Staubfänger. Lucie Faulerová

Staubfänger - Lucie Faulerová


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in Freude verwandeln, wenn sie ihre Energie in jemand anderen investieren können, der die Dinge so macht, wie sie es wollen. An der Mutterliebe gibt es nichts Natürliches, nichts Instinktives. Vergessen wir Darwin für eine Weile. Mutterliebe wird aus den abartigsten Winkeln gespeist, daran gibt es nichts Reines. Sie entsteht aus der Sehnsucht, lebenslange Macht über das menschliche Leben zu haben.

      Was würde Mercedes dazu sagen? Sie würde vermutlich sagen: »Und was ist denn rein, mein goldiges Schätzchen? Reines Gold?« Und Ondřej würde sagen: »Wer nicht beleidigt werden will, den beleidigt niemand.«

      Ich ging von meiner Schwester nach Hause und bereute es, dass ich nicht mit dem Auto unterwegs war. Ich ging ungefähr drei Kilometer zu Fuß, unglaublich schnell wurde es dunkel und auch immer kälter. Ich erinnerte mich daran, dass mir, als ich klein war und in der Dämmerung nach Hause ging, oft eine Geschichte, eine Vorstellung durch den Kopf ging: Der ganze Stadtteil mit seinen identischen Straßen hatte sich in eine Parallelwelt verwandelt, in der alles haargenau gleich, aber doch auch ganz anders war. Und von dieser Transformation wusste nur ich, denn nur ich verwandelte mich nicht. Auf einmal war alles dunkel und fremd. Ängstlich ging ich durch die Dunkelheit und stellte mir vor, wie anders alle sein werden, sobald ich nach Hause komme. Mutter, Vater, Schwester. Ich würde nach Hause kommen und wissen, dass das nur Nachbildungen meiner Familie sind. Mechanische Maschinen vielleicht, die aussehen wie Menschen, oder Außerirdische, die aussehen wie Menschen, oder Teufel aus der Hölle, die aussehen wie Menschen. Und das Schlimmste daran war nicht, dass sich alles änderte und entfremdete, dass alles dunkel wurde, wie die Straßen, durch die ich ging. Das Schlimmste daran war, dass nur ich dieselbe war. Und dass ich es niemandem sagen konnte. Dass ich es nicht einmal versuchen konnte, weil alle sich verwandelt hatten. Und weil sie wussten, dass ich ich geblieben war. Das beunruhigte mich am meisten. Als ich dann nach Hause kam, fragte ich meine Mutter und meine Schwester immer und manchmal auch meinen Vater (und die waren davon meist ziemlich genervt) nach Sachen, die nur meine »echten« Familienmitglieder wissen konnten.

      Da war ich ungefähr sieben oder acht.

      Und als ich dann so nach einiger Zeit wieder durch die still gewordenen Straßen nach Hause ging, war ich von dieser Vorstellung nicht mehr beunruhigt. Ich wünschte mir sogar, es wäre so. Mir wurde klar, dass sie sich in nichts Schlimmeres mehr verwandeln konnten. Dass ich sogar froh wäre, wenn sich die Welt ändern würde, während ich nicht zu Hause war. Vielleicht wäre sie dann ein Ort, an dem ich gern bleiben würde.

      Das war, bevor Miriam meinen Vater umgebracht hat.

      Ba-dam tsss.

      Ich bin Callcenteragentin mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum und arbeite für eine private Informationshotline. Ich informiere Menschen. Über alles. Wenn ihr etwas nicht wisst, zögert nicht und ruft mich an. Ich sage euch echt alles. Also, alles, was sich in unseren Datenbanken und im Internet finden lässt, also wenn ihr kein Geld ausgeben wollt, sucht es euch lieber selber raus. Ich sage euch, wie viele Zähne ein Eichhörnchen hat, um wie viel Uhr euer Bus fährt, wie der gegenwärtige Kurs des amerikanischen Dollar ist, auf welcher Autobahn es gerade staut, wie schwer Justin Bieber ist, welche Filiale eurer Bank gerade am nächsten ist, was für eine Telefonnummer die Post hat, wie spät es gerade in Arunachal Pradesh ist. Ich bin eure obligate Instantantwort. Den ganzen Tag lang mache ich nichts anderes, als mir anzuhören, was die Leute wollen, suchen und brauchen. Die Welt stellt Fragen, ich antworte. Arbeit, so notwendig wie Annas gesamte Existenz, denkt mein Erzähler, in Zeiten des Internets und der maximalen Zugänglichkeit allgemeiner Informationen spiele ich hier das Universalgenie. Die Rettung der analphabetischen Bevölkerung, auf Abruf. Ich sage euch alles, und wenn ich etwas nicht weiß, verbinde ich euch weiter.

      Seit ich hier angefangen habe, hat sich die Frequenz, mit der die eingehenden Anrufe in die Leitung kommen, mehrere Male geändert, und auch die Art der Fragen ändert sich. Als ich angefangen habe, riefen die Leute ständig an und fragten nach allem. Zwar kannten schon alle das Internet, aber nicht alle mochten es und fast niemand hatte es am Handy. Es gab eine Zeit, wo ich unter anderem bei der Lösung von Kreuzworträtseln half, Hausaufgaben und Referate schrieb, Vorträge über historische und geografische Besonderheiten hielt, Kinoprogramme und Inhaltsangaben von Büchern vorlas, Theaterkarten bestellte. Dann lernten die Menschen das Internet zu benutzen, auch am Handy, und brachten dadurch die Hälfte der Callcenter-Herde um ihren Job.

      Ich bin zwar über mein Dienstalter hinaus, ich strotze auch nicht vor sympathischem Gezwitscher, doch habe ich bestimmte Qualitäten, die für Teamleader von Callcenteragenten wichtig sind. Ich bin einer der leistungsfähigsten Mitarbeiter, mache jeden Monat Überstunden, arbeite an Feiertagen, welche die anderen mit Menschen verbringen wollen, die sie ihre Nächsten nennen, drücke mich präzise aus und bin kein Hitzkopf, ich kann ohne Weiteres auch mal ein unfähiger Trampel sein, so was bringt mich nicht aus der Ruhe, und schönen Tag und auf Wiederhören. Also, meine Chefin hat hinter ihrem Kopf eine Pinnwand hängen, mit optimistischem Quatsch und aufmunternden Zitaten, und in der Mitte ist ein Foto von mir, ein Polaroid, auf dem schaue ich aus, als hätte ich gerade einen Krampf in der rechten Gesichtshälfte, weil ich mich nicht entscheiden kann zwischen einem höflichen Lächeln, panischem Verschwinden durch den nächstgelegenen Notausgang und unappetitlichem Rülpsen, und oberhalb des Fotos klemmt ein Zettel mit rosaroter Aufschrift: Mitarbeiter des Jahres.

      Ich sage es euch ganz ehrlich, so eine Arbeit ist nichts für Sensibelchen. Wenn eine Zwölfstundenschicht zu Ende geht und ihr das fünfhundertste Gespräch führt, in dem euch ein grimmiger Rentner dermaßen beschimpft, dass ich es nicht einmal wiedergeben kann, denn eine derbe Ausdrucksweise versaut das Karma, dann kann man schon mal die Nerven verlieren. Und wenn man sie Tag für Tag verliert, dann bekommt man mit der Zeit Minderwertigkeitskomplexe, man wird ein Nervenbündel, das nichts mehr aushält, weder den Druck der Anrufer, damit die ja nicht denken, man sei eine blöde … (drei Punkte = karmische Zensur), noch den Druck des Chefs, der meint, man müsse die Anrufer schneller abfertigen, oder den Druck des Ehemanns und der Familie, die meinen, man sollte ausgeglichener sein, oder den Druck der eigenen Nerven, die meinen, man soll auch in der Freizeit mit seiner Umgebung kommunizieren. Und wenn ihr diese Frettchen auf Speed nicht aushaltet, die euch leiten und euch zwingen, bei jedem Teambuilding-Scheiß mitzumachen, und die euch zwingen, sonnig und herzig zu sein, weil wir alle an einem Strang ziehen, und blableblibloblu, dann bleibt gleich erstmal lieber draußen. Nein, ich bin wirklich nicht sonnig und auch nicht herzig und an einem Strang ziehe ich schon gar nicht, aber ich kann das alles sehr gut spielen oder ich kann mich so geschickt rausreden, dass sie mich in Ruhe lassen.

      »Guten Tag, Anna Kaplanová am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?«, frage ich, die Finger auf der Tastatur bereit. Alle zehn. Meine gefeilten Nägel warten nur darauf, eine Symphonie für diese Idioten zu spielen. Mit der rasenden Fahndung nach Wahrheit und Informationen loszulegen. Meine zehn gierigen Helfer. Wir sind da. Wir warten. Gierig nach einer Frage. Ihr braucht mich. Also fragt mich.

      »Ich bräuchte die Zugverbindung von Ostrava-Poruba nach Prag.«

      Ich suche die nächste Verbindung und beim Vorlesen der Abfahrtszeiten beiße ich von einer Lakritzstange ab. Die mehrjährige Praxis lehrt einen, wie man isst, ohne dass es in der Stimme zu erkennen ist. Außerdem, wir Mitarbeiter des Jahres dürfen das. Meine Chefin winkt mir von ihrem Tisch aus zu, tippt mit dem Finger auf ihre Armbanduhr und wartet, bis ich nicke. Diese Geste ist ihr Code, mit dem sie mich an unsere Besprechung erinnert. Ja, so aktiv sind wir hier. Wir deuten uns zu, denn es gibt nicht genug Zeit, um miteinander zu sprechen. Ich sehe, wie mir meine dicke, vierzigjährige, in einen Militäranzug gezwängte Chefin mit schwarzer Vaseline unter den Augen zuwinkt; sie springt zu Boden, rollt Fässer zur Wand, wo sie unbeholfen in die Hocke geht, ein Tier imitiert, etwa eine Ente, mir dann unlogische Signale mit den Fingern gibt, das Schattenbild einer Giraffe an die Pinnwand wirft, sich zum Schluss auf die Armbanduhr klopft und durch die gläserne Tür davonschleicht. Ich hole eine Granate aus meiner Hosentasche, ziehe ihre Sicherung mit den Zähnen heraus und werfe sie ins Besprechungszimmer.

      Ich vergeude eine Stunde meines ansonsten gänzlich vollwertigen Lebens voller Höhen und Tiefen, Aktion und Reaktion, Reproduktion und Reinkarnation, und nach der Besprechung, wo sich alle mit allen beraten, sonnig, und schwupps, so ein Mist und noch einer dieser witzigen Slogans, ich halte mir den Bauch vor Lachen,


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