Im goldenen Käfig. Aicha Laoula

Im goldenen Käfig - Aicha Laoula


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seit mehreren Monaten nicht mehr gegessen hatte, und sogar ein wenig Käse, der mir bis dahin nicht geschmeckt hatte. Ich gewann an körperlicher Kraft und verbrachte die schönsten Tage meines Lebens zusammen mit meinem Kind. Auch Bilal konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und unseren Sohn auf den Arm zu nehmen. Bilal hatte begonnen, regelmäßig mit mir zu Abend zu essen. Auch die kleine Miriam war glücklich und stolz auf ihren kleinen Bruder. Youns brachte große Freude in unser Leben, die mich aus der Einsamkeit riss, die ich mein ganzes Leben lang verspürt hatte.

      Eines Morgens stand eine Frau vor der Tür, doch als sie bemerkte, dass ich kein Deutsch sprach, ging sie wieder. Sie war eine Betreuerin, die junge Mütter kontrollierte und unterstütze. Sie brachte ihnen bei, wie sie ihre Babys zu versorgen hatten oder gaben Ratschläge und beantwortete Fragen. Ich hatte tausend Fragen, doch es war nichts zu machen. So musste ich mich selbst darum kümmern, meinen Kleinen ohne die Hilfe oder die Erfahrung eines Erwachsenen zu versorgen. Um ehrlich zu sein, ich war ganz froh, dass die Frau wieder weg war. Ich hätte mich geschämt, ihr das Kinderzimmer zu zeigen, das nicht so eingerichtet war, wie ich es bei anderen Schweizer Familien gesehen hatte. Im Zimmer stand das Bettchen von Youns, das wir von Freunden geschenkt bekommen hatten, ein Teppich lag am Boden, eine Matratze, ebenfalls am Boden, auf der Bilal und ich neben unserem Baby schliefen, im einzigen Zimmer, das mit einem Ölofen beheizt werden konnte, zusätzlich zu dem Holzofen im Wohnzimmer. Youns hatte kein schönes Zimmer, aber dafür bekam er all meine Liebe und die seines Vaters. Bilal besaß nicht viel, da er stets all sein Geld zu seiner Familie nach Marokko schickte. Ihm blieb nur das Notwendigste zum Leben, doch trotz alledem war ich glücklich und dankbar für das, was wir besaßen. Unsere Freunde schenkten uns gebrauchte Kleidung für mich und Youns. Doch manchmal hatte ich Angst, dass wir von den anderen wegen unserer wirtschaftlichen Lage verachtet und abgelehnt werden würden. Ich war von meiner Heimat gewöhnt, dass die Armen weniger wert waren als die Reichen. Zum Glück waren unsere Freunde sehr bescheidene Menschen. Sie liebten und respektierten uns für das, was wir waren und nicht für das, was wir besaßen. Viele sagten auch, dass unser Haus eine tolle Aura hätte. Tatsächlich wollten viele von ihnen gar nicht mehr gehen, weil sie sich bei uns sehr wohl fühlten. Eine weitere Sache, die mir in der Schweiz sehr gut gefallen hat, war, dass die Menschen alle gleich behandelt wurden, ob Frau oder Mann, arm oder reich. Alle hatten die gleichen Rechte, was die Gesundheit, das Recht auf Schulbildung und die Religionsfreiheit betraf. Selbst die Tiere wurden würdevoll und besser behandelt, als in manchen Ländern der Welt die Menschen.

      Ich war überrascht, dass in der Schweiz die Menschen, die auf dem Land lebten, dieselben Rechte hatten wie die aus der Stadt. Zum Beispiel gab es in den Dörfern Schulen, Postämter, Geschäfte und Banken, Ärzte, Apotheken und Verkehrsmittel, es gab elektrischen Strom und Wasserleitungen. Im Haus eines Schweizer Bauern sah es, was den Komfort anbelangte, nicht anders aus als im Haus eines Städters. Die Schweizer Bauern waren außerdem sehr stolz darauf, Landwirte zu sein. Sie gingen erhobenen Hauptes, im Gegensatz zu den Bauern bei uns, die immer mit gesenktem Kopf herumliefen, da sie sich im Vergleich zu den reichen Stadtmenschen minderwertig fühlten. Doch glücklicherweise haben sich die Dinge auch in meinem Land zum Besseren gewendet. Mittlerweile gibt es in den meisten unserer Dörfer Strom und Trinkwasser, ein Postamt, eine Telefonzelle, Geschäfte, eine Schule und eine Apotheke, und in den größeren Dörfern sogar medizinische Versorgung.

      Es war Oktober und das Wetter war noch recht mild. Ich packte meinen Kleinen in seine Tragetasche und unternahm lange Spaziergänge den Fluss entlang, der ein Paradies bot, mit all den Bäumen mit ihren orangen und hellbraunen Blättern. Ein schöner Kontrast zu den grünen Wiesen und dem glitzernden Wasser des Flusses, in dem sich der mit Wolken übersäte Himmel spiegelte. Gelinde gesagt, eine magische Natur. Die Natur bereitet sich auf ihren Winterschlaf vor, so wie ich sie bei meiner Ankunft in der Schweiz vorgefunden hatte, bedeckt von Schnee und Nebel. Ich war körperlich gestärkt und begann meine Arbeit an den Gewürzen wieder aufzunehmen, wenn Youns schlief. Youns wuchs zusehends und er war ein sehr hübsches Kind, mit großen schwarzen Augen und schwarzem, lockigem Haar. Er war glücklich, zufrieden und gesund. Er hatte ein wundervolles Lächeln, das alle Leute begeisterte. Er weinte und jammerte nie. All unsere Freunde und Nachbarn liebten ihn für sein bezauberndes Wesen. Ich verrichtete meine Arbeiten in Ruhe, während er in seiner Wiege lag, die ich überallhin mit hinnahm. Oft unterbrach ich meine Arbeit, streichelte ihn und küsste ihn am ganzen Körper, ich wechselte seine Windeln und stillte ihn, um ihn dann wieder in seine Wiege neben mich zu legen. Wenn ich von der Arbeit müde war, legte ich mich mit ihm auf die Matratze und wir schliefen umschlungen ein, wie zwei Kinder. Zwischen uns entwickelte sich eine Beziehung, die weit über die zwischen Mutter und Sohn hinausging. Seit seiner Geburt fühlte ich mich wie neu geboren und wuchs gemeinsam mit ihm Tag für Tag. Vor seiner Geburt hatte ich immer das Gefühl, dass mein inneres Wachsen, das kindliche Wachstum, im Laufe der Zeit stehen geblieben war, doch jetzt war es wiederbelebt, und ich entwickelte mich, gemeinsam mit Youns, weiter.

      Urlaub in Marokko

      Es war Dezember, der Monat, den Bilal stets bei seiner Familie in Marokko verbrachte. Er war sehr glücklich, sie wiederzusehen, während ich eine Mischung aus Freude darüber verspürte, meine Familie zu besuchen, und Angst vor meiner Schwiegermutter. Denn die Tradition verlangte leider, dass ich den Urlaub mit meinem Mann im Hause meiner Schwiegereltern verbringen musste. Gott sei Dank hatte ich mein Kind, das mir Mut gab, und die kleine Miriam, die mit uns kam. Doch zuerst mussten wir die Geschenke für die vielen Verwandten von Bilal kaufen. Ich hatte beschlossen, ihn mit dem Geld, das ich mit den Gewürzen verdient hatte, dabei zu unterstützen, Parfums, Make-up, Cremes, Schuhe, Uhren und Schweizer Schokolade zu kaufen. Für seine Neffen kauften wir Spielzeug und Kleidung. Für meine Familie kaufte ich wenig. Wie ich meine Schwiegermutter kannte, hätte sie mich dafür verurteilt, wenn ich mehr für meine Familie gekauft hätte. Ich habe mehr Dinge für sie und ihre Töchter gekauft, in der Hoffnung, ihre Wut auf mich zu besänftigen und vielleicht Freundschaft schließen zu können. Aber ich täuschte mich, denn wie ein altes Sprichwort besagt, die Katze lässt das Mausen nicht.

      Am Abend vor unserer Abreise war ich im Wohnzimmer, in dem alle Geschenke und Koffer und Taschen verteilt waren, die ich noch packen musste. Youns lag neben mir in seiner Wiege und brabbelte glücklich vor sich hin. Als Bilal nach Hause kam, sah ich, wie er 1000 Franken in Geldscheinen aus seinem Geldbeutel zog. Draußen schneite es und es war kalt, auch drinnen war es kalt, doch das Wohnzimmer war mit dem Holzofen beheizt. Ich frage Bilal, wo er denn das ganze Geld her habe, und er antwortete, es sei von der Bank. »Hast du es gespart?« »Nein, ich habe es mir geliehen.« »Ist das das erste Mal, dass du dir Geld von der Bank leihst?« »Nein, ich mache das immer so, bevor ich nach Marokko fahre.« »Du hast immer Schulden gemacht?« »Ja. Aber warum bombardierst du mich mit all diesen Fragen?« Ich sah ihn ernst an und fragte: »Bilal, wie viel Schulden hast du im Moment?« Er wandte sich ab, um die Geldscheine in ein Täschchen zu stecken. »Das geht dich nichts an. Du bist doch erst vor kurzem in mein Leben gekommen, was bildest du dir denn ein, dich in meine Angelegenheiten einmischen zu können?« »Es sind jetzt nicht mehr nur deine Angelegenheiten, Bilal. Vergiss nicht, dass wir verheiratet sind und einen Sohn haben.« Ich sah ihn ernst an und sagte: »Bitte, gib mir das Geld, wir müssen es auf die Bank zurückbringen. Wir müssen mit dem zurechtkommen, was wir haben.« Er sah mich an wie ein Kind seine Mutter, die ihm gerade ein Verbot erteilt hatte. Nach einem tiefen Seufzer gab er mir das Geld. Es waren 3000 Schweizer Franken. Zu diesem Zeitpunkt eine enorme Summe für uns. Ich löste ein Stück des Teppichbodens in einer Ecke des Wohnzimmers und stopfte die Geldscheine darunter, dann legte ich den Teppich wieder zurecht und stellte einen Blumentopf darüber. Bei unserer Rückkehr würden wir es zurückgeben. Mit einem traurigen Blick sagte er: »Aber was machen wir, wenn unser Geld nicht für Marokko ausreicht? Du hast ja keine Ahnung, Aicha, welche Ausgaben mich erwarten.« »Wir müssen uns arrangieren, Bilal, und nur das ausgeben, was wir haben, und keinen Cent mehr.« Er war voller Sorge, weil er um die Erwartungen seiner Familie wusste. All die Jahre hatte er die Schulden bezahlen müssen, die sie in den Läden gemacht hatten, neben den großen Ausgaben, die er für sie zu Hause machen musste, ganz zu schweigen vom Bargeld, das alle von ihm erwarteten. Außerdem hatte Bilal ihnen ein Haus gebaut und mit neuen Möbeln eingerichtet und jetzt musste er ihnen einen zweiten Stock bauen und auch diesen einrichten. Bilal war der einzige


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