Im goldenen Käfig. Aicha Laoula
feucht. Selbst das Wasser auf dem Geschirr im Spülbecken in der Küche war gefroren. Bilal hatte den Holzofen angezündet und wenige Minuten später ließen mich der Geruch des Holzes und die Wärme der Flammen ein wenig entspannen. Bilal war glücklich, mir sein Zuhause zeigen zu können: zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Badezimmer mit Dusche, eine Küche und ein Raum vor dem Haupteingang. Der Boden der Zimmer war mit hellbraunem Teppich bedeckt, der Rest der Fußböden hingegen mit beigem Vinyl. Die Wände des Wohnzimmers hingen voller Poster, große und kleine, Bilder von Sängern, Bilals Idole, der berühmteste darunter war Bob Marley, er war auf einem Bild mit fliegenden Zöpfen abgebildet. Die Tür des Wohnzimmers war in den verschiedensten Farben gestrichen, keine davon hatte eine präzise Form, es waren für mich unerkennbare Bilder. Eines Tages fragte ich Bilal, wer die Tür so seltsam gestrichen hatte. Seine Antwort lautete: »Das ist Kunst. Ich habe das gemalt. Es ist ein Bild, das jeder so interpretieren kann, wie er will. Es nennt sich abstrakt.« Ich betrachtete weiterhin die Tür, von rechts, dann von links. Ich legte mich auf den Boden, betrachtete sie von unten, dann mit etwas Abstand, ohne Erfolg. Ich war nicht in der Lage, dieser Malerei eine Form zu geben, die mir logisch erschien. Letztlich kam ich zu dem Entschluss, dass ich einfach zu unwissend war, um das zu verstehen, was Bilal Kunst nannte. In Marokko hatte ich noch nie davon gehört. Für mich war dies ein neues Wort in meinem Wortschatz. Kunst? Abstrakt? Was ist das? Hm … mit den Schultern zuckend ließ ich die Tür Tür sein.
Ich fand mich in einer völlig anderen Welt wieder, auch was die Auslegung bestimmter Dinge betraf, und wir sprechen dabei nicht nur von Geschmäckern und der Einrichtung oder den farblosen Farben in Bilals Zuhause. Ab dem ersten Tag stand für mich fest: Ich musste diesem Junggesellenhaushalt etwas mehr Weiblichkeit verleihen. Die Wände mussten gestrichen werden und die Fenster hatten keine Vorhänge.
Im Wohnzimmer gab es einen großen Holzkamin, der zum Flur hin offen war. Er war mit grünen Fliesen verkleidet und von einer Bank umsäumt, auf der ich gerne saß und mich von der angenehmen Wärme des Kamins umarmen ließ. Ich saß hier oft stundenlang mit geschlossenen Augen und dachte nach. Ich stellte mir vor, wie ich auf meinem Hügel in Marokko saß, wo ich das Gefühl von Freiheit und Seelenfrieden verspürte. Wo ich die Wärme der Sonne spürte und den blauen Himmel und die steinigen Ebenen beobachten konnte, soweit das Auge reichte.
Im Wohnzimmer war es warm, im Rest des Hauses dagegen kalt. Alle Möbelstücke waren braun und antik, aus den 40er Jahren, aber in einem guten Zustand. Am Boden des Wohnzimmers war eine Abbildung eines großen menschlichen Gesäßes, aus Holz geschnitzt. Jedes Mal, wenn wir Gäste empfingen, schämte ich mich dafür. Bei uns in Marokko wäre es undenkbar gewesen, eine solche Figur den Gästen zu präsentieren. Es war viel zu intim, ein Tabu. Ein gutes Beispiel für etwas, was mich stets schockierte, war, wenn ich Bilder von nackten Frauen sah, aufgehängt in den Wohnzimmern einiger Leute hier in der Schweiz, auch dies nannten sie Kunst, von der ich wirklich nichts verstand. In Marokko wäre es undenkbar, ein solches Bild aufzuhängen, es wäre ein Zeichen mangelnden Respekts gewesen, ein Skandal.
Im Schlafzimmer standen eine braune Kommode, mit einem Foto von mir darauf, und ein Bett. An der Wand über dem Bett hing ein orientalischer Teppich, dessen rote Farbe bereits verblasst war. Vom Fenster aus sah man die Bahngleise, das alte Haus wurde jedes Mal erschüttert, wenn ein Zug vorbeifuhr. Ich war glücklich, in einem Haus zu leben, in einem Haus, das ich schließlich mein Zuhause nennen konnte. Die Dinge oder die Familie, die ich während meiner ganzen Kindheit vermisst hatte. Tief im Inneren meines Herzens hoffte ich, dass ich mich in dieses neue Land integrieren könnte und dass mit Bilal alles gut werden würde.
Ich konnte es kaum erwarten, die neue Welt um mich herum bei Tageslicht zu erkunden. Als ich am nächsten Tag erwachte, lief ich ins Wohnzimmer zum Fenster, das auf die Hauptstraße blickte, die die Stadt Schaffhausen mit dem Ort Neuhausen verband. Ich richtete meinen Blick gen Himmel und erkannte, dass ich den blauen und klaren Himmel wohl in Marokko zurückgelassen hatte. Hier war der Nebel so dicht, dass man ihn hätte in Scheiben schneiden können, wie eine Schokoladentorte. Ein Nebel, der sich sowohl über die Stadt als auch die Gemüter ihrer Einwohner legte, besonders über mich, die ich den Nebel nicht leiden konnte. Andererseits rief der Schnee eine immense Freude in mir hervor.
Voller Bewunderung betrachtete ich die Schneeflocken, die vom grauen Himmel fielen und sich anschließend sanft auf den nackten Ästen der Bäume und am Boden niederließen. Die Berge von Schnee an der Seite der Straße, der Verkehr, der in ordentlichen Bahnen ohne den lärmenden Ton der Hupen vor sich hinfloss, frei von Menschen, die kreuz und quer über die Straße liefen und das eigene Leben in Gefahr brachten, wie es bei uns der Fall war. Hier gingen die Menschen geordnet und nur dort über die Straße, wo es Fußgängerkreuzungen gab und sie warteten an den Ampeln, bis sie auf grün schalteten und das Zeichen zum Gehen gaben. Zur damaligen Zeit beachteten in Marokko nicht einmal die Fahrer die roten Ampeln, geschweige denn die Fußgänger. Die Fahrer gaben Gas ohne Rücksicht auf die Fußgänger zu nehmen, während sich diese unter den Verkehr mischten. Rette sich wer kann! Heute ist die Situation allerdings auch bei uns eine andere.
Über der Straße vor dem Haus gab es eine Brücke, über die eine weitere Eisenbahnstrecke verlief. Hinter dieser Brücke stand eine Fabrik, eine Keramikfabrik, wie ich später erfuhr. Neben der Fabrik war das Schönste und Wundervollste, auf das ich in diesem Land traf. Der majestätische und prächtige Fluss, der durch die Stadt verlief und im Rheinfall endete. Ich verliebte mich vom ersten Moment an in diesen Fluss. Ich konnte es kaum erwarten, hinauszugehen, um die Stadt zu besichtigen und alles Neue zu erkunden. Nach dem Frühstück zog ich mich warm an, damit ich mit Bilal nach draußen konnte. Links neben dem Eingang des Gartens, in der Nähe der Eingangstür, bemerkte ich eine rote Rose, die sich entfaltete, und aus der stacheligen Pflanze ohne Blätter hervorstand, doch die Kälte hatte sie zu Eis verwandelt. Jedes Mal, wenn ich an ihr vorüberging, hielt ich kurz inne und bewunderte sie. Welch ein Wunder! Eine völlig intakte Rose, regungslos, zum grauen Himmel gewandt, als würde sie sich Gott lobpreisend zuwenden.
Wir nahmen den Bus an der Haltestelle vor dem Haus. Bei unserer Ankunft war ich von der Schönheit Schaffhausens verzaubert, die bei Tageslicht noch deutlicher zu erkennen war, auch wenn die Sonne nicht schien. Für mich war ein Tag ohne Sonnenschein sehr ungewöhnlich. Ich verliebte mich sofort in diese Stadt. In der Altstadt war es sehr ruhig, hier fuhren weder Autos noch Motorräder. Die Fußgänger waren ruhig und niemand erhob seine Stimme, während er sprach und man hörte keine Schreie von Kindern, die auf den Straßen spielten. Ich ging umher, die Augen auf die Wände der alten Häuser gerichtet, von denen die schönsten Malereien herunterstrahlten, die, wie ich gehört hatte, die Geschichte der Stadt darstellten. Ich blieb vor den Brunnen stehen, die über die ganze Stadt verstreut waren und bewunderte die großen Statuen, die in der Mitte der Brunnen posierten. Ich beobachtete sie sehr lange und versuchte, ihre Bedeutung zu verstehen. Niemals zuvor hatte ich die Statue einer Person gesehen. Bilal forderte mich auf, etwas schneller zu gehen, aber ich war von all dem Neuen und allgemein von dem Leben dieser Stadt so fasziniert. Voller Verwunderung bemerkte ich, dass die Hunde an der Leine ausgeführt wurden, die Babys wurden in Wagen spazieren gefahren und nicht auf den Rücken gebunden, wie bei uns, vor allem auf dem Land. Ich bemerkte auch, dass die Menschen immer flott unterwegs waren, als hätten sie es ganz eilig. Ich betrachtete jedes Detail und saugte jeden Geruch auf und verarbeitete all die neuen Gefühle, die in mir geweckt wurden. Schließlich kamen wir am Supermarkt an, der völlig anders war als unsere Souk und die marokkanischen Geschäfte. Ich bestaunte die Regale, vollgestopft mit Dosen, Tütchen, Päckchen, Tuben, Töpfchen, Flaschen, kleine und große. Ich konnte weder lesen, was sich darin befand, noch wusste ich, wie ich diese neuen Gerichte kochen sollte. Es überraschte mich, dass es selbst für Hunde und Katzen eine Vielzahl leckerer Gerichte gab, ich fand die Idee wundervoll und brillant. Bei uns aßen die Katzen und Hunde die Reste, wenn sie das Glück hatten, welche zu bekommen, wenn nicht, mussten sie sich selbst etwas beschaffen, um zu überleben. Erleichtert atmete ich auf, als ich die Theken voller Gemüse und frischem Obst sah und dahinter einen Metzger, der Fleisch verkaufte, das nicht verpackt war. Ich war erleichtert, frische Lebensmittel zu sehen, von denen ich wusste, wie man sie zubereitete. Während unseres Ausflugs beobachtete ich aufmerksam die Straßen und die Wege, um sie mir einzuprägen, wenn ich einmal allein in den Supermarkt gehen würde.
Am ersten Arbeitstag von Bilal stand ich um fünf