Staubfänger. Lucie Faulerová
als man uns wegbrachte. Dann hatte sie mich statt der Puppen. Nur eine, die Stoffpuppe, behielt sie. Aber das ist eine andere Erinnerung. Huschsch. Mein Vater saß im Wohnzimmer und schaute fern. Zu Hause hatte er oft nur eine Unterhose an. Dieses klassische tschechische Ideal eines Manns. Ein Dolm in einer ausgeleierten Unterhose, aus der immer etwas rausschaut, was von selbst nie rausschauen sollte, mit einer Flasche Bier in der Hand. Manchmal nickt er ein, der Kopf fällt auf die Schulter, er rülpst, im Sessel versunken, die Füße ausgestreckt, Knöchel über Knöchel. Jedes Mal, wenn er die Beine übereinanderschlug, donnerte er mit seinen enormen Füßen gegen den Teppich, und die rissigen Fersen raschelten, wenn sie aneinander rieben. Und ich langweilte mich, wie immer. Ich gab mir selbst einen Tritt in den Hintern, nichts machte mir Spaß und ich wusste nicht, was ich tun könnte. Die meiste Zeit verbrachte ich eigentlich damit, genervt in der Wohnung herumzugehen, nach einem Versteck zu suchen, oder damit, Dana zu ärgern, und meistens kam ich damit durch, weil ich die Kleinere war. Und vor allem, weil mich niemand bemerkte.
Auch damals ging ich in der Wohnung herum, doch ich mied die Küche, um nicht irgendeine Aufgabe zu bekommen, für die ich dann nicht klein genug war. Ich landete im Wohnzimmer und beobachtete das Mufflon-Ballett der Füße meines Vaters. Irgendein Männerfilm lief. Zwei Banditen, die sich gegenseitig jagen und einer will den anderen umbringen. Er schaute sich nur solche Filme an. Oder schien es nur so, weil immer nur solche Filme am Wochenende im Fernsehen liefen, ich weiß es nicht. Manchmal war es ein Western, manchmal ein »Indianerfilm« oder ein Klassiker mit Segal, mit Van Damme, jede Menge Muskeln und Hohlköpfe und Waffen und harte Sprüche. Wie das wohl ist, wenn dieser Kerl (peng-peng-bumm zisch-zwisch bang-bumm) diese Kerle verfolgt (bang-bumm tusch-tusch bang-bumm). Manchmal fragte ich ihn, wer der Gute sei und wer der Böse. Und manchmal sagte er es mir. Wenn er wollte, sagte er: »das ist der Gute«, und deutete mit dem Kopf auf einen schmierigen Typen mit gegelten Haaren. Damals fragte ich ihn das auch, wer der Gute sei und wer der Böse. Einen Moment lang schwieg er, ich dachte schon, er würde nicht mehr antworten, und auf einmal sagte er, dass beide gut seien. Das brachte mich durcheinander. Zu wem sollte ich jetzt halten? Wer soll gewinnen? Warum kämpfen denn zwei Gute gegeneinander? Das ergibt keinen Sinn, sind nicht eher beide böse?
Finito. Ende.
Dana wartet selbstverständlich schon an unserer üblichen Stelle. Sie kommt immer rechtzeitig. Nein, anders, sie kommt immer zu früh, damit ich es bin, die zu spät kommt, auch wenn ich rechtzeitig komme. Wir treffen uns im obersten Stockwerk des Einkaufszentrums. Ein Kompromiss zwischen einem Rauchercafé und einem Ort mit Kinderecke. Das Wild wird ins Gehege gelassen, ich klick-klicke schon und Dana hustet aus Gewohnheit. Alles ist genauso wie immer. Ich weiß, dass sie es stört, wenn ich rauche. Nie wird sie müde, mir das bei jedem unserer Treffen zu versichern. Aber ich weiß, was sie noch mehr stört. Dass sie hier nicht aufstehen kann, um das Fenster zu öffnen und die Tür zu schließen.
»Warst du in der Nacht irgendwo?«, fragt sie mich.
»Na klar war ich irgendwo.«
»?«
»Jeder ist irgendwo.«
»Irgendwo unterwegs«, ergänzt sie.
»Ich war ganz normal zu Hause. Warum?«
»Du hast Augenringe.«
»Ich weiß, die fallen mir gleich runter.«
»Du bist blöd«, sagt sie und lächelt.
»Hm, sag mir doch, was bin ich noch alles?«
»Sag du es mir«, sagt sie und nimmt einen Schluck von ihrem Tee. Im ersten Moment kam das einfach so aus ihrem Mund, Konversationsautomatik, im zweiten stutzt sie irgendwie komisch und lässt ihren Blick schweifen. Sie hat etwas Seelengas in die Luft gelassen, einen Gedankenfurz, kaum hörbar, aber wenn dieses Gas entweicht, ist es draußen und kann nicht mehr zurückgenommen werden. Und man weiß nicht, ob man nur selbst davon weiß, oder ob es die anderen auch bemerkt haben, und man hat keine andere Wahl, als auf die Reaktion zu warten. Sie hat Seelengas in die Luft gelassen, und wir werden uns dessen erst eine Sekunde später bewusst, in dieser Sekunde, wo es den Raum zwischen uns ausfüllt, und es zerfließt wieder, wie der Rauch, vor dem sie für gewöhnlich die Tür schließt und den sie zum Fenster hinauslässt.
Karolína hüpft auf den Plastikkugeln herum oder dem Sand oder den Scherben oder was auch immer die da in diesem Becken haben, was weiß ich. Selbstverständlich heult sie sofort los, aber erst, als Dana bemerkt, dass sie hingefallen ist, nach der Intensität ihrer Schreie handelt es sich wohl um Scherben. Sie läuft zur Mama, um sich trösten zu lassen, und ich würde ihr am liebsten entgegenlaufen, um ihr ein Bein zu stellen.
Mit dem Stummel der ersten Zigarette zünde ich mir eine zweite an, und etwas neurotisch wackle ich unter dem Tisch mit einem Bein und spiele mit dem Feuerzeug. Klick-klick.
»Ich bitte dich«, sagt sie, während sie die Miniversion von sich selbst tröstet, »was wirst du denn machen, wenn du eigene hast.« (Ich falle von einem dreißig – na, lieber fünfzig Meter hohen Turm.) »Kája, ist ja gut, es ist gar nichts passiert.« (Ich klatsche zu Boden. Ich bewege mich nicht. Es ist gut.)
»Das passiert, wenn man nicht aufpasst«, sage ich leise.
»Ja, da hat die Tante recht.« Dana schaut auf den schreienden, fließenden Minikopf. »Du musst aufpassen.« Auch so lässt sich die Situation betrachten. Jeder soll sich aussuchen, was einem passt.
»Naja«, sie schnuppert an ihrem Pullover, als Karolína getröstet und zurück ins Gehege gelassen wurde. »Man riecht es schon. Stört dich das gar nicht, dass du ständig so nach Rauch stinkst?«
»Nein, das koste ich aus«, sage ich.
Meine Schwester schüttelt den Kopf.
»Manchmal erwische ich mich sogar dabei, wie ich den Aschenbecher mit meinen Haaren auswische.«
Danas Köpfchen rauscht noch einmal durch die Luft, von links nach rechts von links nach rechts. Dank meiner Anwesenheit ist die Halswirbelsäule meiner Schwester immer perfekt gedehnt.
Tramtrara. Meine Schwester. Wie gern würde sie alles erziehen, was ihr in die Quere kommt. Alle gleichmachen. Ein Taschentuch ablecken und allen damit den schmutzigen Mund abrubbeln, sie in den Kanal auf der Straße pinkeln lassen und abklopfen und die Unterhose hochziehen, bis sie ganz fest sitzt, ihnen eine hinters Ohr geben, das macht man nicht, den Stuhl an den Tisch rücken und ihnen den Latz um den Hals binden, du musst draufblasen, es ist heiß, meine Schwester, über mich kann sie nur mehr kraftlos den Kopf schütteln. Die Welt will sie nicht anhören. Aber zumindest ihrem Sohn steckt sie das T-Shirt in die Strumpfhose.
Sie erzählt mir von meinem Lieblingsfisch Zdenda. Davon, dass er ein bisschen blöd ist, nur sagt sie das mit anderen Worten, und davon, dass sie sich Sorgen um ihn macht.
»Denk nicht, dass das Zdeněks Idee war … Es war eigentlich meine. Ob das nicht irgendwie mit mir oder unserer Familie zu tun haben könnte. Ob das nicht etwas Genetisches ist, was ich auf ihn übertragen habe …«
»Die Gene vom Hühnerdreck werden aber nicht gerade ein Musterbeispiel sein.«
»Zdeněks Gene sind vielleicht kein Musterbeispiel, aber offensichtlich weniger schlecht als unsere.«
»Da geht es aber nicht nur um die Gene, oder?«
»Was meinst du?«
»Erziehung zum Beispiel.« Klick-klick.
»Na, entschuldige, willst du mir damit sagen, dass ich meine Kinder falsch erziehe?«
Ich halte mein Lachen nicht zurück. Ich denke, der Satz geht so weiter: Du, wo du selbst keine Kinder hast? Ich denke, der Satz geht weiter mit irgendwelchem Quatsch über Verantwortung und Reife.
»Entschuldige, aber erziehst du deine Kinder etwa im Alleingang?«, frage ich sie.
»Was willst du mir damit sagen?«
»Ich sage, wenn du deine Kinder« (ja, deine Kinder, Dana, es sind deine Kinder, nicht meine, ich weiß, eigentlich weiß ich nichts – was weiß ich denn schon) »nicht