Klippenfall. Meike Messal
Stoff drückten. Und dann ihre langen blonden Haare, flatternd im Wind. Sie stand allein in der Ecke des Schulhofes und versuchte, teilnahmslos zu wirken. Heiß war es heute, sehr heiß für einen Tag im Juni, zum Glück wehte von der See eine starke Brise.
Er richtete sich auf, straffte seine Schultern. Wenn sie doch bloß einmal herübersah! Dann würde er ihr cool zunicken, lässig den Arm heben. Aber sie schaute nicht in seine Richtung. Er war Luft für sie.
Oh nein. Da kam sein Bruder. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie immer umringt von mindestens fünf Bewunderern. Sie lachten und machten Späße. Einer der Jungen kicherte übertrieben laut. Das schien seinem Bruder nicht zu gefallen. Er blieb stehen und boxte ihn in die Seite. Der Junge stolperte, vollführte eine fast absurde Drehung, fiel hin. Sein Bruder blickte abschätzig zu ihm hinab und ging weiter. Gut. Wenn er sich hier abreagierte, dann würde er von ihm zu Hause vielleicht heute nicht mehr so gepiesackt.
Nein, bitte nicht. Sie kamen direkt auf ihn zu. Hektisch sah er sich um. Wohin konnte er flüchten? War ein Lehrer in der Nähe? Schon stand sein Bruder vor ihm.
Er schluckte, hob den Kopf. Sein Bruder haute ihm mit seiner mächtigen Hand so auf die Schulter, dass er in die Knie ging. »Na, Wicht«, grinste er hämisch, »holst du dir wieder einen runter?« Sofort lachten alle Jungen los, umringten ihn. Zitternd stand er in der Mitte. Tränen krochen herauf, bahnten sich einen Weg zu den Augen. So ein Scheiß, bloß nicht weinen, alles, nur das nicht. Doch sein Bruder hatte das Glitzern schon bemerkt. »Heulsuse«, sagte er verächtlich. »Dich wird nie ein Mädchen angucken.« Dann drehte er sich um, sofort löste der Kreis sich auf und die anderen folgten. Wie kleine Welpen.
Erleichtert atmete er auf. Schnell wischte er sich die Tränen aus den Augen. Warf einen verstohlenen Blick zu ihr hinüber. Hatte sie seine Erniedrigung beobachtet? Nein. Sie schaute auf einen Baum. Konzentriert. Still. Was sah sie dort? Angestrengt wanderte sein Blick durch die Äste. Und dann bemerkte er ihn ebenfalls, einen imposanten, großen Vogel, gut versteckt zwischen den Blättern. Seine gelben Krallen leuchteten, die braunen Federn waren mit weißen Tupfen gesprenkelt. Aufmerksam prüften seine runden Augen die Umgebung. Und mit einem Schrei erhob er sich plötzlich in die Lüfte, kreiste wie ein Herrscher über dem Schulhof und verschwand schließlich am blauen Himmel.
Wenn er doch bloß wie dieser Vogel wäre! So überlegen, so schön, so stark. Dann würde sein Bruder ihn nie mehr ärgern, nie mehr bloßstellen vor den anderen. Und sie würde ihn endlich bewundernd ansehen.
Er war so in Gedanken versunken, dass er den Schulgong nicht hörte. Erst als es mit einem Mal still um ihn war, durchfuhr ihn ein Schreck. Der Schulhof war leer. Er stolperte los. Wenn er die Tür zur Klasse öffnete, würden alle lachen und Herr Johan eine blöde Bemerkung machen. Einen Eintrag ins Klassenbuch gab es bestimmt auch noch. Mit gesenktem Kopf stand er eine Weile im Flur. Besser war es, abzuhauen. Er drehte auf dem Absatz um, stieß die schwere Schultür auf und rannte nach draußen. Er lief und lief und blieb nicht stehen, bis er den Strand erreichte. Keuchend setzte er sich in den Sand, ließ ihn durch die Finger gleiten. Wunderbar warm war der. Langsam zog er die Schuhe aus und vergrub seine Zehen. Die Sonne glitzerte auf den Wellen, sie schien auf ihn hinab. Ein Seufzer entfuhr ihm. Hier am Meer war alles gut. Jedenfalls für einen kleinen Moment.
5
Die Zeit verstrich, wurde zu einem langen Band, das sich ausdehnte und mit jedem Herzschlag länger wurde.
Nach einigen Minuten zurück auf dem Bett, in der ihr die Angst jegliche Luft zum Atmen genommen hatte, war sie erneut aufgestanden, um sich eine Vorstellung von dem Raum zu verschaffen, in dem sie eingesperrt war. Langsamer diesmal, gründlicher. Sylke war in alle Richtungen gegangen, hatte die Schritte gezählt und trotz der Dunkelheit war ein Bild in ihrem Kopf entstanden. Das Zimmer war zwar niedrig, doch relativ groß, um die fünfzehn Quadratmeter, schätzte sie. Von der Tür aus stand rechts an der Wand das Bett, links befand sich die kleine Abgrenzung zum »Bad«, dahinter Regal, Sessel und Tisch mit Stuhl.
Sylke hatte sich gereckt und jeden Zentimeter der Wände abgefahren. An der Decke hatte sie schließlich etwas gefunden, dass sich wie eine Neonröhre angefühlt hatte. Nur der Lichtschalter dazu fehlte.
Sie hatte auch den Boden abgetastet, war auf allen vieren gekrochen. Vor dem Sessel war der Untergrund nicht glatt und trocken, sondern flauschig. Dort lag ein Teppich, ein Flokati vielleicht.
Schließlich war sie zu dem Stuhl gerobbt, hatte sich auf ihn gesetzt und versucht, ihre flatternden Gedanken zu beruhigen, die aus der schwarzen Enge fliehen wollten. Auf keinen Fall durfte sie wehrlos auf dem Bett liegen, wenn er hereinkäme.
»Denk nach«, ermahnte sie sich. »Wer ist dieser Mann? Er kommt dir bekannt vor!« Sie ging alle Kunden durch, an die sie sich erinnern konnte. Ihre Freunde, Bekannte, Emmis Mitschüler aus der Inselschule und deren Eltern. Doch so sehr sie auch ihr Gehirn zermarterte, es gelang ihr nicht, sein Gesicht mit einer konkreten Person in Verbindung zu bringen. Frustriert schlug Sylke mit der Faust auf den Tisch. Sie hatte absolut keine Ahnung, wer sie gefangen hielt. Und warum. Und wo zur Hölle ihre Tochter war.
Langsam richtete sie sich auf, drehte den Kopf in alle Richtungen. Nirgends ein Spalt, durch den ein bisschen Licht schimmern würde. »Ich weiß nicht, ob du mich hörst«, sagte sie laut. »Ich möchte nur zu meiner Tochter. Bitte lass mich zu Emilie, dann mach ich alles, was du willst. Nur bitte, lass sie aus dem Spiel!«
Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, doch beim letzten Satz wurde sie brüchig. Sylke räusperte sich. Mit einem Mal war sie froh über die Dunkelheit, denn so konnte er wenigstens die Tränen nicht sehen, die über ihre Wangen liefen. Angespannt horchte Sylke in das Schwarz. Kam von draußen eine Antwort?
Sie wartete und wartete. Saß stocksteif und gerade auf dem Stuhl. Bewegte sich nur von Zeit zu Zeit, wenn eines ihrer Beine einzuschlafen drohte. Doch irgendwann überkam sie trotz der schrecklichen Angst eine tiefe Müdigkeit. Ihr Kopf sackte auf die Brust. Anfangs wurde sie davon wach, richtete sich immer wieder auf, schließlich versank sie für ein paar Stunden in einer Welt zwischen Wachsein und Traum. Darin zogen dunkle Schatten an ihr vorbei, die an ihr zerrten.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als es plötzlich hell wurde. Das grelle Licht brandete über sie wie eine Flutwelle. Reflexartig kniff sie die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen, sie begannen sofort zu tränen. Vorsichtig versuchte Sylke sie wieder zu öffnen. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Die Neonröhre an der Decke tauchte den Raum in ein gnadenlos hellweißes Licht.
Jemand hatte auf den Schalter gedrückt. Jemand außerhalb ihres Gefängnisses.
6
Ratlos stand Levke vor Sylkes Laden. Fehmarn und Meer prangte auf einem großen blauen Schild über der Tür, die Schaufensterscheiben reflektierten die Mittagssonne. Sylkes Geschäft befand sich im Zentrum von Burg, ein Stück hinter dem Rathaus am Kaufhaus Scholz vorbei die Straße hinunter, in der Nähe des Filmtheaters Fehmarn. Wie oft hatten sie früher, als Sylke noch nicht so beschäftigt war, in dem gemütlichen Kino spannende Filmabende verbracht. Levke liebte das urige Ambiente, denn jeder Platz im Saal war mit einem kleinen Tisch und einem Lämpchen ausgestattet.
Auf der Straße herrschte reges Treiben, vor allem Touristen flanierten gutgelaunt durch die Stadt. Doch in dem Laden, dessen Türglocke in der Hauptsaison fast unermüdlich klingelte, war niemand. Stirnrunzelnd drückte Levke die Klinke herunter, rüttelte daran, doch die Tür öffnete sich nicht.
»Sylke?«
Was, verdammt, war mit ihrer Freundin los? Sie hatte gestern lange auf Sylke und Emmi gewartet und war letztendlich verwundert von Katharinenhof nach Landkirchen gefahren, wo sie sich in einer kleinen, gemütlichen Einliegerwohnung ihr eigenes Reich geschaffen hatte. Mehrfach hatte sie versucht, Sylke auf dem Handy zu erreichen. »Es gibt bestimmt eine ganz plausible Erklärung«, hatte sie sich eingeredet, als sie schließlich nach Mitternacht todmüde ins Bett gefallen war. Sie musste am nächsten Tag wieder früh raus. Der Bäcker, bei dem sie in Burg arbeitete, öffnete wochentags um sieben, Sylkes Laden hingegen erst um zehn Uhr.
Den ganzen Vormittag hatte sie an Sylke gedacht und sich