Systemische Beratung der Gesellschaft. Ruth Seliger
lebende, also technische Systeme wie ein Auto oder die unbelebte Natur, verändern sich nicht selbst, sie können verändert werden: Ein technisches System kann durch Beschädigung oder Materialabnutzung kaputtgehen und repariert werden, ein Stein kann zertrümmert oder zu Sand vermahlen werden.
Mich interessieren Prinzipien der Veränderung lebender Systeme – von der Amöbe bis zur menschlichen Gesellschaft. Lebende Systeme durchleben in ihrer Genetik angelegte Entwicklungen – Wachstum, Reife, Reaktionsmuster. Aber sie können sich auch selbst verändern. Meistens tun sie das nicht ohne Grund. Lebende Systeme leben am liebsten vor sich hin, sind damit beschäftigt, zu leben und am Leben zu bleiben, ihre Grenzen zu erhalten, ihre Prozesse mit ihrer Umwelt – den Stoffwechsel – und in ihrem Inneren – die Verdauung – zu regulieren. Sie nehmen Veränderungen in der Regel dann vor, wenn sich in ihrer Umwelt etwas verändert oder sie in ihrem Inneren Probleme haben, sie also krank werden. Dann muss Veränderung das weitere Leben sicherstellen. Dies kann bedeuten, einen anderen Lebensraum zu suchen, den Lebensraum zu verändern, sich an den veränderten Lebensraum anzupassen oder im Inneren »Heilung« zu versuchen.
Veränderung ist nicht gerade die Lieblingsbeschäftigung lebender Systeme. Sie ist anstrengend, unangenehm, und ihr Ausgang ist ungewiss. Lebende Systeme sind ihrem Wesen nach daher träge und eher konservativ. Sie verändern sich nur dann, wenn sie mit ihrem Latein am Ende sind, wenn sie eine Grenze des Machbaren erreicht haben.
»Die gesammelten Theorien über den Wandel sagen uns, dass menschliche Systeme Homöostase und Gleichgewicht suchen.«3
Veränderungen müssen aber sein, besonders wenn es Probleme gibt, die unser Leben im weitesten Sinne bedrohen. Wenn in unserem Leben alles gut läuft, hält sich die Lust auf Veränderung in Grenzen.
Auch Organisationen sind lebende Systeme, die am liebsten so bleiben möchten, wie sie sind, sich aber aufgrund äußerer oder innerer Bedingungen immer wieder verändern müssen. Wenn sich Marktbedingungen, Eigentumsverhältnisse, gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder technologische Instrumente verändern, dann müssen Organisationen mitziehen. Organisationen setzen sich ungern in Bewegung. Wenn es denn sein muss, dann bekommt man es mit starken Beharrungstendenzen und Gegenbewegungen zu tun.
Wie verändert sich das größte lebende System, das für uns alle die relevante Umwelt bildet: die Gesellschaft? Was löst Veränderungen aus? Wie können sie gestaltet werden? Wie hat sich die Gesellschaft in der Vergangenheit immer wieder verändert? Wie ist ihre Geschichte entstanden?
Die Frage nach dem Wesen von Veränderungen ist, wie vieles in unserem Leben, eine – wie Heinz von Foerster es nennt – »prinzipiell unentscheidbare Frage«4, also eine Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt, kein definiertes Maß, auf das wir uns beziehen können. Die Frage nach dem Wesen von Veränderungen ist anders zu beantworten als die Frage, bei welcher Temperatur Wasser zu kochen beginnt. Für solche Fragen wurden bereits Antworten bereitgestellt, die konkrete Frage wurde bereits »entschieden«: Die Antwort heißt »100 Grad Celsius« (wenn man nicht gerade auf einem hohen Berg steht).
Auf die Frage, wie sich die Gesellschaft, die Welt, das Leben verändert, ob die Veränderungen gut oder schlecht sind, gibt es jedoch keine endgültigen Antworten: Das sind prinzipiell unentscheidbare Fragen. Wir kommen nicht darum herum: Solche Fragen müssen wir für uns selbst entscheiden, und für unsere Entscheidungen müssen wir Verantwortung übernehmen. So ist es auch mit der Frage: Wie werden Veränderungen in der Gesellschaft beschrieben und erklärt? Auch ich habe darauf keine Antwort. Ich mache mir mein eigenes Bild, gestützt auf eigene Überlegungen und Erfahrungen, vor allem auf Fachliteratur, für deren Auswahl ich verantwortlich bin.
Der Begriff der Veränderung hat sich in der Geschichte selbst immer wieder im Rahmen der jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen verändert. In alten Zeiten hat man Veränderungen damit erklärt, dass ein Plan der Götter dahintersteckt, dass Veränderungen also als göttliche Macht über uns hereinbrechen. In autoritär geführten Gesellschaften beruht Veränderung auf Entscheidungen der Herrschenden. Unsere aufgeklärte Welt kann dem nichts oder wenig abgewinnen. Die Aufklärung interpretiert gesellschaftliche Veränderung als das Ergebnis unseres eigenen Willens. Wir erforschen die Welt und suchen nach vernünftigen Erklärungen, um, auf diesen aufbauend, die Welt zu verändern.
Für moderne Historiker und Historikerinnen beginnen Veränderungen der Gesellschaft mit der Entwicklung von Sprache, mit der Fähigkeit der Menschen, einander über Generationen hinweg Geschichten zu erzählen. Damit konnten Ereignisse in eine Reihenfolge, in Bewegungen und Zusammenhänge strukturiert und Veränderungen markiert werden.5 Durch Sprache hat sich das Koordinatensystem der Menschen von Raum und Zeit verändert, was seinerseits das Bewusstsein der Menschen und ihr Handeln verändert hat.
Es zeigt sich: Der Begriff der Veränderung ist uneindeutig und abhängig von den jeweiligen zeitlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Betrachter und Betrachterinnen.
Um für mich selbst einen Begriff der Transformation zu definieren, habe ich mich mit unterschiedlichen Modellen von Veränderungen auseinandergesetzt und versuche, sie zu beschreiben und zu unterscheiden. Dazu habe ich drei Modelle oder Konzepte herangezogen:
das technische Modell
das dialektische Konzept
das systemische Konzept.
1.1Das technische Modell: Gesellschaft als Maschine und Veränderung als Reparatur
Maschinen werden von Ingenieuren entwickelt. Eine Maschine ist von Anfang an mit den Intentionen und Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Erfinder und Erfinderinnen ausgestattet, sie bekommt ihre Form und ihre Standards des Funktionierens gleichsam in die Wiege gelegt. Eine Maschine soll sich auch nicht verändern. Veränderung bedeutet bei einer Maschine: Sie ist kaputt, sie hat eine Panne.
Pannen sind Ausnahmen von den »normalen« Zuständen und Funktionsprozessen, wie sie vom Ingenieur geplant sind und werden als Störung definiert. Die Beseitigung der Panne dient der Wiederherstellung des normalen Funktionierens der Maschine. Pannen werden zunächst auf ihre Ursachen untersucht und dann möglichst repariert. Durch Reparatur verschwindet das Problem, der Prozess kann ungestört weiterlaufen (siehe Abb. 1): Die Waschmaschine wäscht wieder, das Auto fährt wieder, die Rakete fliegt weiter zum Mond.
Abb. 1: Technisches Verständnis von Veränderung
Dem technischen Modell liegen Annahmen zugrunde: Jedes Problem hat eine Ursache, für jedes Problem gibt es eine Lösung, für jede Lösung gibt es ein Werkzeug. Das klingt bestechend einfach und einleuchtend. Dieser Ansatz wurde und wird allerdings nicht nur auf Maschinen, sondern auf alle Fragen des Lebens angewendet: Alle Probleme – Probleme von Menschen, der Gesellschaft und der Natur – könnten einfach repariert werden. Man müsste nur den richtigen Schraubenschlüssel und den richtigen Hebel finden. In unserer Welt, die noch immer mit weitgehend technisch-wissenschaftlichen Vorstellungen beschrieben und erklärt wird, werden die meisten gesellschaftlichen Institutionen und deren Prozesse nach diesem Paradigma gestaltet: Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen sind organisiert wie Maschinen, die funktionieren sollen und in deren Kontext Veränderungen als unangenehme Störungen behandelt werden. Das betrifft auch Kinder, Kranke, Mitarbeiter.6
Wer allerdings jemals versucht hat, Veränderungen bei anderen Menschen, etwa bei den eigenen Kindern, nach dieser Logik anzugehen und angenommen hat, es genüge zu sagen, »Räum endlich dein Zimmer auf!«, wird erleben, dass das Kind sein Verhalten vielleicht ändert, vielleicht aber auch nicht, vielleicht in eine andere als die gewünschte Richtung. Veränderung lebender Systeme verlaufen nicht geradlinig wie eine Reparatur, sondern turbulent, unvorhersehbar, in Schleifen, Kreisen, Spiralen oder ganz verrückten Sprüngen.
Um gesellschaftliche Transformation zu begreifen, brauchen wir andere Modelle von Veränderung. Wir brauchen Modelle und Konzepte von Veränderung,