Klippenfall. Meike Messal

Klippenfall - Meike Messal


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Sylke wusste selbst nicht, warum sie flüsterte. Sie lauschte. Hörte nichts als die Wellen, den schlagenden Puls des Meeres, der träge durch die dicken Äste der Bäume drang. »Emmi, wo bist du?« Ihre Stimme wurde lauter, eindringlicher.

      Erneut hörte sie ein Knacken und für einen Moment befürchtete sie, der Mann würde abermals auftauchen. Doch es war Emmi, sie kroch aus einem Gebüsch. In ihren langen blonden Haaren hingen Blätter, aus einem frischen Kratzer unter ihrem rechten Auge quoll ein wenig Blut. Ihr Blick war voller Erleichterung, als sie sich aufrichtete und ihrer Mutter um den Hals fiel. »Ein Glück!«, wisperte sie in Sylkes Schulter, »ich hatte solche Angst!«

      »Ach Emmilein!« Sylke schob ihre Tochter ein wenig von sich und schaute sie an. Plötzlich kam ihr die Furcht, die sie eben noch verspürt hatte, lächerlich vor. »Du hast dir das bestimmt eingebildet.« Sie musterte die Wunde. »Das sieht nicht gut aus. Komm, wir gehen nach Hause und versorgen es. Und all die Blätter müssen wir auch aus deinem Haar pflücken.«

      Emilie nickte, doch ihre Augenlider zuckten. »Das war keine Einbildung«, sagte sie. »Dieser Mann hat mich beobachtet. Ich habe es genau gemerkt. Und als ich gehen wollte, kam er hinter mir her.« Sie fasste Sylkes Hand. »Da bin ich losgerannt. Und plötzlich lief er auch.« Ihr Griff wurde fester. »Ein Glück, dass dies mein Ort ist, niemand kennt ihn so gut wie ich. Ich habe ein paar Haken geschlagen und mich dann hier verkrochen. Das hat er gar nicht mitbekommen und mich unten am Strand gesucht.«

      Am Wasser? Plötzlich sah Sylke den Mann mit den verschwitzten Haaren wieder vor sich. »Wie sah der Typ denn aus?«, fragte sie, während sie Emmi mit sich zog. Der Schweiß an ihrem Körper wurde unter dem Schatten der Bäume mit einem Mal kalt und sie fröstelte.

      »Er war klein und dünn.« Emilie ging nun genauso zügig wie ihre Mutter. »Deshalb hatte ich auch erst keine Angst vor ihm. Ich dachte, den hau ich mit meiner Faust k. o., falls er mir zu nahe kommt.« Sie blieb stehen. Ihre Stimme wurde wieder leise, und sie umklammerte Sylkes Hand so stark, dass es ihr wehtat. »Aber dann hab ich seinen Blick gesehen. Er hat mich angestarrt. Mit ganz komischen Augen.«

      »Was meinst du damit?« Sylke runzelte die Stirn. Emmis Worte hallten noch in ihrem Kopf. Klein und dünn.

      Emilie zuckte mit den Schultern. »Sie waren blau wie das Meer. Aber es war keine Lebendigkeit in ihnen. Sie blickten tot. So, als hätte er schon mit dem Leben abgeschlossen.«

      Mit einem Mal bekam Sylke Kopfschmerzen. »Woher hast du denn nur solche Ideen?«, rief sie. »Tote Augen! So ein Unsinn. Du hast ihn noch nicht einmal richtig angesehen!« Aber in ihren Gedanken beschwor sie wieder das Gesicht des Mannes herauf. Versuchte, sich seine Augen vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Sie hatte nach Emmi gesucht, ihr Blick hatte ihn nur flüchtig gestreift, war an seinem Mund haften geblieben. Der hatte gelächelt. Oder war es ein Grinsen gewesen, ein boshaftes Verzerren der Lippen?

      Sie war in ihre Gedanken versunken, merkte nicht, dass Emilie stehen geblieben war. Erst der Ruck an ihrer Hand holte sie zurück. Ungeduldig wandte sie sich um. »Was ist denn?«

      Doch ihre Tochter antwortete nicht. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, bleich war sie. Die blonden Haare mit den Blättern darin fielen ihr in die Stirn und über die Wunde. Sie schaute Sylke nicht an, sondern auf einen Punkt vor ihnen. Erstarrt wie eine Maus, die die Katze vor sich zu spät entdeckt hatte.

      Langsam löste sich Sylke von dem Anblick ihrer Tochter und drehte sich herum. Wir sind zu zweit, schoss es ihr durch den Kopf, den machen wir ...

      Es gelang ihr nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr sie, explodierte erst in ihrer Brust und dann in ihrem Kopf. Die Bäume rasten auf sie zu, kippten, fielen. Riesen waren sie, groß und schwarz und begruben sie unter sich.

      2

      Ratlos nahm Levke die Hand von der Klingel. Warum machte Sylke nicht auf? Sie hatte doch gesagt, dass sie und Emmi zu Hause seien und Levke vorbeikommen könne. So hatten sie es vereinbart, als Levke am Morgen gegen zehn in Sylkes Laden in Burg geschneit war. Jetzt im Juli, in der Hauptsaison, war Sylke auch sonntags dort anzutreffen.

      Jedes Mal, wenn Levke die Tür aufstieß und die helle Klingel ertönte, war sie gespannt, welche Dekorationswunder ihre Freundin diesmal vollbracht hatte. Und sofort hatte sie die kleinen Unterschiede zur letzten Woche entdeckt: Der Tisch mit den selbstgenähten Taschen aus Jeanshosen, auf denen vorne der Umriss von Fehmarn zu sehen war, stand nicht mehr mittig, sondern links am Fenster. Dafür thronte im Zentrum des Ladens ein Couchtisch, der aus einem Baumstamm mit einer kleinen Glasplatte bestand. Durch das Glas hindurch sah man ebenfalls die Insel, ihre Umrisse waren in den Baum geritzt. »Der ist cool, den würde ich mir auch sofort ins Wohnzimmer stellen.« Levke strich vorsichtig mit den Fingern über den Tisch. »Tolle Arbeit. Wer hat das angefertigt?«

      »Ich arbeite neuerdings mit Lutz zusammen, du weißt schon, dem Tischler aus Petersdorf. Es ist super, wie sein Sortiment aus Holz meine selbstgenähten Sachen ergänzt. Die Touristen kaufen einfach alles von ihm.«

      »Das freut mich!« Levke lächelte. Wie hatte Sylke vor einigen Jahren mit der Entscheidung gehadert, ihren langweiligen, aber dafür sicheren Job als Verwaltungsfachfrau an den Nagel zu hängen und sich selbstständig zu machen. »Ich hab keinen Mann, dessen Gehalt uns auffangen könnte, falls es schiefläuft«, hatte sie immer wieder gesagt. Doch Levke war nicht müde geworden, Sylke zuzureden und sie in ihrer Idee zu unterstützen. So gut nähen wie ihre Freundin konnte niemand und schon vor der Öffnung des Ladens waren ihre Sachen im Internet heiß begehrt, vor allem unter Fehmarn-Fans. Sylke nähte ausgefallene Taschen, Kissen, Taschentuchhüllen, Handwärmer, Kopftücher, Schals und Ponchos. Und auf all diesen individuellen Stücken prangte Fehmarn – mal nur der Umriss, mal die ganze Insel, mal ein besonderer Teil von ihr. Am liebsten mochte Levke die großen Umhängetücher, auf denen buntgestickte Vögel aus dem Naturschutzgebiet Wallnau leuchteten. Man konnte mit geschlossenen Augen über sie streichen und fühlen, um welchen Vogel es sich handelte. Emmi liebte dieses Spiel und sie gewann immer. Niemand kannte die Tiere auf Fehmarn so gut wie sie.

      Levke ließ sich auf den großen Stuhl am Verkaufstresen fallen. »Ich muss dir was erzählen.« Sie fuhr sich durch ihre lockigen braunen Haare und klemmte eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr. »Gestern war doch Kais Geburtstagsfeier.«

      »Ach ja!« Sylke schlug sich gegen die Stirn. »Mist, ich habe ganz vergessen, ihm zu gratulieren.«

      »Ich weiß!« Nun blickte Levke vorwurfsvoll. »Erst kommst du nicht und dann meldest du dich nicht mal. Ich habe dir gestern Abend eine SMS geschrieben, aber darauf reagiert Madame ja nicht.«

      »Entschuldige.« Sylke schüttelte den Kopf. »Meine Taschen sind fast ausverkauft. Ich musste gestern Abend nähen, was das Zeug hält. Heute schaffe ich einfach nicht alles, denn Emmi muss ich schließlich auch mal sehen.« Sie deutete vage auf den Vorhang, der hinter dem Verkaufstresen angebracht war und das daran anschließende Nähzimmer verbarg. »Eigentlich habe ich jetzt gar keine Zeit zu quatschen, wenn gerade mal keine Touristen hier einfallen. Komm doch heute Abend zu uns, dann kannst du mir alles erzählen. Es wird wohl nur Tiefkühlpizza geben ...«

      »Das bin ich ja gewohnt. Aus dir wird keine Köchin mehr.« Levke schüttelte lachend ihren Kopf. »Man kann nicht in allem Talent haben. Ich würde ja was mitbringen, aber wie gesagt, gestern war ich bei Kai und da habe ich diesen Typen kennengelernt. Er ist nur dieses Wochenende auf der Insel und ich bin gleich mit ihm verabredet. Heute Abend ist er schon wieder weg.«

      »Oh Levi, nicht dein Ernst.« Sylke verzog den Mund. »Neben dir und deinen Eskapaden komme ich mir alt vor.« Sie drehte sich im Kreis. »Aber wo soll neben Laden und Kind auch noch Platz für einen Mann sein?«, murmelte sie.

      Levke hatte sie trotzdem gehört. Das war das große Manko an dem Geschäft. Es lief so gut, dass Sylke kaum noch Zeit für etwas anderes hatte. Sogar ihre Tochter kam zu kurz, fand Levke. Aber das durfte man Sylke nicht sagen, dann wurde sie wütend. Und Emilie war wirklich reif für ihr Alter. Außerdem hielt sie sich am liebsten allein am Meer auf. Am Wasser, immer am Wasser. Manchmal, wenn Levke sie ansah, kam ihr Emmi schon selbst wie ein halbes Meerwesen vor.


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