Der Güldene Baum. Hans-Joachim Rech

Der Güldene Baum - Hans-Joachim Rech


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und lässt mich Dinge sehen, die mich manchmal um den Schlaf bringen. Auf der anderen Seite bewirken sie nur Gutes, wozu sie ja bestimmt sind. Trotzdem ist die Gestalt des Menschen unverkennbar - und das stets lauernde Böse in ihm."

      Bonalibona beendete seine Geschichte, nahm seine Pfeife zur Hand und stopfte Tabak in den Pfeifenkopf. Genüsslich entzündete er den Tabak, sodann paffte er dicke Wolken in das große Kaminzimmer. Luna, Miriam, Max und Tommy horchten dicht aneinander gerückt mit großen Augen der Erzählung ihres Freundes, des großen Zauberers Bonalibona.

      "Was - was - was wird denn aus uns - lieber Bonalibona? Müssen wir auch in die Erde - als Wurzel?" fragte ängstlich die kleine Luna.

      Bonalibona verschluckte sich beinahe am Rauch der Pfeife, begann zu husten und klopfte sich dabei lachend auf die Schenkel. Der große Zauberer lachte so herzlich, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Er schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Schluck von der köstlichen Limonade, die Bonalibona aus den Früchten seines Gartens selbst herstellte.

      "Nein - nein - nein, liebe Luna, ihr werdet ganz bestimmt keine Zauberwurzeln, dazu seid ihr viel zu gut und würdet dieser wunderschönen Welt niemals weh tun" lachte Bonalibona.

      "Außerdem habt ihr ja alle Gelegenheit zu beweisen, was euch diese Welt bedeutet. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Euer ganzes Leben lang. Und danach wird sich entscheiden, ob eure Seele in einen neugeborenen Menschen Einlass findet, oder als Alraune, als Zauberwurzel den guten Menschen Hilfsdienste leisten muss."

      "Wie - was - meine Seele, ich meine, ich komme noch Mal auf die Welt in einem anderen Menschen?" rief Max aufgeregt.

      "Na klar doch, was hast du denn gedacht? Das könnte ja niemand mehr auseinander halten. An jeder Ecke würden die Seelen zu Hunderten, ja zu Tausenden herumsitzen, ohne sinnvolle Beschäftigung. - Nein - das ist schon gut eingerichtet so - und auch gerecht. Schließlich sollen diejenigen, die der Welt und den Menschen Schaden zufügen, ja nicht den gleichen Lohn empfangen wie jene, die mit sich und der Erde in Einklang leben. Hört sich zwar sehr altmodisch an, ist aber voll in Ordnung. Die Menschen heute meinen zwar, sie hätten alles im Griff und sind so stolz, dass sie vor lauter Überheblichkeit kaum gehen können. Aber in den einfachsten Dingen versagen sie kläglich. Gottlob gibt es noch Kinder, die sich für Zauberer, geheimnisvolle Märchen und die alte Zeit interessieren. Das ist auch der Grund, warum es uns Zauberer überhaupt gibt. Wir haben die ehrenvolle - und manchmal auch schwierige Aufgabe, den Kindern die Geschichten der alten Zeit zu erzählen. Und mit ein wenig Glück gelingt es uns sogar, sie davon zu überzeugen. Das, meine lieben Kinder, ist das eigentliche Geheimnis des Zauberers. Bewahrt es stets in eurem Herzen und vergesst niemals die alte Zeit, denn sie wird sich noch an euch erinnern, wenn ihr längst erwachsen seid und eigene Kinder habt. Und hütet die größte Tugend die euch Menschen zuteil wurde – die Wahrhaftigkeit. – Ja – Wahrhaftigkeit – das ist es. Vergesst das nie – tretet zusammen unter dem Sternenzelt und schickt eure Wünsche zu den Lichtern des Himmels. Vergesst nie diesen Tag – denn ihr werdet einst sagen können – wir sind dabei gewesen.“

      "Die alte Zeit - ist das so eine Art Vergangenheit?" flüsterte Miriam.

      "Oh nein, die alte Zeit ist genau so eine Zeit wie diese, in der wir jetzt leben. Kompliziert, zugegeben, aber im Grunde ganz einfach. Stellt Euch die Zeit wie ein Meer vor. In ein Meer münden Flüsse. Die Zeit ist auch ein Fluss. Im Wasser finden sich unvorstellbar viele kleine und größere Teilchen, die langsam aber unaufhaltsam ins Meer transportiert werden. Dort sinken sie dann zu Boden. Der Meeresboden wird dadurch immer höher. Aber nicht überall gleichmäßig. Auf diese Weise entstehen Gebirge, die irgendwann einmal die Meeresoberfläche erreichen - und schon gibt es eine neue Insel. Mit der Zeit ist das ähnlich. Jeden Tag vergehen exakt - Moment - ich muss nachdenken - das sind - ja - 86400 Sekunden. An jedem Punkt der Welt. Faszinierend - nicht wahr! Das Jahr hat mal 364, mal 365 Tage. Ein Menschenleben währt 50, 60 oder sogar 100 Jahre. Aber die alte Zeit, die ist unendlich, sie ist ewig, ein riesiger, gewaltiger Strom, der sich in den Ozean der Ewigkeit ergießt. In jeder Sekunde, jeder Stunde, an jedem Tag, in jedem Monat und Jahr geschieht etwas. Überall auf der Welt. Und dieses Geschehen wird durch die Zeit in den Ozean der Ewigkeit gespült, wo es zu Boden sinkt. Auch dort gibt es Gebirge, die irgendwann einmal die Oberfläche des Zeitmeeres erreichen. Dann entsteht eine zweite, eine dritte und vierte Welt, die mit unserer fast identisch ist. Aber nur fast, denn was auf unserer Welt im Augenblick geschieht ist in der zweiten oder dritten Welt schon Zukunft, in der alten Zeit jedoch Vergangenheit. - Na ja - ich erkläre euch das einmal an einem anderen Tag noch genauer, denn wir werden viel Zeit miteinander verbringen, da bin ich mir ganz sicher. - Und nun haben wir genug philosophiert, jetzt gehen wir alle in den Garten und schauen nach, was es Leckeres zu naschen gibt. Was haltet ihr davon?"

      "Naschen - Garten, etwa Himbeeren oder Pflaumen? Stachelbeeren sind auch schon reif, und die Johannisbeeren. Vielleicht finden wir noch Erdbeeren? Kommt - schnell in den Garten, bevor die Spatzen alles weg fressen" riefen die Kinder wie aus einem Mund und stürmten an Tommy vorbei hinaus in Bonalibonas Garten.

      "Keine Geduld hat sie, die Jugend, keine Geduld. Wie will sie da etwas lernen? Angst haben sie, dass die Spatzen ihnen etwas wegfressen. Als wenn alles auf dieser Welt nur dazu bestimmt ist, von den Menschen aufgegessen zu werden. Du hast noch viel zu tun, lieber Tommy, sehr viel. Aber es sind gute Kinder, ich spüre es, sie sind gut."

      "Ja Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater, das sind sie, aber es macht mir sehr viel Spaß, ihnen die Geschichte des Lebens und die Geschichte ihrer kleinen Stadt zu erzählen. Lassen wir sie erst einmal in Ferien fahren, danach sehen wir weiter. Sie gehen uns nicht verloren, denn sie glauben noch an Zauberer, Traumschlösser und die alte Zeit."

      Tommy und Bonalibona verließen das große Kaminzimmer des Hauses und schritten nebeneinander hinaus in den Garten, wo Luna, Miriam und Max mitten zwischen den Sträuchern standen, und mit Hingabe von den süßen Früchten naschten, die im geheimnisvollen Garten des großen Zauberers Bonalibona wuchsen. Unbemerkt von den Kindern, unter Gesträuch und allerlei Pflanzen versteckt, bewegte sich leicht die Erde, um dann plötzlich aufzubrechen. Ein Erdmännchen streckte seinen Kopf heraus, besah sich die muntere Schar und lächelte friedlich. Bald ist seine Zeit gekommen. Dann würde seine Seele wieder frei sein und Platz finden in einem Menschen, der so ist wie diese Kinder in Bonalibonas Garten. Bonalibona hatte recht. Die lange Zeit des Wartens lohnte sich, und irgendwann einmal würden alle Erdmännchen wieder als Seelen in den Herzen der Menschen wohnen.

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