Im goldenen Käfig. Aicha Laoula
ich daran dachte, dass diese Bilder in einem Fotolabor von fremden Menschen entwickelt werden würden. Obwohl ich körperlich am Ende war, spürte ich eine immense Freude, als man mir mein Kind an die Brust legte und mir sagte dass es ein Junge war. Ich habe nie zuvor eine solche Freude erlebt. Endlich hatte ich ein Lebewesen, das Teil von mir und Teil meines Lebens sein würde. Während ich sein kleines Köpfchen streichelte und ihm ins Ohr flüsterte, wie schön er war und wie glücklich ich über seine Geburt war, dachte ich an meinen Vater. Es war, als wollte ich diese Freude mit ihm teilen.
Ich blickte gen Himmel und dankte Gott für dieses kostbare Geschenk. Ich sah auf mein Baby und tief in meinem Herzen wusste ich, jetzt war ich komplett, mein kleiner Youns wäre von heute an all das, was mir immer gefehlt hatte. Er würde meine Familie und die Freude meines Lebens sein. Von heute an wäre ich nie wieder allein. Ich genoss es gerade, meinen kleinen Jungen auf dem Arm zu haben, als ich sah, dass sich der Arzt mit dem Bart auf einem Hocker vor meinen noch immer gespreizten Beinen, die mit einem Laken bedeckt waren, zurechtrückte. Ich frage mich, was er wohl tat, als ich sah, wie er ein Stück Faden in eine Nadel fädelte und begann, den Schnitt in meinem Intimbereich zu nähen, den sie mir gesetzt hatten, um meinem Baby auf die Welt zu helfen. Er saß da und nähte ruhig vor sich hin, als wäre es ein Stück Stoff. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Doch trotz alledem war ich den Pflegern und den Ärzten unendlich für ihre liebevolle Fürsorge und Aufmerksamkeit dankbar. Niemals hätte ich geglaubt, dass mich Menschen einmal auf solche Weise behandeln würden. Bilal strahlte vor Freude, während er sein Baby unsicher auf den Arm nahm. Zu meinem Glück war der Film beschädigt worden: Offensichtlich hatte Bilal die Fotokamera im Licht geöffnet. So gab es keine Bilder und Bilal war über alle Maßen enttäuscht. Nach wenigen Minuten fiel ich in einen tiefen Schlaf, aus dem ich erst am Abend auf der Suche nach meinem Baby erwachte. Er lag neben mir, in eine himmelblaue Decke eingewickelt und schlief in seinem Bettchen wie ein Engel. Am nächsten Tag kamen Pina und Carla vorbei und nahmen Youns glücklich auf den Arm. Sie küssten ihn und betrachteten ihn so voller Zärtlichkeit, als wäre er ihr Neffe. Auch Bilal kam mich besuchen, beschränkte sich aber darauf, mich zu begrüßen. Er blieb mit verschränkten Armen und verärgertem Gesichtsausdruck stehen. Nach fünf Minuten ging er bereits wieder. Er sagte, er hasse Krankenhäuser. Sobald er auch nur einen Fuß hineinsetze, bekäme er keine Luft mehr. Er hatte eine Art Krankenhausphobie. Ich versuchte ihn zu verstehen, doch es machte mich traurig, dass er nicht bei mir war und ich die Freude über unseren Sohn nicht mit ihm teilen konnte, wie es meine Zimmergenossinnen mit ihren Ehemännern taten. Am Morgen des Tages nach der Geburt kam eine Krankenschwester und brachte mich in ein anderes Zimmer, das voller kleiner Bettchen war, in dem die Säuglinge lagen. Sie nahm Youns aus einem der Bettchen und ging in Richtung eines großen Waschbeckens. Sie wollte mir zeigen, wie ich das Baby waschen und umziehen könnte. Auch wenn ich die Worte nicht verstand, wiederholte ich alles, was sie tat. Schon beim ersten Versuch hatte ich die Prüfung bestanden und wurde zu einer frisch gebackenen Mutter. Dies gab mir die Krankenschwester durch ihre Art, wie sie lächelte und mich lobte, zu verstehen. Für mich sind Arbeiten von Hand kein Problem, auch als Sklavin hatte ich mich immer um die Kinder gekümmert. Das Problem lag allerdings woanders. Ich folgte der Schwester zurück in das Zimmer, dort stand eine Waage auf einem Tisch. Sie forderte mich auf, das Baby zu wiegen und das Gewicht und die Uhrzeit auf einen Block zu schreiben, um den Kleinen später nach dem Stillen wieder zu wiegen. Ich war sehr verwirrt, da mir derartiges völlig neu war. Bei uns werden die Leute nicht gewogen. Nur Hühner und Kaninchen, bevor sie zum Verkauf auf den Markt in unserem Dorf gebracht wurden. Ich war sehr unbeholfen und starrte die Krankenschwester an, während meine drei Zimmergenossinnen mich beobachteten, um zu sehen, ob ich sie verstanden hätte. Ich gehorchte und tat, wie mir aufgetragen war. Unter ihrem aufmerksamen Blick und dem meiner Zimmerkolleginnen legte ich den Kleinen auf die Waage, sah auf die Zahlen, die ich weder entziffern noch zählen noch auf Deutsch schreiben konnte. Ich fühlte mich, als würde ich ohnmächtige werden vor Scham und der Angst, zu scheitern. Ich schwitzte und konnte den Bleistift nicht halten, da ich so sehr zitterte. Ich begann etwas auf den Block zu kritzeln, was selbst für mich unleserlich war, geschweige denn für die Frau, die mich erstaunt beobachtete. Sie bemerkte schnell, dass ich Analphabetin war. Ich fühlte mich minderwertig, wie ein Nichts. Niemals war mir stärker bewusst, was für eine Einschränkung es war, wenn man sich nicht mittels Schreiben und Lesen ausdrücken konnte. Ich erkannte auch, dass in der Schweiz, im Gegensatz zu meinem Land, alles über Lesen und Schreiben funktionierte. Am Tag darauf versuchte es eine andere Schwester erneut, aber es war nichts zu machen. Ich begann vor Demütigung und Scham zu weinen. Als mich Bilal am Abend besuchen kam, flehte ich ihn an, mich mit nach Hause zu nehmen. Der diensthabende Arzt hingegen riet mir, noch ein paar Tage zu bleiben, aber ich glaubte, ersticken zu müssen und wollte keine weitere Nacht mehr dort verbringen. Ich ging am selben Abend mit nach Hause, auch wenn mich die genähten Stellen noch sehr schmerzten und ich weder laufen noch sitzen konnte.
Zuhause fand ich das totale Chaos vor. Berge von schmutzigem Geschirr türmten sich im Spülbecken. Aber ich war so glücklich, mit meinem Youns im Arm zu Hause zu sein. Sanft legte ich ihn in seine Wiege, in der er wie ein Engel weiter schlief. Bilal entschuldigte sich für die Unordnung: »Ich wollte noch sauber machen und einkaufen, bevor du kommst, aber nun hast du mich kalt erwischt. Es tut mir leid.« »Mach dir keine Sorgen, ich wasche das Geschirr ab, während du das Essen machst.« Aber er war außer sich vor Freude und lief immer wieder auf und ab, um Youns beim Schlafen zu betrachten.
Am nächsten Tag ging ich in die Stadt, um mit meinem Kleinen einkaufen zu gehen. Ich trug ihn in einer Art Tasche, die ich mir um die Schultern band. Es war ein wunderbares Gefühl, meinen Kleinen so nah an mir zu tragen. Ich schützte sein Köpfchen mit der einen Hand und in der anderen trug ich die Einkaufstasche und lief fröhlich nach Hause, als wäre ich der glücklichste Mensch der Welt. Auch wenn ich bei jeder Bewegung Schmerzen hatte, es störte mich nicht, ich war viel zu glücklich, um den körperlichen Schmerz zu spüren. Drei Tage später bekam ich 41 Grad Fieber. Ich hatte so viel Milch, dass ich zwei oder drei Kinder hätte versorgen können, und dieser Überschuss an Milch verursachte eine Entzündung in der Brust. Ich phantasierte die ganze Nacht und doch machte ich mir nicht allzu große Sorgen. Nicht einmal Bilal hatte daran gedacht, einen Arzt zu rufen. Er ging arbeiten und ich blieb im Bett, mein Baby neben mir. Ich schlief und wachte im Delirium wieder auf, schweißgebadet. Ich stand nur auf, um Youns zu stillen, seine Windeln zu wechseln, Wasser oder Tee zu trinken, und legte mich dann wieder schlafen. Am zweiten Tag kam eine Freundin von Bilal, Gabriela, zu Besuch, um mir zu gratulieren. Gabriela war sehr nett und sprach mit mir italienisch. Sie machte mir Wadenwickel mit Wasser und Essig und legte mir Kompressen auf die Stirn, dir mir sofort Linderung verschafften. Sie sagte, ich solle sofort zum Arzt gehen. Zum Arzt gehen, nur wegen ein bisschen Fieber und einer schmerzenden Brust, dachte ich im Stillen. Ich war nicht daran gewohnt, zum Arzt zu gehen. Bei meinen früheren Herrschaften wurde ich nicht versorgt, wenn ich krank war, im Gegenteil, ich musste in diesem Zustand weiterarbeiten. Immerhin war ich jetzt sicher in meinem Bett und in der Nähe meines kleinen Jungen, der mich so glücklich machte, wie ich es nie zuvor gewesen war. Auch meine Familie war nicht daran gewöhnt, zu einem Arzt zu gehen, wenn jemand krank war. Abgesehen von der Tatsache, dass es bei uns auf dem Land zur damaligen Zeit weder Ärzte noch Krankenhäuser gab. Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dass auch sie einmal eine Brustinfektion gehabt hatte, während sie stillte. Sie sagte, ein roter und stark pulsierender Fleck hätte sich auf ihrer Brust gebildet. Als sie die Schmerzen und das hohe Fieber nicht mehr aushielt, nahm sie ein Messer, hielt es übers Feuer, bis es glühte und schnitt sich dann in die Brust, dort wo der rote und harte Fleck war. Natürlich ohne Betäubung oder Schmerzmittel. Gelber Eiter spritzte aus dem Schnitt in der Brust. Während sie vor Schmerzen schrie, drückte sie weiter auf ihre Brust, um alles herauszulassen. Nach einigen Tagen erholte sie sich vom Fieber und die Wunde schloss sich. Glücklicherweise hatte sie von ihrer Mutter überliefert bekommen, wie diese traditionelle Behandlungsmethode funktionierte, die zwar sehr schmerzhaft war aber Leben rettete.
Obwohl Gabriela darauf bestanden hatte, ging ich nicht zum Arzt. Mir genügte der Gedanke an all die Ärzte, die mich bei der Geburt umgeben hatten, wenn auch in der guten Absicht, mir zu helfen. Das Fieber nahm seinen Lauf und die Infektion klang ohne medizinische Versorgung ab. Ich massierte meine Brust regelmäßig und pumpte die Milch ab und stillte Youns mit der gesunden Brust. Schließlich kehrte auch mein Appetit