Ändere deine Welt. Cédric Herrou

Ändere deine Welt - Cédric Herrou


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      Jean-Marie Gustave Le Clézio

      Nizza, 16. August 2020

      1. Primavera

      Das Motorrad rast die Talstraße hinab, legt sich in die Kurven. Es röhrt auf Hochtouren wie ein alter Traktor, und das Echo hallt von den mit jungen Flaumeichen- und Pinienwäldern, Olivenbäumen und Ginster bewachsenen Felsen wider. Dann, an der Fassade baufälliger Gebäude, so grau wie der Fels im Bett der Roya, sind ein paar fast unleserliche Buchstaben zu erkennen, »Zoll«. Der Mann auf dem Rücksitz klammert sich an die Jacke des Fahrers. Sie kommen aus dem Royatal in den Alpes Maritimes mit ihren schneebedeckten, fast dreitausend Meter hohen Gipfeln.

      Sie haben Breil-sur-Roya durchquert, wo an den Ästen der Olivenbäume, im Widerspruch zu den verschneiten Gipfeln, schon kleine Trauben weißer Blüten hängen. Manche beginnen sich bereits zu öffnen und einen milden, süßen Duft zu verströmen, der ein nach Mandeln, Artischocken, frisch gemähtem Gras oder, je nach Reife, nach Heu schmeckendes Öl verspricht. Dieses schöne Tal verbindet die verschneiten Berge im südlichen Piemont mit dem Mittelmeer, Frankreich mit Italien. Zwei Staatsgebiete, die sich dieselbe Landschaft teilen, dieselben Wege benutzen, dasselbe Wasser trinken, denselben Boden nach denselben Riten kultivieren. Der Mond, der Herrscher über die Kulturen, hat dort mehr Macht als die Schrift.

      Das Motorrad hat seit ein paar Kilometern die Grenze passiert und befindet sich im Niemandsland, wo alte Gebäude, italienische wie französische, von einer vergangenen Epoche zeugen. Es fährt weiter die Roya entlang bis zu ihrer Mündung in Ventimiglia, einem Touristenstädtchen an der Küste, das für seinen Schmugglermarkt bekannt ist, und wendet sich dann nach Westen in Richtung Menton. Etwa hundert Meter vor der Grenze an der Küste ertönt plötzlich die schrille Stimme des Mitfahrers: »Pass auf, da sind Bullen!«

      Auf den Buhnen, Felsblöcken, die die Wellen brechen sollen, stehen etwa hundert ebenholzschwarze Menschen und auf beiden Seiten der vorbeiführenden Straße italienische und französische Polizisten, reglos wie Statuen, die diese Menschen blockieren. Die Atmosphäre ist bedrückend. Der Motorradfahrer meint die sich mischenden Sprachen zu erkennen: Französisch, Italienisch, Englisch, Arabisch. Er erkennt auch Gesichter aus seinem Tal, fragt sie, was los ist, und erfährt, die Menschen mit ebenholzschwarzer Haut sind »Migranten«, die weder Italien noch Frankreich haben will. Sie haben sich auf die Felsen im Meer gestellt und drohen, sich ins Wasser zu stürzen, wenn die Polizei versucht, sie abzutransportieren, und sie können nicht schwimmen. Auf dem Trottoir türmen sich Wasserflaschen und die allernötigsten Dinge zum Leben. Ein Stromaggregat speist eine ganze Reihe von Steckerleisten, an denen dutzende Mobiltelefone aufgeladen werden.

      Etwas Derartiges sieht der Motorradfahrer zum ersten Mal in Europa. Er begegnet dem Blick eines etwa zwanzigjährigen Mannes. Eine Narbe unter dem rechten Auge, das etwas gelbliche Weiß der Augen, er flößt ihm kein großes Vertrauen ein. Der junge Mann lächelt ihn an. Verlegen deutet der Motorradfahrer ein leichtes Nicken an und setzt seinen Helm wieder auf. Nach ein paar Metern wird er von italienischen Polizisten kontrolliert, die seine Papiere fotografieren und fragen, was er hier tue.

      »Nichts.«

      »Ok, buona giornata.«

      Als der Motorradfahrer weiterfährt, fühlt er sich unwohl. Der Mann auf dem Rücksitz scheint eine Tonne zu wiegen. Widersprüchliche Gefühle beherrschen ihn, eine Mischung aus Empathie und Verständnislosigkeit. Wer sind diese Leute? Woher kommen sie, wovor fliehen sie? Warum haben sie eine so gefährliche Reise gemacht, um dann auf diesen Felsen zu stranden? Was wollen sie, was erwarten sie? Was für Pläne haben sie, haben sie überhaupt welche?

      So, wie sie da standen, so viele auf einmal, sieht er keine Einzelnen mehr, er sieht eine Gruppe – und eine Gruppe macht Angst. Er schafft es nicht, diese Menschen als Einzelne zu sehen, er sieht eine Masse unter dem Oberbegriff »Migranten«. Wie kann man gegenüber einer solchen Menschenmenge Empathie empfinden? All diese Fragen erschrecken ihn. Er fährt nach Hause; dann vergisst er sie.

      2. Mein erstes Mal

      Ein Jahr später, im Frühjahr 2016. Diesmal sitze ich nicht auf dem Motorrad, sondern in meinem Kastenwagen C15; ich fahre dieselbe Strecke in umgekehrter Richtung, von Ventimiglia nach Breil-sur-Roya. Ich kenne die kurvenreiche Straße in- und auswendig und habe die schlechte Angewohnheit, die Kurven mit einem Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen zu nehmen. Plötzlich tauchen in der Dunkelheit Gestalten vor mir auf, die die Straße entlanglaufen. Aus meinen Träumereien aufgeschreckt, reiße ich das Steuer herum, um ihnen auszuweichen. Mit einem Kloß im Hals drücke ich meine Kippe aus und fahre weiter.

      Es ist Donnerstagabend; wie jede Woche habe ich meine Eier, meine Pasta und mein Olivenöl in Nizza ausgeliefert. Vor ein paar Jahren habe ich dort Kunden gefunden, die Achtung vor der Landwirtschaft haben, keine Massenkonsumhändler. Wenn es wegen des Wetters oder eines Fuchsüberfalls weniger Eier gibt, haben sie Verständnis; in der einen Woche bekommen sie kaum etwas, die nächste ist besser, das sind eben die Wechselfälle der Landwirtschaft.

      Aber was tun diese Leute auf der Straße? Ich meine, Kinder gesehen zu haben … Die Nacht ist so dunkel, und sie haben keine Lampe – ich habe Angst, dass sie überfahren werden. Ich bin genervt. Kehre um. Auf ihrer Höhe angekommen, erkenne ich zwei Kinder und ihre Eltern. Es muss Mitternacht sein. Ihre Haut ist so dunkel wie die Nacht, die von meinen Scheinwerfern nur schwach erleuchtet ist. Ich schlage ihnen vor, hinten einzusteigen, sich zwischen die leeren Eierkartons zu setzen. Sie wollen zu einem Bahnhof. Aber zu dieser späten Stunde fährt kein Zug mehr. Ich lade sie zu mir ein und biete ihnen an, sie am nächsten Tag zu begleiten.

      Unten an dem steilen Pfad, der zu meinem Haus führt, spüre ich, dass sie Angst bekommen. Weiter unten die etwas bedrohlichen Fluten der Roya. Gegenüber an der Gebirgsflanke steigt der Hang steil an, und man sieht praktisch nichts durch die dichte Vegetation. Dort hinauf sollen sie. Nicht sehr beruhigend. Dieser Bärtige mit der runden Brille könnte sie entführen, ausrauben oder Schlimmeres, wie das auf den Wegen des Exils oft genug passiert …

      Nur die beiden Kinder scheinen vertrauensvoll; das ist das Gute mit Kindern: nicht nötig zu reden, Blicke genügen. Die Mutter wirkt erschöpft und hinkt; der Vater, ernst, bleibt stumm. Wir steigen im Gänsemarsch hinauf, einen Jungen habe ich auf dem Arm, der größere geht im Schein meiner Stirnlampe hinterher.

      Ich habe dieses verwilderte Stückchen Land 2002 gekauft, wieder urbar gemacht und hergerichtet. Seit dem Krieg nicht mehr genutzt, war das weite Gelände am Hang ein Dschungel, das Haus fast eine Ruine. Ich habe mich um die Olivenbäume gekümmert und meine Hühner aufgezogen. Ich bin glücklich hier oben, weit weg von der Welt, die mir oft unerträglich ist. Jetzt holt sie mich ein.

      Wir essen schnell eine Kleinigkeit. Der Mann legt sich aufs Sofa, die Frau mit den beiden Kindern auf eine Matratze auf dem Boden, unter ein paar Decken. Ich klettere in mein Zimmer auf der Galerie hinauf, direkt über ihnen, voller Unbehagen, aber beruhigt, sie nicht mehr am Straßenrand zu wissen. Nachdem ich selbst schon Tausende Kilometer per Anhalter gefahren bin, kann ich doch niemanden am Straßenrand stehen lassen.

      Am Morgen weckt mich Kaffeeduft, die Matratze ist weggeräumt, die Decken zusammengefaltet, alle vier sind draußen auf der kleinen Terrasse. Ich radebreche die paar Brocken Arabisch, die ich während meiner Afrikareise gelernt habe, und sage, dass ich Brot kaufen gehe. Ein Vorwand, um fünf Minuten allein zu sein und nachzudenken.

      3. Persona non grata

      Auf dem Weg zur Bäckerei rufe ich eine Freundin an, Françoise Cotta, halb Punk, halb Bourgeoise, exzentrisch und anständig und eine angesehene Pariser Strafverteidigerin. Sie hat ein Haus in Breil, wo sie sich oft aufhält. Sie nimmt ab und erklärt mir ohne die geringste Verlegenheit, dass ich sie störe. Für diese Unverblümtheit ist sie bekannt. Sie geht ihr zufolge auf einen Herzanfall zurück, den sie vor ein paar Jahren hatte; seither nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Aber dann antwortet sie wie aus der Pistole geschossen: Sie wird mir helfen, die kleine Familie


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