird der Gewalt und dem Rassismus geopfert. Es gehört nicht mehr zu Frankreich, es ist Niemandsland, ein Ort, wo der Staat das Recht auf den Kopf stellt und manche Bewohner darauf reagieren, indem sie auf die staatlichen Anordnungen pfeifen. Ich höre, wie die Präfekten, Minister und Politiker in Paris unsere Aktionen anprangern: eine »ultralinke« Gruppe, »No Borders«, die die Abschaffung der Grenzen fordern, »Verantwortungslose« oder »Naive«. Nein, verdammt! Am liebsten würde ich sie an der Krawatte hierherzerren, damit sie nur eine einzige Nacht bei uns verbringen. Ich würde ihnen die Jugendlichen vorstellen, deren Füße von den Fußmärschen in ungeeigneten Schuhen durch Wald und Feld, entlang der Eisenbahngleise oder auf der Straße geschwollen und aufgesprungen sind. Ich würde sie zwingen, das infolge der Folterungen in Libyen entzündete Gewebe zu berühren. Ihnen zeigen, welche Spuren ein Nagel zwischen Hoden und Anus eines Siebzehnjährigen hinterlassen hat. Ich würde diese Demagogen mit den glatten, sauberen Händen am liebsten bitten, ihre Anweisungen persönlich in die Tat umzusetzen: Holen Sie sie doch selbst! Schicken Sie sie selbst nach Italien oder Libyen zurück, wie Sie angeordnet haben! Erklären Sie dem Mädchen, das über Bauchweh klagt, dass sie von ihrem libyschen Vergewaltiger schwanger ist!

      Die Männer in Grau tun mir leid. Ihre Gefühllosigkeit bestürzt mich. Wir haben ihnen aus Feigheit unsere Macht überlassen – und sie missbrauchen sie, um zu diskriminieren, zugleich Richter und Partei zu sein. Das Resultat dieser schlechten, demagogischen Politik ist Misshandlung. In ihren Reden behaupten die Politiker, die Migranten gefährdeten die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Doch für diese Gefährdung ist der Staat selbst verantwortlich. Die Werte unserer Republik werden von denjenigen mit Füßen getreten, die mit ihrem Schutz betraut sind. Der Präfekt ist der »bewaffnete Arm« einer Politik, die aus reinem Populismus die Zahlen der Rückführungsstatistik in die Höhe treibt und unterschiedslos Männer, Frauen und Minderjährige abschieben lässt.

      Im »Kampf gegen die illegale Einwanderung« sind die Grenzkontrollen vor allem eine Botschaft. Der Präfekt verkündet regelmäßig, er schicke Tausende von Menschen nach Italien zurück, aber seine Rechnung ist falsch. Er lässt mehrmals ein und dieselben Geflüchteten »entfernen«, denn die versuchen ihr Glück immer wieder aufs Neue, bis sie es schaffen. Mit dieser Politik schwächt die Regierung die extreme Rechte nicht, wie sie behauptet, im Gegenteil, sie stärkt sie. Die aufgeblasenen Zahlen sollen glauben machen, es gäbe eine »Flüchtlingskrise«, dabei handelt es sich um eine Aufnahmekrise – man will die Aufnahme nicht organisieren, obwohl das Völkerrecht und die internationalen Abkommen uns dazu verpflichten.

      11. Über die Grenze

      Sobald das Fahrzeug in Ventimiglia beladen war, herrschte tiefes, angespanntes Schweigen. Ich fuhr mal schneller, mal langsamer, um herauszufinden, ob ich verfolgt wurde. In diesem Fall kehrte ich um oder machte halt vor einer Bar. Ich musste nach vorn und nach hinten schauen. Wenn ich weinte, war da nur Sand, meine Augen brannten, tränten aber nicht. Gern hätte ich, wie Petit Bouddha, eine Träne in jedem Auge gehabt, die für immer dort blieb, nur zum Befeuchten. Mein Mund schmeckte nach Eisen, als ob mein Magen blutete.

      Petit Bouddha folgte mir überallhin, rannte aber nie; er hörte mir zu, ohne zu antworten. Er trug ein kurzes weißes Hemd. Seine Eltern wussten nicht, wie alt er war, zudem ähnelte er seinen drei Schwestern nicht. Ich begriff schnell, dass sie ihn erst vor kurzem aufgelesen hatten. Vermutlich waren seine richtigen Eltern im Meer, in Libyen oder in der Wüste umgekommen; seither war er verstummt, aber seine Lippen deuteten immer ein Lächeln an. Er hielt sich aufrecht, kerzengerade, immer zwei Tränen in den Augen, die mich fest im Blick behielten. Ich hatte ihn sehr gern.

      Wir beobachteten die Küken, die überall herumhüpften. Mittags gesellten wir uns zum Rest der Familie, den Eltern und ihren drei kleinen Töchtern. Seit ein paar Wochen aß ich nicht mehr allein. Der Tisch auf meiner Terrasse war gedeckt – Reis mit Gemüse, wie üblich. Ungeduldig warteten wir darauf, dass die Tomaten reif wurden, ein oder zwei Wochen noch.

      Lucile und ich kannten uns allmählich gut. Einziges Manko: Sie war hyperaktiv, was mich dazu zwang, es auch ein bisschen zu sein. Mal machte sie das Essen, mal ich, oder die Eltern wechselten sich ab. Nachmittags arbeiteten wir im Garten, kümmerten uns um die Hühner, sammelten die Eier ein. Donnerstags lieferten wir die Erzeugnisse aus und fuhren unsere Gäste zu einem Bahnhof weit hinter Nizza. Kinder herumzukarren, die zwischen zwei Stapeln Eierpaletten versteckt sind, kam uns schließlich derart normal vor, dass wir uns wunderten, wenn manche Freunde von Roya citoyenne »leer« nach Nizza fuhren.

      »Wie, ihr habt niemanden mitgenommen?«, fragten wir sie ungläubig.

      Ermaßen wir das Risiko noch? Ich bin nicht sicher. Anfangs war die Straße vom italienischen Ventimiglia ins französische Breil nicht überwacht. Die einzige Gefahr war, dass die Bullen sahen, wie ich bei der Kirche Leute ins Auto lud. Dort trieben sich französische Zivilpolizisten herum, aber wie sollte ich die erkennen, zumal, wenn sie sich als »Gesindel« verkleidet hatten? Bis jetzt waren wir ihnen zum Glück entgangen.

      Die Straße von Breil nach Nizza hingegen wurde von der Polizei viel engmaschiger überwacht. Wir starteten in der Morgendämmerung. Lucile fuhr mit dem Kastenwagen voraus, der mit Hoferzeugnissen beladen war. Ich folgte sechs Minuten später mit unseren »Reisenden«. An jeder kritischen Stelle rief Lucile mich an. Wenn sie auf Bullen traf, kein Anruf. In dem Fall verließ ich die Strecke und fuhr ziellos herum oder hielt an. Sie beeilte sich, zu uns zurückzufahren, damit wir nicht lange warten mussten, denn mit meinen hinten zusammengepferchten »Reisenden« war das riskant.

      Ihre Rolle erwies sich als schwierig und stressig, aber unsere fast symbiotische Verbindung erleichterte unsere Aktionen. Allein der Klang ihrer Stimme verriet mir, ob die Straße sicher war, ob etwas sie nervös machte oder ob sie Angst hatte. Wenn ich mit Mitstreitern von Roya citoyenne »Reisende« transportierte, war das ganz anders. Viele hielten sich nicht an die Abmachungen, manche telefonierten am Steuer und gingen dadurch ein unnötiges Risiko ein; andere dachten, das Ganze sei ein Spiel, und hielten sich weder an den Abstand zwischen den beiden Autos noch an die Abmachungen für die Telefonate. Jedes Detail zählte. Man sollte nicht sagen: »Achtung, bei der Ausfahrt Monaco sind Bullen«, höchstens: »Ausfahrt Monaco gesperrt«.

      Ich habe Autos mit »Reisenden« das Vorausfahrzeug überholen sehen … Der Grund? Der Fahrer wollte pinkeln! »Die Bürgerinitiative Roya citoyenne, eine perfekt organisierte Bande!«, behaupteten der Präfekt und der Staatsanwalt später. Sie hatten keine Ahnung von der Wirklichkeit.

      Wenn ich Personen von Ventimiglia mitbrachte, erwartete Lucile sie unten am Weg, beruhigte sie und gewann ihr Vertrauen. Später hielt sie Kontakt zu den Familien und blieb in enger Verbindung mit ihnen. Ich dagegen wollte Abstand halten und sie vergessen, sobald sie weg waren. Zumindest versuchte ich es. Ciao, Petit Bouddha …

      Zu der Zeit verlief das Leben bei mir ziemlich normal, in einer Art Ferienstimmung. Auch wenn wir nicht dieselbe Sprache sprachen, waren wir heiter, zumal sich die Gesichter unserer Gäste innerhalb weniger Tage veränderten; ihre Züge wurden gelöster, ihre Brauen entspannten sich, sogar ihr Schritt schien beschwingter zu werden. Abends tranken Lucile und ich Bier bis spät in die Nacht. Betrunken sein hilft, die Dinge nicht mehr so ernst zu nehmen und sich Fantasiewelten auszudenken, um die Brutalität der Umstände aus dem Kopf zu kriegen.

      Mit Huberts Hilfe, der uns Ratschläge gab und Kontakte


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