Im goldenen Käfig. Aicha Laoula

Im goldenen Käfig - Aicha Laoula


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ich kann dir doch wenigstens einen Tee oder einen Kaffee machen!« Er bedankte sich, verabschiedete sich und ging. Ich war enttäuscht, weil ich ihm doch eine gute Frau sein wollte, wie ich es in Marokko gesehen hatte. Jeden Morgen stand ich auf, um ihm vom Fenster aus zu winken und ihm hinterherzublicken, bis sein Roller hinter der Kurve verschwand. Oft kam einer seiner Arbeitskollegen vorbei und nahm ihn mit in seinem Transporter, um auf weit entfernte Baustellen zu fahren. Es war noch dunkel und die Straßenlaternen brannten noch. Ich schloss das Fenster und zitterte am ganzen Körper, ich rollte mich zusammen, brrrr, was für eine Kälte! Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass Bilal so früh zur Arbeit gehen musste, während ich mich noch einmal in die warmen Decken kuscheln konnte. Ich war an eine solche besondere Behandlung nicht gewöhnt, wo ich doch meine ganze Kindheit mit Arbeit verbrachte hatte, von der Morgendämmerung bis spät in die Nacht, als kleine Sklavin reicher Familien. Oft machte ich am Morgen trotz der Kälte einen kleinen Spaziergang. Die Straßen waren noch menschenleer und die wenigen Leute, die vorbeikamen, liefen schnell, eingehüllt in ihre Jacken, um sich vor der Kälte zu schützen. Am liebsten spazierte ich den Fluss entlang, der mir immer viel Freude bereitete. Ich verspürte großen Respekt für das Wasser, das bei uns auf dem Land als sehr wertvoll galt. Hier hingegen floss es, ohne dass es jemand bemerkte. Ich sehnte mich danach, ein wenig von diesem kostbaren Strom in meine Heimat zu schicken. Hätte ich ein Wunder geschehen lassen können, ich hätte es gemacht. Das Wasser hätte aus meinem Dorf ein kleines Paradies werden lassen, indem es Gras für die Tiere und eine reiche Ernte für die Menschen hätte wachsen lassen.

      Nach meinen Spaziergängen kehrte ich zurück, um die Hausarbeit zu erledigen. Ich musste eine Beschäftigung finden, um nicht in Verzweiflung zu geraten, wegen all dem Nebel und der Einsamkeit. Ich musste diese große Umstellung in meinem Leben irgendwie bewältigen. Ich wusste nicht, ob ich mich glücklich oder unglücklich fühlen sollte. Es war eine ganz neue Herausforderung, die es zu meistern galt. Die Spaziergänge und die Hausarbeit machten mich körperlich müde und beschäftigten meinen Kopf. Doch nachdem ich mit dem Haushalt fertig war, machte ich ein kleines Nickerchen. Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich so viel geschlafen oder so viel Erholung gehabt, noch hatte ich jemals so viel Ruhe und Frieden erlebt, ohne ständig herumkommandiert, zur Eile getrieben oder geschlagen zu werden, wie es mir in der Vergangenheit durch meine ehemaligen Herren und meine Schwiegermutter und meine Schwägerinnen ergangen war. Nun schien es, als wäre ich im Paradies angekommen! Ganz zu schweigen von der Fülle an Essen, das ich zur Verfügung hatte, doch leider hatte ich keinen Appetit. Ich aß wenig oder gar nichts. Manchmal vergaß ich auch einfach zu essen, da ich nicht an regelmäßige Mahlzeiten gewöhnt war, angesichts meiner Kindheit, in der ich von den Herrschaften nur wenig oder nichts zu essen bekommen hatte. Wenn Bilal von der Arbeit nach Hause kam, wartete ich mit dem Essen auf ihn, aber oft endete es damit, dass ich alleine aß. Er sagte, er hätte keinen Hunger, weil er im Restaurant bereits ausreichend gegessen hatte. Während er auf der Baustelle arbeitete, hatte er am Mittag Hunger, am Abend dann nicht mehr. Oft dachte ich an meine Familie, die so wenig zu essen hatte, und ich wünschte mir inbrünstig, diese Fülle mit ihnen zu teilen, doch dies war leider unmöglich. Es war absurd. Während meiner gesamten Kindheit hatte ich Hunger leiden müssen und mich danach gesehnt, zu essen, und hatte nichts, und heute, wo ich ausreichend zu essen hatte, fehlte es mir an Appetit. Trotzdem fühlte ich mich glücklich und blickte voller Hoffnung in die Zukunft. Nur unter dem Nebel und der feuchten Kälte hatte ich zu leiden. Unsere Decken und das Bett waren immer feucht und kalt. Nur ich litt unter der Kälte; Bilal spürte sie nicht einmal. Er arbeitete als Maurer auf der Baustelle und trug nichts anderes als ein T-Shirt. Wenn er auf seinem Roller von der Arbeit kam, waren sein Bart und sein lockiges Haar buchstäblich gefroren, bis hinauf zu den Augenbrauen. Es war so lustig, ihn so zu sehen.

      Kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz verlor Bilal seine Arbeit, fand aber gleich darauf eine neue Anstellung in einem Geschäft namens Coop, im Zentrum von Neuhausen, nicht weit von Zuhause entfernt. Bilal arbeitete dort als Lagerist. Bilal hatte die zwei Monate seiner Arbeitslosigkeit genutzt, um mich seinen Freunden und seiner sechsjährigen Tochter Miriam vorzustellen, und auch dazu, mir die schöne Stadt Schaffhausen zu zeigen. Bilal nahm mich mit in die Bars, wo wir seine Freunde trafen. Er war großzügig und spendierte Bier für alle. Und wenn er neue Leute kennenlernte, lud er sie zu uns nach Hause ein, um Couscous zu essen. So musste ich oft für mehrere Leute Couscous kochen. Manchmal brachte er spontan und spät abends Leute mit nach Hause und ich musste dann kochen, während ich bereits im Pyjama war und schlafen gehen wollte. Diese Verhaltensweise war typisch für unser Land, wo der Ehemann die Gäste präsentierte und die Frau zu jeder Tages- und Nachtzeit kochen musste. Bilal und ich wurden ebenfalls von seinen Freunden eingeladen, mit denen wir die Wochenenden verbrachten, um gemeinsam zu essen, zu reden und Musik zu hören.

      Anfangs war ich über das Verhalten der Menschen in der Schweiz schockiert. Zum Beispiel, wenn sich Paare umarmten, sich streichelten und küssten und das vor allen anderen, an den Haltestellen, in den Bars und auf der Straße. Ein solches Verhalten wäre in meinem Land undenkbar gewesen. Zur damaligen Zeit wären die Mädchen von ihren Familien geschlagen worden, während die Jungen gezwungen worden wären, die Mädchen zu heiraten, die sie entehrt hatten. Nicht einmal verheirateten Paaren war es erlaubt, sich in der Öffentlichkeit zu küssen oder Gesten der Zärtlichkeit auszutauschen, diese waren der Privatsphäre vorbehalten und auch dort in keinem Fall vor den Augen der Kinder oder naher Verwandter.

      Eine weitere Sache, die mich schockierte, war zu sehen, wie die Frauen rauchten und Alkohol tranken, oder kurze und enge Kleider mit weitem Dekolletee trugen, mit den Männern in den Bars saßen und sich unterhielten, als wenn nichts wäre. Bei uns wären Frauen, die sich so verhalten hätten, bestraft und von ihrer Familie und der Gesellschaft verstoßen worden. Sie galten als Prostituierte, die keinerlei Respekt verdient hatten. Wenn mich Bilal mit in seine Lieblingsbar nahm, trank ich immer schwarzen Tee mit Sahne oder Milch, von der ich festgestellt hatte, dass sie mir sehr gut schmeckte. Ich blieb abseits sitzen und sah schüchtern auf die Leute, deren Verhalten mich verlegen machte, aber ich zeigte meine Abneigung nicht. Ich tauschte mit den Anwesenden, die sympathisch und nett waren, einen kurzen Blick und ein Lächeln aus, dann senkte ich meinen Blick scheu und sah woanders hin, um ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass ihr Verhalten unangenehm für mich war. Ich konnte mich an diesen Abenden nicht erfreuen, zwischen Verlegenheit und Scham, wo ich doch in einer völlig anderen Welt aufgewachsen war, in der ein solches Verhalten hart bestraft wird. Um die Wahrheit zu sagen, ich wusste noch nicht, welcher Welt ich angehörte, ich fühlte mich weder als Teil meines Heimatlandes noch fühlte ich mich meiner neuen Heimat zugehörig. Die Bar war stets vernebelt mit einer Mischung aus Zigarettenrauch und Haschisch, die Übelkeit in mir erzeugte. Ich konnte es kaum erwarten, die Bar wieder zu verlassen. Oft ging ich hinaus und setzte mich auf eine Stufe vor dem Eingang an die frische Luft, während Bilal sich innen mit seinen Freunden vergnügte. Einmal führte mich Bilal in eine Diskothek, sie war überfüllt und halb dunkel. Die Musik war sehr laut, ließ das ganze Gebäude erzittern und betäubte jeglichen Gehörsinn. Es war das erste Mal, dass ich in der Schweiz auf eine Party ging. Ich freute mich darauf und war neugierig, doch als ich dort ankam, fand ich nicht das vor, was ich erwartet hatte. Die Menschen amüsierten sich, jeder auf seine Weise. Die Atmosphäre war für meinen Geschmack zu chaotisch. Die meisten jungen Leute waren betrunken und hatten eine Zigarette in der Hand. Wegen des Lärms musste man schreien, um von seinem Gegenüber gehört zu werden. Die Musik schien die Menschen im Geiste zu bewegen, in eine andere Welt zu entführen, in eine Welt, die so ganz anders war als das alltägliche Leben. Ich bemerkte, dass die Menschen einen leeren Blick hatten, auch wenn sie sich zu amüsieren schienen. Der Rauch vernebelte die Sicht und erschwerte das Atmen. Meine Aufmerksamkeit wurde sofort auf die runden und glänzenden Lampen gelenkt, die sich an der Decke des Lokals drehten. Sie reflektierten bunte Lichter auf die Gesichter der Gäste, um dann wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, wie von Zauberhand. Mir war klar, dass diese Art von Fest nichts mit unseren berberischen Empfängen zu tun hatte, wo die Menschen mit einem Spritzer Rosenwasser oder Orangenblüten begrüßt wurden, neben dem Duft von Weihrauch, der den ganzen Ort der Festlichkeiten erfüllte. Die Leute saßen ruhig und bequem auf bunten Teppichen und lauschten den Gesängen und sahen dem Volkstanz zu, der in der Mitte des Hofes des Hauses getanzt wurde, in dem das Fest stattfand. Niemand trank Alkohol und noch weniger wurden Zigaretten geraucht. Als Getränke kannten wir nur Tee und Wasser.

      Zu


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