Im goldenen Käfig. Aicha Laoula

Im goldenen Käfig - Aicha Laoula


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Wasser für sein Beet schöpfte. Im Garten hatten wir außerdem einen kleinen Holzschuppen voller Heu. Wenn Youns und ich müde wurden, legten wir uns Arm in Arm zum Schlafen ins Heu. Die Nachbarn um den Garten waren sehr nett. Sie zeigten mir, wie man die Gartenarbeit auf Schweizer Art verrichtete, brachten mir die Saat- und Pflanzregeln und vieles andere bei. Wer Setzlinge übrig hatte, schenkte sie den Nachbarn. Youns war liebenswert und zufrieden und sang stets vor sich hin. Er liebte vor allem die Musik. Zu Hause wollte er immer klassische Musik hören, solange, bis er mit dem Daumen im Mund einschlief. Bald fand ich Arbeit als Reinigungskraft in Neuhausen, in dem Coop, in dem auch Bilal arbeitete. Die neue Wohnung war teurer und belastete uns zusätzlich zu dem Unterhalt für Miriam und den Schulden, die wir der Bank zurückzahlten. Um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, stand ich morgens um halb fünf auf. Ich machte Youns, der noch schlief, fertig, legte ihn in seinen Kinderwagen und nahm den ersten Bus um etwa fünf Uhr. Dann musste ich einmal umsteigen, um von Herblingen nach Neuhausen zu gelangen. Ich arbeitete drei Stunden oder gar länger, von Montag bis Samstag. Glücklicherweise jammerte Youns niemals. Er lag in seinem Kinderwagen in der Küche des Coop, und wenn er Hunger hatte, gab ich ihm ein Fläschchen, das er allein trank, dann sang er vor sich hin und schlief wieder ein. Bilal und all seine Kollegen kamen oft vorbei, um ihn zu begrüßen und ein wenig mit ihm zu sprechen. Schnell wurde er von allen Mitarbeitern im Coop geliebt. Ich putzte den Boden des Supermarkts, wie ich es in Marokko getan hatte, mit dem Unterschied, dass es hier wesentlich bequemer war und ich einen sehr netten Chef hatte. Er verließ sich auf mich und lobte mich für meine gute Arbeit, die ich schnell und genau erledigte. Er sagte immer: »Machen Sie langsam. Niemand ist hinter Ihnen her.« Aber ich kannte nichts anderes, da ich doch während meiner gesamten Kindheit auf diese Weise gearbeitet hatte. Ich fühlte mich geehrt und gleichzeitig machte ich mich klein und senkte den Kopf, ich war es schlicht nicht gewohnt, gelobt zu werden. Auch Bilal war ein guter Mitarbeiter, unser Chef wusste uns beide sehr zu schätzen. Wenn ich nach Hause zurückkam, sank ich noch einmal ins Bett und Youns und ich schliefen in inniger Umarmung noch ein wenig. Am Nachmittag gingen wir in den Garten oder auf den Spielplatz, besuchten Freunde oder sie kamen zu uns. Ich war sehr glücklich, in einer solch komfortablen Wohnung zu wohnen. Bilal hingegen war nicht sehr glücklich, er musste für die neue Wohnung 550 Franken zahlen, statt 130, wie für die alte, zusätzlich hatte er die Möbel für 2000 Franken gekauft. Er sagte oft: »Wenn wir geblieben wären, wo wir waren, hätten wir all das Geld für Marokko sparen können. Stattdessen haben wir sinnlos Möbel gekauft. Wir hätten mit dem zurechtkommen können, was wir hatten.« »Du findest, dass unsere Lebensqualität nichts zählt, nur um Geld dort hinzuschicken? Für was überhaupt? Damit deine Familie im Luxus lebt, ohne einen Finger krumm zu machen, während dein Sohn und ich im Winter unter der Kälte leiden? Natürlich! Sie wohnen in einem Haus, das du gebaut und mit neuen Möbeln ausgestattet hast, wohingegen wir uns mit gebrauchten zufriedengeben müssen. Wer zahlt die Schulden, die du für sie gemacht hast? Sind es nicht wir, die wie zwei Esel arbeiten müssen? Wenn du sparen willst, spar bei ihnen, nicht bei mir und deinem Kind.« Natürlich erwähnte ich immer nur seine Brüder, Schwestern, die Schwager und Schwägerinnen und die Nichten und Neffen, die auf unsere Kosten lebten, und niemals seine Eltern, die zurecht finanziell zu unterstützen waren, um leben zu können, nicht jedoch, um im Luxus zu schwelgen, während wir im Elend hausten. Unsere Diskussionen drehten sich immer um seine Familie.

      Außerdem wollte ich nicht mehr, dass er unangekündigt Gäste am Abend mitbrachte, denen ich dann Essen kochen musste. Ich war jederzeit bereit, Freunde zu Hause zu empfangen, aber nicht spät in der Nacht. Das Ergebnis meiner Rebellion war: eine Ohrfeige, gefolgt von schweren Beleidigungen auf Arabisch, die mich weitaus mehr verletzten und demütigten als die Ohrfeige selbst. Er sagte Dinge wie: »Für wen hältst du dich eigentlich? Vergiss nicht, wo ich dich herausgeholt habe und in welcher Lage du dank mir jetzt bist«, eine Anspielung auf meinen niedrigen sozialen Stand, aus dem er mich gerettet hatte. Doch ich blieb bei meiner Meinung und erwiderte: »Siehst du nicht, das ich mich um unser Kind und den Garten kümmere und arbeiten gehe? Ist das zu wenig? Ich muss schlafen gehen, damit ich früh aufstehen kann.« Mein Leben veränderte sich sehr, mein Gesundheitszustand, meine Arbeit und die Fürsorge für meinen Kleinen, dazu die Probleme mit meiner Schwiegermutter und meiner Vergangenheit, die sich lautlos in meinem Kopf herum drehte wie ein Mühlstein. All das war äußerst ermüdend.

      Neue Welten

      Mit der Zeit konnte ich immer besser Italienisch schreiben und lesen. Ich las jeden Tag und entdeckte immer wieder Dinge, die mir neu waren, die mich allerdings auch erkennen ließen, wie ungebildet ich war und dass ich nichts über die Welt wusste. Ich wusste nichts über unseren Planeten, nichts über Geographie, nichts über die Geschichte der Weltbevölkerung, ich hatte keine Ahnung von den Kulturen andere Länder, wusste noch nicht einmal von deren Existenz, wusste nichts über die Natur oder sonst irgendetwas. Wenn unsere Freunde über internationale Ereignisse sprachen, staunte ich mit offenem Mund und wusste zu keinem Thema auch nur irgendetwas zu sagen. Ich war die einzige Dumme, es schien, als wäre ich in einem Bunker unter der Erde aufgewachsen. Ich wusste nicht, dass es zwei Weltkriege und den schrecklichen Vietnamkrieg gegeben hatte. Jetzt entdeckte ich durch mein Lesen die Weltgeschichte, sowohl die unseres Jahrhunderts als auch die der vergangenen: die Geschichte der Römer, Ägypter, Perser, Griechen, Amerikaner und so weiter. Ich liebte die Geschichte über die Ureinwohner Australiens, der Aborigines, die der Indianer in Amerika und von Amazonien in Brasilien und die Geschichte Südamerikas. Ich interessierte mich für die Kultur Chinas und Japans, für das Leben in Tibet und das der Afrikaner, wie in der Savanne, und viele mehr. Ich liebte es, diese Geschichten zu lesen oder sie als Dokumentation im Fernsehen anzusehen. Was mich am meisten faszinierte, waren die Eskimos, die in einer Schneewelt lebten und in Häusern aus Eisblöcken wohnten. Ich konnte mir nicht vorstellen, in diesem Teil der Welt zu leben, angesichts der unglaublichen Kälte. Ich las gern über die Natur und entdeckte Pflanzen und Tiere, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ich informierte mich sehr gern über Medizin, wo ich doch als Kind den Wunsch hatte, Ärztin zu werden. Doch dies war mir unmöglich, da mir als Sklavin verboten war, zur Schule zu gehen. Außerdem hatte ich entdeckt, dass es auf der Welt noch andere Religionen gab, nicht nur eine, und dass der Planet Erde in mehrere Kontinente unterteilt war – und dass die Erde rund und der größte Teil davon von Wasser bedeckt war, eine Tatsache, die ich mir vorher nie hätte vorstellen können. Doch neben den schönen Dingen, die ich entdeckte, gab es auch negative und schmerzhafte. Zum Beispiel die Existenz gefährlicher Waffen und Atombomben, die den Planeten Erde zerstören konnten. Dies ließ mich schaudern und rief Zweifel an meiner Sicherheit hervor. Ich war schockiert, als ich im Fernsehen die Bombe in Hiroshima explodieren sah und dass alle anderen vorhandenen Bomben die gleiche Macht hatten. Diese Entdeckung stellte den Frieden und die Sicherheit, die ich in der Schweiz erlangt hatte, auf den Kopf. Ich hatte Angst vor einem dritten Weltkrieg, über den man in den 80er Jahren sprach. Ich hörte nicht mehr auf zu lesen, oft bis spät in die Nacht hinein. Bilal wachte auf und sagte: »Kannst du das Licht ausmachen und aufhören zu lesen?« »Ja, das ist die letzte Seite, versprochen.« Dann blätterte ich lautlos auf die nächste Seite, auf die eine weitere folgte. Ich entdeckte, dass der Kosmos nicht nur aus der Sonne, dem Mond und den Sternen bestand, die für meine Augen sichtbar waren, sondern auch aus einem unendlichen Raum voller Planeten und dass die Milchstraße aus Milliarden von Galaxien bestand und diese wiederum aus Milliarden von Sternen. Auch diese Entdeckung verdrehte mir den Kopf. Es war zu viel für mein kleines und begrenztes Gehirn. Mir wurde klar, dass ich in einem großen und wundervollen Universum und auf einer riesigen Erde lebte, die nicht nur aus Marokko und der Schweiz bestand, die einzigen Länder, die ich zu diesem Zeitpunkt kannte. Allerdings verursachten mir diese Erkenntnis auch großen mentalen Stress und riefen in mir Angst und Unsicherheit hervor. Ich benötigte Zeit, um all das neue Wissen, das ich auf einen Schlag erhalten hatte, zu verarbeiten. Eine Erkenntnis, die mich am meisten bestürzte, waren die beiden Weltkriege und die Versklavung in Afrika. Dies tat mir sehr weh und ließ mich ein Meer an Tränen vergießen. Es zerriss mir das Herz, wenn ich las oder in den alten Filmen sah, wie die Weißen vor Hunderten von Jahren die Afrikaner gefangen genommen hatten, um sie in Amerika zu verkaufen und sie dort zum Arbeiten zu zwingen.

      Es quälte mich zu wissen, dass Tausende afrikanische Familien ihren Dörfern und Familien entrissen wurden. Kinder wurden aus den Händen ihrer Eltern gerissen


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