Im goldenen Käfig. Aicha Laoula

Im goldenen Käfig - Aicha Laoula


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um sie, als wären es ihre eigenen. Sie war noch so jung, und doch war sie bereits völlig erschöpft. Ihr junges Leben war zerbrochen und geopfert wie ein Tieropfer, das in den Flammen eines Altars mitten in den Bergen verbrannt wurde, dessen Rauch sich in Luft auflöst. Alles geschah eben, wie es die Tradition wollte, die keine Rücksicht nahm, weder auf das Leben meiner Schwester noch auf das der anderen Mädchen, die denselben Weg gehen mussten. Meine Schwester war für nichts und wieder nichts geopfert worden. Sie konnte noch nicht einmal ihr Leben in Würde führen. Sie war der Zwangsehe zum Opfer gefallen, für das Versprechen einer Kuh von ihrem alten Ehemann, das er unserer Mutter gegeben hatte. Letztlich hatte unsere Mutter ihre Tochter und die Kuh verloren. Ihr Gesichtsausdruck war völlig leblos, nur die schlechte Behandlung und die Tyrannei ihres Mannes waren darin zu lesen. Ich beobachte, wie er sie voller Verachtung ansah und ihr befahl, uns zu bedienen, während er wie ein Pascha am Boden auf den wunderschönen bunten Teppichen saß, die sie gewebt hatte. Sie bereitete den Tee für die Gäste vor und musste ihm eine Schüssel mit Wasser bringen, damit er sich die Hände waschen konnte. Er war im Gegensatz zu ihr kräftig und stark, mit roten Backen und bösem Blick. Ich beobachtete all dies mit Entsetzen, während die anderen dasaßen, sich ausruhten und auf den Tee warteten. Saina, die nur Haut und Knochen war und ihr Baby auf ihrem gebeugten Rücken trug, bediente ihren Ehemann mit demselben angsterfüllten Gesichtsausdruck, mit dem auch ich meine ehemaligen Herren in der Vergangenheit bedient hatte. Er befahl ihr, sich zu beeilen, während sie wie eine Sklavin gehorchte, bucklig wie eine alte Frau, und das mit gerade einmal 20 Jahren, wobei sie aussah wie 40. Sie lief durch das riesige Haus, auf und ab, um die Leute zu bedienen, mit leerem Blick, als sei sie gar nicht in der Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, die sie nicht erkannt hatte. Als junges Mädchen hatte sie unter der Misshandlung durch unseren Stiefvater und unsere Mutter zu leiden und heute unter der Tyrannei ihres Ehemanns. Es zerriss mir das Herz, meine Schwester so gebrochen zu sehen. Ich half ihr, das Mittagessen zuzubereiten, ein Tajin mit Hühnchen und Kartoffeln, während Melhid Fladenbrote aus dem Ofen nahm. Wir saßen auf den Teppichen am Boden, um einen niedrigen, runden Tisch herum und aßen alle gemeinsam von dem Tajin. Saina nahm ein Stückchen Fleisch in die Finger und wollte es gerade zum Mund führen, als ihr Mann es ihr aus der Hand riss. Ironischerweise wandte er sich an mich und reichte es mir als Zeichen seiner Wertschätzung für mich als Gast. Ich sah die Enttäuschung meiner Schwester, die ihren wenige Monate alten Sohn im Schoß hielt. Das Kind war so dünn und saugte an der Brust von Saina, die trocken und ohne Milch schlaff herunterhing. Ich warf einen Blick auf die anderen, die ruhig aßen und von diesem Vorfall offensichtlich nichts bemerkt hatten. Ich legte das Stück Fleisch wieder vor meine Schwester. Sie lächelte und nahm es zurück, um es in den Mund zu nehmen, als ihr Ehemann es ihr ein zweites Mal aus der Hand riss. Ich hörte auf zu essen und zog mich zurück. Ich glaubte, mich übergeben zu müssen und wollte schreien, bei diesem Anblick meiner Schwester. Sie sah so hungrig, enttäuscht und verzweifelt aus. Oh lieber Gott! Sie hatte denselben Blick und den unterernährten Körperbau wie die Menschen, die in den Konzentrationslagern gefangen waren. Bilder, die ich aus dem Fernsehen in der Schweiz kannte. Ich stand vom Tisch auf und ging nach draußen, um zu weinen. In diesem Augenblick verspürte ich eine solche Wut auf meine Mutter, die an Sainas Leid schuld war, da sie sie gezwungen hatte, einen alten Mann mit fünf Kindern aus seiner ersten Ehe zu heiraten. Ich wünschte mir so sehr, meiner Schwester zur Freiheit verhelfen zu können, doch das stand nicht in meiner Macht. Als Frau hatte ich nicht das Recht, mich in das Leben meiner Schwester einzumischen, die Eigentum eines Mannes war, der nicht nur unmenschlich und ungebildet war, sondern auch das Verhalten einer Bestie an den Tag legte. Ich erfuhr, dass meine Schwester, neben den Schlägen, die er ihr verpasste, bis sie blutete, auch von ihm vergewaltigt wurde.

      Leider hatte ich selbst mit den Problemen mit meiner Schwiegermutter zu kämpfen, und das selbst hier, im Hause von Saina. Ich hatte Saina einige Geschenke mitgebracht. Eine Flasche Shampoo und ein paar meiner Kleidungsstücke, die ich ihr schenken wollte. Doch als ich sie ihr geben wollte, stellte ich fest, dass die Shampoo-Flasche in den Klamotten, die ich für sie in einer Tasche dabei hatte, vollständig ausgeleert war. Ich fragte Melhid, wer das gewesen sein könnte. Sie sagte mir, dass sie meine Schwiegermutter vorher gesehen hatte, wie sie sich an meiner Tasche zu schaffen gemacht hatte. Es konnte nur sie gewesen sein, sie allein war so wahnsinnig. Nach dem Mittagessen wollte meine Schwiegermutter zu einem Magier gehen, der in Sainas Dorf wohnte. Erst jetzt verstand ich den wahren Grund dafür, warum sie mit uns kommen wollte. Sie war ständig auf der Suche nach dem besten Magier, um schwarze Magie zu betreiben gegenüber allen, die sie als Feinde ansah und gegen die es zu kämpfen galt. Man sagte, dass dieser Magier einer der mächtigsten war und dass die Leute aus weit entfernten Gegenden zu ihm kamen. Sie wollte mich um jeden Preis mitnehmen, aber warnte mich zuvor: »Untersteh dich, Bilal etwas davon zu sagen!« Ich ließ Youns bei meiner Mutter. Meine Schwiegermutter sagte zu Bilal, dass sie wegen ihres Knies zu einem Heiler gehen wolle, der nur einen Steinwurf von Saina entfernt lebe, und er glaubte ihr. Wir wurden von einer Frau empfangen, die uns aufforderte, uns in einem Zimmer auf die Matten zu setzen. Der Magier trat ein und begrüßte uns freundlich. Er war ein sympathischer Mann, etwa fünfzig Jahre alt, und trug eine himmelblaue Djellaba und einen weißen Turban auf dem Kopf. Er setzte sich vor uns, kreuzte die Beine und fragte meine Schwiegermutter, was sie denn wissen wolle. Sie sagte: »Ich möchte wissen, was ich tun muss, um meinen Sohn an mich, seinen Vater und seine Geschwister zu binden. Wissen Sie, mein Sohn wohnt im Ausland und ich habe Angst, dass er nie wieder zu uns zurückkehrt oder nicht mehr regelmäßig Geld schickt.« Der Magier versicherte ihr, dass er sein Bestes tun würde. »Ach, und außerdem möchte ich die Zukunft dieses Mädchens kennen«, fügte sie hinzu und deutete dabei auf mich. Er sah mich die ganze Zeit an, während ich mich äußerst unbehaglich fühlte, dazu gezwungen, mich in Gegenwart dieses Magiers aufzuhalten, was ich freiwillig niemals gemacht hätte. Ich konnte es kaum erwarten, diesen Ort wieder zu verlassen. Dann fragte er: »Entschuldigen Sie bitte, wer ist dieses Mädchen?« und zeigte dabei ebenfalls auf mich. Sie sah mich erschrocken an und antwortet: »Das ist die Frau meines Sohnes, von dem ich eben gesprochen habe. Warum?« »Ich sehe, dass dieses Mädchen in einem weit entfernten Land, über dem Ozean, ihr Glück gefunden hat. Ich sehe, dass sie eine glückliche und segensreiche Zukunft vor sich hat.« Dann wandte er sich an mich und sagte: »Du bist ein Glückskind, meine Liebe, Gott hat dich gesegnet.« Er schüttelte den Kopf und blickte auf das Buch, aus dem er die Aufzeichnungen entnahm, um die Magie für meine Schwiegermutter zu erstellen. Sie hingegen erstarrte, als wäre sie soeben von einer giftigen Schlange gebissen worden. Sie konnte diese positive Vorhersage, die er mir spontan gemacht hatte, nicht ertragen. Sie befahl mir, hinauszugehen und sie allein zu lassen. Ich war glücklich, entlassen worden zu sein.

      Am späten Nachmittag verabschiedeten wir uns von Saina und wanderten über die Berge, um die einzige asphaltierte Straße zu erreichen. Wir warteten auf ein Verkehrsmittel, doch es kam keines. Die Nacht brach herein und so entschieden wir, bei meinen Onkeln mütterlicherseits zu übernachten, die in der Nähe wohnten. Wir kamen in ihrem Dorf an, nachdem es bereits dunkel war. Erinnerungen an meine geliebte Großmutter stiegen in mir auf, die bereits verstorben war. Ihr großes Haus befand sich neben dem meinen Onkeln. Ich trat ein und fand das Haus leer vor, dabei überkam mich eine starke Melancholie und eine solche Sehnsucht nach meiner geliebten Großmutter. Ich stellte sie mir mit ihrem Stock in der Hand und ihrem Buckel vor, wie sie mit langsamen Schritten durch den großen Hof ging. Ich erinnerte mich an ihre Güte, ihre Liebe und die Ruhe, die sie auf uns Enkelkinder übertragen hatte. Mein beiden Onkel und deren Familien empfingen uns mit großer Freude und Gastfreundschaft. Früh am nächsten Morgen brachen wir mit dem ersten Transportmittel auf. Sobald wir im Haus meiner Schwiegereltern angekommen waren, bereitete die Schwiegermutter ihre Magie vor. Sie gab etwas Wasser in eine Schüssel und wusch ihr verschmutztes Gesicht, ihre rechte Hand und ihren dreckigen rechten Fuß. Alles nach Anweisung des Magiers. Dann lag sie in dieses Wasser ein Stück Papier, auf dem der Magier etwas mit einer besonderen Tinte geschrieben hatte, und löste diesen Zettel im Wasser auf. Danach bereitet sie mit diesem Dreckwasser einen Kaffee zu und befahl mir, ihn zu trinken. »Untersteh dich, Bilal gegenüber auch nur ein Wort über den Inhalt dieses Kaffees zu erwähnen!« Ich traute meinen Augen nicht, während ich sie voller Entsetzen ansah. Mir drehte sich der Magen um, als ich nur an ihre stinkenden Füße dachte, die sie seit Tagen nicht mehr gewaschen hatte und in diesem Wasser abgewaschen hatte, das ich nun trinken sollte. Ich weigerte mich, doch sie bestand darauf.


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