Systemische Beratung der Gesellschaft. Ruth Seliger
wieder erreicht ist, usw. Genauso funktioniert auch die Steuerung des Füllstands eines WC-Spülkastens als wechselseitige Steuerung zwischen dem Schwimmer und dem Wasserzufluss. Das Besondere an solchen Systemen ist, dass sie so gebaut sind, dass sie keine Steuerung von außen brauchen, sondern dass die Elemente einander durch Feedback gegenseitig steuern. Es ist in diesem Prozess unentscheidbar, was Ursache ist und was Wirkung oder, anders gesagt, wo der Prozess beginnt.
Muster
Muster entstehen durch Wiederholungen. Das Gehen des immer gleichen Weges lässt einen Trampelpfad entstehen. Werden Interaktionen öfter wiederholt, entstehen Interaktionsmuster: Reagiert man in einer kybernetischen Schleife immer wieder in gleicher Weise aufeinander, kann man irgendwann nicht mehr feststellen ist, wer damit begonnen hat. Muster halten sich selbst durch Wiederholung aufrecht, sie bestätigen sich selbst und tragen zur Aufrechterhaltung bestehender Bedingungen im System bei. Muster sind das Symbol des Stillstands.
Im systemischen Sinne bedeutet Veränderung vor allem eine Veränderung von Mustern. In sozialen Systemen bedeutet sie die Veränderung von Mustern der Wahrnehmung, des Verhaltens und der Interaktion bzw. der Kommunikation. Veränderung sozialer Systeme ist der Prozess von einem Muster zu einem anderen (siehe Abb. 5).
Abb. 5: Musteränderungen (Flipchart von Fritz B. Simon)13
Nicht jede Veränderung ist allerdings ein Musterwechsel. Wenn Veränderungen lediglich ein oder mehrere Elemente im System betreffen, also etwa ein neuer Tisch für das Pingpongspiel benutzt wird, dann ändert sich damit nicht das Spiel, das Muster des Spiels bleibt gleich. Man kann möglicherweise besser spielen, aber es bleibt Pingpong. Solche Veränderungen werden im systemischen Feld Veränderungen erster Ordnung genannt.
Beziehen sich Veränderung in sozialen Systemen allerdings auf Muster der Kommunikation, also auf die Art und Weise, wie ein soziales System operiert, wie darin kommuniziert wird, dann wird die Kommunikation selbst zum Gegenstand der Veränderung. In diesem Fall sprechen wir von einem Musterwechsel und von einer Veränderung zweiter Ordnung. In Organisationen kann Veränderung zweiter Ordnung bedeuten, dass sich die hierarchische Struktur und das Muster der Top-down-Entscheidungen zu einer partizipativen Entscheidungsform verändert.
Veränderungen zweiter Ordnung bedeuten einen Paradigmenwechsel, eine fundamental andere Weltsicht und neue Prinzipien der Gestaltung von Kommunikation, Strukturen, Werten und Problemlösungen. Musterwechsel sind tiefgreifende Veränderungen und lassen keinen Stein auf dem anderen, sie verunsichern und irritieren. Veränderungen zweiter Ordnung sind aufwendig und mühsam: So etwas unternimmt man nur, wenn man mit seinem Latein am Ende und an der Grenze der Handlungsfähigkeit angekommen ist. Davon müssen Menschen überzeugt und für diese Veränderung gewonnen werden.
Es stellt sich die Frage, wie und woran die Mitglieder von sozialen Systemen erkennen können, dass das System mit seinem Latein am Ende ist und es Veränderungsbedarf gibt? Das kann nur geschehen, indem die Mitglieder des Systems, sich in eine neue Beobachtungsperspektive begeben, aus der sie so etwas sie einen Blick von außen auf das System erhalten. Wir sprechen hier von der Beobachtung zweiter Ordnung. Dieser Begriff geht auf Heinz von Foerster zurück, der von zwei Regelkreisen spricht: dem einen zwischen den Elementen des Systems und dem anderen zwischen dem Beobachter und dem von ihm beobachteten System. Er nennt das die »Kybernetik der Kybernetik«.14
Will ein Beobachter seine eigene Wirkung auf ein von ihm beobachtetes System erkennen, wird er sich in eine neue Beobachterperspektive begeben, in der er sich selbst beim Beobachten beobachtet, er wird zum Beobachter zweiter Ordnung. Der Beobachter begibt sich damit gleichsam auf den Balkon in der Muppet Show und sieht sich selbst beim Agieren gemeinsam mit den anderen Akteuren und Akteurinnen auf der Bühne zu, mit Kermit, Miss Piggy und den anderen. Von oben und außen kann man die Muster des Spiels erkennen. Das geht nur vom Balkon aus. Das sieht man nicht, wenn man auf der Bühne steht und mitspielt.
Der systemischen Konzeption von Veränderung in sozialen Systemen liegt die Annahme zugrunde, dass Veränderungen zweiter Ordnung, Musterveränderungen der Kommunikation, nur aufgrund einer organisierten und kollektiven Beobachtung zweiter Ordnung, durch gemeinsames Wahrnehmen, Reflektieren und Lernen bezüglich der Muster im System und des eigenen Beitrags der Beobachter dazu in Gang gesetzt werden. In der systemischen Beratung von Organisationen hat sich schon seit Langem der Begriff der lernenden Organisation etabliert.15 Wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht, wird es ein solches Konzept ebenfalls brauchen: eine lernende Gesellschaft.
Und nicht zuletzt müssen wir den Prozess der Veränderung auch selbst beobachten können:
»Aber unbeobachteter Wandel ist kein Wandel, weil das System darauf nicht reagieren kann.«16
Eine Veränderung zweiter Ordnung – ein Paradigmenwechsel – ist also immer auch ein beobachteter Prozess.
Das von Simon gezeichnete Bild der Musterveränderung könnte man daher durch den Prozess der Veränderung zweiter Ordnung ergänzen (siehe Abb. 6): durch den Prozess der Selbstbeobachtung und Selbsterforschung der Organisation.
Abb. 6: Beobachtung zweiter Ordnung – das System beobachtet sich bei der eigenen Veränderung
1.4Transformation: Das integrierte dialektisch-systemische Modell von Veränderung
»Gesellschaftliche Kommunikation entscheidet über Macht und über die Richtung, in die sich Gesellschaften entwickeln.« 17
Armin Thurnher
Der Begriff Transformation kann unterschiedlich definiert werden. Ich stelle hier mein Modell vor: Es umfasst nicht nur die Inhalte der Veränderung, sondern vor allem den Prozess des Wandels. Dafür verbinde ich das dialektische mit dem systemischen Konzept:
Das dialektische Konzept sieht Transformation als einen dynamischen und krisenhaften Prozess zwischen alten und neuen gesellschaftlichen Interessen. Dabei geht es vor allem um Muster der Erhaltung von Macht über die Entscheidungen, Kommunikation und Kooperation und um die Veränderung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen (siehe Abschn. 1.2).
Im systemischen Verständnis bedeutet Transformation vor allem eine Veränderung des bestehenden Paradigmas. Es ist ein Musterwechsel auf der Ebene der Beobachtung, Erklärung und Bewertung gesellschaftlicher Muster, die zu verändertem gesellschaftlichen Agieren führen. Veränderung entsteht, wenn die bestehenden Muster etwa von Macht und Entscheidungen als dysfunktional, schädlich und bedrohlich bewertet werden.
Bildhaft lässt sich dieses Modell so darstellen wie in Abbildung 7 gezeigt.
Abb. 7: Dialektisch-kybernetisches Modell von Veränderung
Gesellschaftliche Transformation bedeutet vor diesem Hintergrund:
einen gesellschaftlichen Paradigmen- und Musterwechsel im Denken und Handeln
einen krisenhaften und nicht geradlinigen Prozess der Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Prinzipien und Regeln, die im Allgemeinen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen und Vorstellungen verbunden sind
einen sich selbst beobachtenden und selbst beobachteten gesellschaftlichen Lernprozess, den Weg in eine lernende Gesellschaft.
Die Kernfrage dabei ist, wie der Prozess der Transformation eingeleitet, gestaltet und organisiert werden kann, welche Strategie also entwickelt werden kann.
Ich