Im goldenen Käfig. Aicha Laoula
ihren Rat, den Psychiater durcheinanderzubringen, um keinen weiteren Fragen über meine Kindheit oder mein aktuelles Leben ausgesetzt zu sein. In der zweiten Sitzung stellte er mir eine Frage, die mich schockierte: »Wie stellt sich die sexuelle Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Ehemann dar?« Ich spürte, wie mir die Hitze in den Kopf schoss, ich schämte mich zu Tode. Ich war es nicht gewohnt, über solche Dinge mit Männern zu sprechen. Es war bereits zu viel für mich, mit einem Mann zu sprechen, und auch noch alleine, dies war in meiner Kultur verboten. Aber das war der Gipfel: »Ich möchte nicht antworten. Bitte, Herr Doktor, stellen Sie mir keine solche Fragen mehr.« »Ich muss Ihnen solche Fragen stellen, Frau Laoula, um die Ursache für Ihr Problem herauszufinden.« Dabei legte er seine Stirn in Falten und sah mich fürsorglich an. Selbst wenn wir Jahre miteinander gesprochen hätten, mein eigentliches Problem hätte er nie herausgefunden. Mein Problem war meine Kultur und Tradition, meine Kindheit, meine erzwungene Hochzeit, die Drohung, ohne meinen Sohn nach Marokko zurückgeschickt zu werden, meine Vergangenheit als Sklavin und die Schwiegermutter, die mich mit dem Tode bedrohte, und nun auch noch meine Freunde, die mir dazu rieten, mich keinem Psychiater anzuvertrauen. Alles war so kompliziert. Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand verstand und mir keiner helfen konnte. Wie hätte ich zum Beispiel einem Psychiater erklären sollen, dass ich im Alter von 15 Jahren gezwungen wurde, mich gegen meinen Willen zu verheiraten, und dass mich meine Familie um fünf Jahre älter gemacht hatte, damit ich nach Europa kommen konnte? Als ich in der Schweiz ankam, war ich 16 Jahre alt und musste behaupten, ich wäre 21 – obwohl natürlich viele bemerkten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Beispielsweise die Busfahrer. Wenn ich mir ein Ticket kaufen musste, boten sie mir eines für Jugendliche an, ich musste jedoch ablehnen und das für Erwachsene nehmen, da ich laut meinen Papieren volljährig war. Die Fahrer sahen mich stets verständnislos an. Ich habe oft darunter gelitten, ein Alter vorzugeben, das ich nicht hatte, heute macht mir dies weniger aus. Als ich beim Psychiater war, war ich 18 Jahre alt, doch alle, auch der Psychiater, hielten mich für 23, wie es in meinen Unterlagen stand. Außerdem, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich gezwungen war, in einer unglücklichen Ehe ohne Liebe und Zärtlichkeit zu leben, hätte er mich vielleicht dazu gedrängt, mich scheiden zu lassen, doch dies war nicht so einfach wie man hätte annehmen können. Meine Kultur und Tradition und selbst meine Freunde hier in der Schweiz hätten dies nicht zugelassen. Auch wenn ich meinen Freunden erklärt hätte, dass ich gegen meinen Willen mit 15 Jahren zur Heirat gezwungen worden war und keine Eheurkunde unterschrieben hatte, sondern dies mein Bruder für mich getan hatte, wäre nichts zu machen gewesen. Für sie hatte meine Ehe Gültigkeit, und wenn ich mich hätte scheiden lassen, hätte ich dadurch das Gesetz Gottes gebrochen. Damals glaubte ich ihnen alles und wollte mich Gott auf keinen Fall widersetzen. Erst 27 Jahre später erfuhr ich, dass ich nach Schweizer Recht nicht legal verheiratet war, angesichts der Tatsache, dass ich minderjährig verheiratet wurde und keine Eheurkunde unterzeichnet hatte, und dass diese Ehe noch nicht einmal vor Gott Bestand hatte. Wie hätte der Psychiater verstehen sollen, dass ich mich seiner Fürsorge nicht anvertraute, weil mir meine Freunde davon abrieten? Wie hätte ich ihm sagen können, dass ich mich nicht scheiden lassen konnte? Und wie hätte er die Bedrohung von Seiten meiner Schwiegermutter verstehen können? Er hätte diese komplexe Situation nicht verstanden, also beendete ich das Thema und ließ es sein. Nicht einmal ich selbst war mir darüber im Klaren, dass ich in der Hölle lebte. Ja, ich hatte mich aus der Sklaverei befreit, jedoch nur, um in einem freien Land wie der Schweiz in einem goldenen Käfig eingesperrt zu sein. Dieser Käfig war meinem Ehemann und seiner Mutter übergeben worden, die mich Tag und Nacht bedrohte, und letztlich war dieser Käfig auch in den Händen meiner Freunde. Ich hatte keine Kontrolle über mein Leben, das von anderen kontrolliert wurde. Ich war gefangen in einem freien Land bis zu dem Tag, an dem ich mich entschied, für immer aus diesem Käfig auszubrechen und den Sprung in die Freiheit zu wagen.
Daher bat ich den Psychiater, mir keine weiteren Fragen zu stellen, doch er verstand nicht warum. Der Arme, er tat nur seine Arbeit. Am Ende musste er aufgeben. Er gab mir Medikamente, doch nachdem ich diese genommen hatte, fühlte ich mich schlecht und torkelte umher wie eine Betrunkene. Als ich beispielsweise in das Zimmer von Youns gehen wollte, ging ich stattdessen zur Haustür hinaus, ehe ich bemerkte, dass das Kinderzimmer ja auf der gegenüberliegenden Seite des Flures lag. Ich hatte Angst, dass ich mein Kind fallen lassen würde. Ich blieb den ganzen Tag mit dem Kleinen im Bett, während er neben mir spielte. Zur Arbeit zu gehen war unmöglich. Nach zwei Tagen hörte ich auf, diese Medikamente einzunehmen. Beim nächsten Mal fragte mich der Psychiater: »Wie ist es Ihnen ergangen? Schlafen Sie besser?« Ich erzählte von meiner Reaktion auf die Medikamente und dass ich sie nicht mehr nahm. »Sie müssen Sie nehmen. Sie zeigen Symptome einer Depression, wissen Sie das? Probieren Sie die halbe Dosis aus und wir werden sehen.« Ich versuchte dies einige Tage, doch ich fühlte mich weiterhin nicht gut, auch nicht mit der halben Dosis. Mir kam es so vor, als sei ich nicht mehr ich – als verlöre ich die Kontrolle über mich. Es wurde schlimmer als zuvor, so hörte ich auf zum Psychiater zu gehen und nahm keine Medikamente mehr. Meine Freunde hatten mir Zweifel eingeredet, indem sie sagten, der Psychiater würde mich nicht heilen, sondern nur noch mehr schaden. Erst einige Jahre später bedauerte ich sehr, die Therapie nicht fortgesetzt und die Medikamente in der niedrigeren Dosis nicht eingenommen zu haben. Am Ende war ich eingeschlossen in meiner Welt voller Schmerz, in der mich niemand verstand.
In Marokko
Im Januar fuhren wir mit Markus, einem Freund von Bilal, nach Marokko. Er kam um Mitternacht, um uns abzuholen, mit seinem Wohnmobil, das wie ein kleines Haus war, mit einem großen Bett, einer Dusche, einer Küche, zwei Sitzbänken und einem Tisch in der Mitte. Markus war sehr sympathisch und ein positiver Mensch, er lachte immer. Seine Gesellschaft war sehr angenehm. Drei Tage und drei Nächte fuhr er, während Bilal und ich ihm abwechselnd Gesellschaft leisteten, damit er während der Fahrt nicht einschlief. Er ruhte sich täglich nicht mehr als ein oder zwei Stunden aus, um anschließend weiterzufahren. Er hatte sich für die Nebenstraßen entschieden, die durch die Berge und die ländlichen Dörfer und entlang des Meeres verliefen. Für mich war es die erste Reise meines Lebens, die so wunderbar und schön war. Die Schönheit der Natur raubte mir den Atem. Ich war voller Vorfreude, das erste Mal Frankreich und Spanien zu sehen. Nachdem wir in Gibraltar angekommen waren, überquerten wir das Meer mit der Fähre. Youns, der Wasser liebte, war außer sich vor Freude, als er zum ersten Mal auf einer Fähre in der Mitte des Ozeans war. Obwohl er erst ein Jahr und fünf Monate alt war, verstand er schon vieles und konnte bereits viele Gefühle zeigen. Er war ein intelligentes, aufgewecktes und doch ruhiges Kind. Er beobachtete alles und nahm alles wahr, und wenn er etwas nicht verstand, fragte er mich. Wir waren nicht nur Mutter und Sohn, sondern auch beste Freunde. Noch waren es tausend Kilometer Fahrt von Tanger bis zu unserem Ziel. Wie immer war das Haus meiner Schwiegereltern voller Menschen, die Bilal erwarteten. Alles war wie immer, nur mit dem Unterschied, dass wir dieses Mal weniger Geschenke gekauft hatten. Wir hatten gebrauchte Spielsachen und Kleidung dabei, die wir von Freunden geschenkt bekommen hatten. Bilal hatte nur Uhren und Schokolade für alle gekauft. Er hatte seine Familie daran gewöhnt, jedes Jahr neue Uhren von ihm zu bekommen, für die er Hunderte von Franken ausgab. Den Bus hatten wir mit gebrauchter Kleidung, die jedoch in gutem Zustand war, vollgeladen. So konnten wir viel Geld sparen. Ich hatte entschieden, die Schulden zurückzuzahlen und in ein anständiges Haus zu ziehen, das mehr kostete, so bat ich Bilal, in Marokko einzusparen. Für ihn war dies sehr schwierig. Er hatte Angst, die Zuneigung und Liebe seiner Familie zu verlieren, die er im Austausch gegen die Geschenke, die er ihnen machte, erhielt. Ich hielt es für richtig, die Schwiegereltern finanziell zu unterstützen, die jungen Leute hingegen konnten arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. So hatten sie nie die Möglichkeit gehabt zu lernen, allein zurechtzukommen. Die Brüder und Schwestern von Bilal waren stets mit seinem Geld aufgewachsen und hatten nichts anderes gelernt, als zu essen und zu faulenzen. Mittlerweile waren einige davon verheiratet und gaben vor, dass wir auch ihre Familien unterstützen müssten, die ständig größer wurden.
Bevor wir dieses Mal nach Marokko reisten, entschied ich, Bilal davon zu erzählen, was mir seine Familie angetan hatte. Schluchzend und unter Tränen erzählte ich, dass seine Mutter mir mit dem Tod gedroht hatte, dass sie schwarze Magie angewendet hatte, um ihn und mich zu trennen und dafür zu sorgen, dass ich krank wurde und dass ich, während ich bei ihnen gewohnt hatte,