Klippenfall. Meike Messal
Es war allerdings der Junge, der sprach, sein Blick betont gelangweilt: »Die kommen sicher bald wieder.«
»Was?« Levke traute ihren Ohren kaum. »Haben Sie mir nicht zugehört?«
»Doch, habe ich.« Der junge Polizist war aufgestanden und kam lässig herübergeschlendert. Levke sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Ich fasse mal zusammen«, fuhr er fort. »Eine Mutter und ihre Tochter sind seit einem Tag nicht da. Es sind Schulferien, die Mutter ist überarbeitet. Vermutlich«, er schnaubte, »haben sie sich einfach entschlossen, mal Urlaub zu machen.«
Levkes Fingernägel gruben sich in ihre Hand. Sie beschloss, den Jüngeren zu ignorieren, und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Älteren. »Ich bin ihre beste Freundin. Sie hätte mir gesagt, dass sie verreisen würde.« Sie sprach mit eindringlicher Stimme. »Und sie würde nie ihren Laden einfach so schließen, mitten in der Hauptsaison. Ohne ein Wort an ihre Kunden, wann sie wieder da ist. Niemals.«
Der Polizist wiegte den Kopf. »Trotz allem kann sie sich spontan entschlossen haben. Das passiert immer wieder. Nachts geht es ihr nicht gut, und sie überlegt sich, am nächsten Tag endlich einmal die lang ersehnte Auszeit zu nehmen. Und dann ist ihr Akku im Handy leer und Frau Harmsen kann Sie nicht erreichen. Haben Sie schon mal mit ihren Eltern gesprochen? Vielleicht hat sie sich bei denen gemeldet.«
»Ihre Eltern sind tot. Sie ist nicht verheiratet. Ich bin ihre engste Bezugsperson.«
Der Jüngere grinste. »Hört sich so an, als könnte sie ’n bisschen Spaß gebrauchen. Kein Wunder, dass sie abgehauen ist.«
Fassungslos rang Levke nach Worten. Was erlaubte sich dieser Grünschnabel? Auch sein Kollege zog die Augenbrauen zusammen. »Nu hol dien Snuut!«, fuhr er ihn an.
»Sie hat eine Tochter, verdammt noch mal«, fauchte Levke, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Sylke und Emmi verschwinden nicht einfach so. Ihnen ist etwas zugestoßen, das ist klar.«
»Ach, und was? Eine Entführung von zwei Frauen gleichzeitig?« Die Stimme des jungen Polizisten klang inzwischen genervt. »So was passiert auf Fehmarn nicht.« Fast sah es so aus, als wollte er noch »leider« hinzufügen, doch er schwieg.
»Ach nein?« Levke reckte ihr Kinn nach oben. »Vor einigen Jahren wurde ein kleiner Junge entführt, erinnern Sie sich nicht? Das war eine ganz unheimliche Geschichte.« Sie trat einen Schritt nach vorne. »Eine Geschichte, die, wenn ich mich recht erinnere, nicht die Polizei aufgeklärt hat. Sondern ein junges Mädchen, das nach ihrem verschollenen Bruder gesucht hat. Der auch hier auf Fehmarn verschwunden war.«
Der ältere Polizist war aufgestanden, stand nun zwischen Levke und seinem Kollegen. »Jümmers langsam mit den jungen Peer.« Er bedeutete dem Jungen, sich zu setzen, was dieser widerwillig tat. »Eine schreckliche Sache war das«, sagte er dann und strich sich über das Gesicht. »Ich erinnere mich natürlich. Allerdings«, er sah Levke gutmütig an, »nicht zu vergleichen mit dieser hier. Es ist was ganz anderes, ob ein kleines Kind verschwindet oder ob eine Mutter mit ihrer Tochter für ein paar Stunden nicht zu erreichen ist.« Er hob beschwichtigend die Hand, als Levke erneut Einspruch erheben wollte. »Wissen Sie was«, sagte er, »wir fahren gleich einmal bei Frau Harmsen vorbei und schauen, ob wir an ihrem Haus etwas Verdächtiges feststellen. Und Sie melden sich wieder, wenn die beiden in den nächsten Tagen auch nicht auftauchen, in Ordnung?«
»Nein.« Levke wusste, dass sie trotzig klang, aber die Angst legte sich erneut um ihre Brust und machte ihr das Atmen schwer. Wenn die Polizei nichts tat, wer sollte dann den beiden helfen?
In dem Moment klingelte das Telefon und der Ältere nahm ab. Er sprach leise und schnell und wandte Levke den Rücken zu. Auch der Jüngere würdigte Levke keines Blickes mehr. Ein paar Minuten stand sie zitternd am Tresen. Dann drehte sie sich mit einem Ruck um und lief nach draußen.
»Emmi, Sylke, ich lass euch nicht im Stich«, murmelte sie, während sie zum Parkplatz der Inselschule eilte, auf dem sie morgens vor Arbeitsbeginn ihren kleinen Fiat abgestellt hatte. »Egal wo ihr seid, ich werde euch finden.«
Obwohl ihr niemand zuhörte, legte sie alle Zuversicht in ihre Stimme, die sie aufbringen konnte. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, in ihrem Gedächtnis kramte: Sie hatte absolut keinen Anhaltspunkt, was mit Sylke und Emmi passiert sein könnte und wo sie jetzt waren.
Wie in Gottes Namen sollte sie die beiden jemals finden?
9
Die nackte Neonröhre strahlte unerbittlich und tauchte den Raum in ein geradezu klinisches Licht. Seit Stunden, so kam es ihr vor, saß Sylke angespannt auf dem Stuhl, den sie so positioniert hatte, dass sie die Tür sehen konnte. Erst hatte sie überlegt, sich in den Sessel zu setzen, doch sie wollte auf keinen Fall wieder einschlafen. Stattdessen hatte sie darüber nachgedacht, ob sich irgendetwas in dem Raum als Waffe benutzen ließ. Sollte sie das dickste Buch nehmen und ihn damit auf den Kopf schlagen? Schnell verwarf sie die Idee wieder. Sie wollte erst wissen, wo Emilie war, bevor sie versuchte, zu kämpfen. Wenn sie ihm unterlag, würde er sie vielleicht töten und ihre Tochter bliebe allein zurück in seiner Hand. Nach einigem Zögern hatte sie jedoch einen Filzstift genommen und ihn unter ihren Pullover an der rechten Hand geschoben. Ein Stift war eine gute Sache, wenn es ihr gelingen würde, ihn direkt in sein Auge zu stechen.
Nun saß sie hier, den Stift fest umklammert und mit einem laut knurrenden Magen. Doch noch schlimmer war der Durst. Was würde sie jetzt für ein Glas Wasser geben! Und danach einen großen Becher Kaffee. Der würde wenigstens helfen, wieder klar zu denken.
Dann schlug sie sich vor den Kopf. Natürlich, es gab doch ein Waschbecken in dem Raum. Mit wackeligen Schritten ging sie zu der Waschecke hinüber und drehte am Wasserhahn. Sofort sprudelte klares, kaltes Wasser heraus. Sylke trank es gierig aus ihrer Hand. Dass sie nicht schon vorher darauf gekommen war! Sie schimpfte im Stillen mit sich selbst. Sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen, sie brauchte mehr denn je all ihre Sinne. Als ihr Blick auf die Toilette fiel, zögerte sie. Sie musste dringend. Doch was, wenn es hier eine Kamera gab, die sie nicht entdeckt hatte? Oder er genau in dem Moment zur Tür hereinkam, wenn sie mit heruntergelassener Hose dastand? Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Doch sie hielt es nicht mehr aus, setze sich schnell und sprang genauso hektisch wieder auf, sobald sie fertig war. Jetzt schnell zurück zum Stuhl. Vorbereitet sein.
Sylke setzte sich kerzengerade hin und starrte auf die Tür. Die Minuten verstrichen, wurden zu Stunden, jegliches Zeitgefühl war ihr abhandengekommen. Sie wurde müde, ihr Kopf rutschte immer wieder nach vorne und dann schreckte sie jedes Mal hoch. Deshalb wusste sie im ersten Moment auch nicht, ob sie träumte, als sie ein kratzendes Geräusch vernahm. Sofort richtete sie sich auf, konzentrierte sich. Ja, es kam eindeutig von der Tür.
Sylkes Herz begann zu rasen, Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Sie sprang auf, stellte sich hinter den Stuhl, den rechten Fuß nach vorne, Arme angewinkelt. Die Tür öffnete sich. Langsam. Wie hypnotisiert folgten Sylkes Augen der schweren Metallplatte, die sich Zentimeter für Zentimeter in den Raum fraß. Die Spitze eines schwarzen Turnschuhs folgte, dann ein Bein, schließlich der ganze Körper. Direkt danach fiel die Tür krachend zu.
Sylke blinzelte. Ihre Augen tränten und mit einer schnellen Bewegung wischte sie darüber. Das konnte nicht sein ... das war nicht er ... aber ...
»Mama!« Emilie war mit drei Schritten bei ihr, umarmte Sylke so heftig, dass sie schwankte. Sie versuchte, ihren Halt wiederzufinden, sog gierig den Geruch ein, der sie traf, Emmis Geruch, der Geruch ihrer Tochter. Vorsichtig, als könnte sich Emmi als eine Fata Morgana erweisen, hob sie ihre Hand, strich über das blonde Haar.
Emilie umklammerte sie. So standen sie da, regungslos. Schließlich löste sich Emmi von ihr. Sylke legte ihre Hand auf die Wange ihrer Tochter, schaute sie an. »Ist alles in Ordnung?«, flüsterte sie. »Hat er dir irgendetwas getan?«
Emilie schüttelte stumm den Kopf.
Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Sie schob Emilie zum Bett, setzte sich direkt daneben, Bein an Bein. Emilie blickte mit großen Augen in das Zimmer.
Sylke nahm ihre