Ändere deine Welt. Cédric Herrou

Ändere deine Welt - Cédric Herrou


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zu schützen. Mit mir zusammen nach Ventimiglia zu fahren, war verboten! Kein Freiwilliger nahm an Fahrten über die Grenze teil; ich zog es vor, allein in Polizeigewahrsam genommen zu werden. Lucile war stark, aber wild, und ich glaubte nicht, dass sie einem Gefängnisaufenthalt standhalten würde; als junge Frau hätte sie eine Menge einstecken müssen.

      Während ihrer Zeit im Royatal hat sie solche emotionalen Achterbahnfahrten erlebt, dass ihr das Leben nach ihrem Abschied im März 2017 fade vorkam. »Wenn du ins ›normale‹ Leben zurückkehrst, erscheint dir alles flach«, erklärte sie mir. »Es fühlt sich fast an, als wäre man tot. Im Royatal habe ich Gefühle entdeckt, die ich vorher nicht kannte oder die sich verzehnfacht haben. Das hat mich enorm anpassungsfähig gemacht und mir sogar geholfen, einen Job zu bekommen.«

      12. Schleuser

      Der Bahnhof von Ventimiglia ist voller Menschen. Die Schleuser treiben nach Nationalitäten sortierte Gruppen von Migranten vor sich her. Unter ihnen erkenne ich ein Mädchen aus der Kirche wieder, ich fasse sie an der Schulter und halte sie zurück. Der Schleuser kommt auf mich zu. Ich schreie ihn an: »Einen Schritt weiter, und ich polier dir die Fresse und verpfeif dich bei den Bullen da drüben!«

      Er schaut mich drohend an, dann wendet er sich wieder seinen Geschäften zu. Er benimmt sich wie der Herr im Haus, unantastbar, und organisiert seinen Menschenhandel wie ein Viehhändler Schafe. Er stellt Gruppen zusammen, lädt sie ins Auto und kassiert, die italienischen Bullen schauen tatenlos zu. Unbehelligt profitiert der Schleuser von den geschlossenen Grenzen und betreibt sein Business. Je härter die Repressionen gegen die Geflüchteten, desto höher sein Tarif. Hier wird alles verkauft: Dienstleistungen, Telefonnummern und die Körper junger Mädchen.

      Wenn man künstliche Barrieren errichtet, um Menschen ohne Geld auszusperren, schafft man ein System, das die Gesellschaft sehr viel mehr kostet, den Menschenhandel. Schleuser werden verteufelt, aber ich wiederhole: Wenn man die Bullen abzieht, gibt es keine Schleuser mehr. Es ist wie mit den Drogen – die Kriminalisierung erzeugt den illegalen Handel erst.

      Ein paar Monate später kam ich nach einer Verhaftung in der »Mausefalle«, das ist das Untersuchungsgefängnis des Justizpalasts in Nizza, mit fünf Schleusern in Kontakt. Ich unterhielt mich durch die Gitterstäbe mit einem von ihnen, der am Steuer eines Transporters festgenommen worden war, in dem sich etwa zwanzig Personen befunden hatten. Er weinte, sprach kaum Französisch, ich versuchte ihn zu beruhigen. Man hält all diese Schleuser für Schwerkriminelle, dabei sind es oft Verlorene, illegale Einwanderer, Tagelöhner.

      Er erklärte mir, dass er für vier Hin- und Rückfahrten zwischen Ventimiglia und Nizza pro Tag vierhundert Euro bekam. Er brauchte Geld und hatte kaum die Wahl. Er war keiner, der Befehle gab, sondern ein Befehlsempfänger, wie man sie oft unter Straftätern findet. Da er niemanden geschlagen oder bestohlen hatte, wusste er nicht, was er falsch gemacht hatte.

      Dank seinen Erklärungen habe ich besser verstanden, was sich an der Grenze wirklich abspielt. In Ventimiglia stellen Anwerber die Gruppen zusammen und kassieren das Geld, dann werden den Fahrern Transporter zur Verfügung gestellt. Weder Fahrer noch Anwerber kennen den Auftraggeber, also denjenigen, der diese Zwischenhändler benutzt. Sie allein tragen das Risiko; der Strippenzieher bleibt unantastbar.

      Ich habe kurz überschlagen, wie viel der Auftraggeber pro Tag kassierte. Vier Fahrten mit zwanzig Personen, die je 150 Euro bezahlen, das macht mit 12’000 Euro einen schönen Batzen Geld, minus die 400 Euro für den Fahrer und vermutlich ebenso viel für den Anwerber. Also 11’200 Euro Gewinn pro Tag. Die Schließung der Grenze schadet nicht jedem … Nach manchen Schätzungen werden mit Menschenhandel weltweit jährlich 27 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Aber in der kleinen Stadt Ventimiglia hat die Polizei die Köpfe des Schleuserrings nie geschnappt. Und mein Zellennachbar landete im Gefängnis, während sein Boss ungestört einen Profit von Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausenden von Euro machte.

      Manche Schleuser verkaufen auch nur einen Rat. Da sie schon so manche Grenzüberquerung ausprobiert haben, kennen sie die sicheren Wege und verkaufen dieses Wissen an die Neuankömmlinge. So »arbeiten« sie ein oder zwei Jahre, um ihre Überfahrt nach England zu finanzieren. Andere hingegen sind Arschlöcher und betrügen die Exilierten. Sie tun so, als würden sie sie nach Frankreich fahren, und setzen sie dann in einer anderen italienischen Stadt aus. Die Verrücktesten durchbrechen mit Vollgas die Straßensperren – man kann sich denken, wie gefährlich das für die hinten in den Transporter gepferchten Personen ist. Und dann sind da noch die Taxifahrer, die in Ventimiglia Leute aufnehmen und bei einer Kontrolle die Ahnungslosen spielen, nach dem Motto: »Ich mach nur ’ne Fuhre – ich frag doch nicht, ob der Fahrgast Papiere hat.«

      Am Schlimmsten sind die Raubtiere, die die Prostitutionsringe versorgen. Angewidert von den Übergriffen, Belästigungen und Vergewaltigungen, die uns zu Ohren kamen, stellten wir in Ventimiglia Nachforschungen an, um ein Organigramm der größten Schleuserringe zu erstellen – wer sind die Bosse, wie verstecken sich die »Zwischenhändler« unter den Geflüchteten, bevor sie die Fahrten über die Grenze organisieren … Wir haben diese Liste den Gendarmen und der Grenzpolizei übergeben, mit Telefonnummern, Personenbeschreibungen und ungefährem Alter.

      Aber all diese »Ordnungskräfte« scherten sich nicht darum, sie waren zu sehr damit beschäftigt, uns aufzuspüren. Während sie verbissen Jagd auf uns machten, sind mehrere Mädchen vergewaltigt worden und anderen wurde ein kostenloser Grenzübertritt nach Frankreich gegen gewisse »Gefälligkeiten« angeboten, Prostitution. Weder die französischen Behörden noch ihre italienischen Kollegen störten sich an diesen Machenschaften, die sich vor ihren Augen abspielten.

      Manche Polizisten beteiligten sich sogar an den Schleuserfahrten, wie jener Wachtmeister, der im Juni 2017 an der Mautstelle von La Turbie vorläufig festgenommen wurde, als er in seinem Peugeot 106 einen Gambier und drei Senegalesen beförderte. Er gestand sieben bis zehn Schleuserfahrten mit je drei bis vier Personen, von denen jeder zwischen 125 und 250 Euro gezahlt hatte. Sein Motiv? Überschuldung. Er verdiente 3000 Euro! Vor Gericht sprach der Polizist, der seit über zwanzig Jahren in Nizza seinen Dienst versah, von einem »großen Fehler«. »Das war kein großer Fehler, das war eine schwerwiegende Straftat, begangen über einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten«, korrigierte ihn die vorsitzende Richterin. Er wurde zu achtzehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt und sofort inhaftiert.

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